Der Nachsommer

By Adalbert Stifter

The Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter
#2 in our series by Adalbert Stifter

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Title: Der Nachsommer
       Indian Summer

Author: Adalbert Stifter

Release Date: May, 2005 [EBook #8126]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on June 16, 2003]
[Last updated: November 29, 2017]

Edition: 10

Language: German


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***





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(http://www.gutenberg2000.de/stifter/nachsomm/nachsomm.htm), prepared
by Gerd Bouillon.




Der Nachsommer

Eine Erzählung von
Adalbert Stifter



Inhalt:

Die Häuslichkeit
Der Wanderer
Die Einkehr
Die Beherbergung
Der Abschied
Der Besuch
Die Begegnung
Die Erweiterung
Die Annäherung
Der Einblick
Das Fest
Der Bund
Die Entfaltung
Das Vertrauen
Die Mitteilung
Der Rückblick
Der Abschluß



Die Häuslichkeit

Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten
Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur
Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe, die
Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu
dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke
wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten
bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei
Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn
ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder
Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den
erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als
ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir
uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig
aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die
Mutter sah da nach und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem
Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.

Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewölbe und in der
Schreibstube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem
Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem
Tische mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht
hatten in dem Gesindezimmer einen Tisch für sich. Wir Kinder bekamen
einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen
Braten und jedesmal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen
auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der
Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, später hatte er viere.

In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziemlich groß war. In demselben
standen breite, flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter
Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen
Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt. Der Vater hatte darum
die grünen Seidenvorhänge, weil er es nicht leiden konnte, daß die
Aufschriften der Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchstaben auf
dem Rücken derselben standen, hinter dem Glase von allen Leuten
gelesen werden konnten, gleichsam als wolle er mit den Büchern
prahlen, die er habe. Vor diesen Kästen stand er gerne und öfter,
wenn er sich nach Tische oder zu einer andern Zeit einen Augenblick
abkargen konnte, machte die Flügel eines Kastens auf, sah die Bücher
an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und stellte es
wieder an seinen Platz.

An Abenden, von denen er selten einen außer Hause zubrachte, außer
wenn er in Stadtgeschäften abwesend war oder mit der Mutter ein
Schauspiel besuchte, was er zuweilen und gerne tat, saß er häufig eine
Stunde, öfter aber auch zwei oder gar darüber, an einem kunstreich
geschnitzten alten Tische, der im Bücherzimmer auf einem ebenfalls
altertümlichen Teppiche stand, und las. Da durfte man ihn nicht
stören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer gehen. Dann kam er
heraus und sagte, jetzt könne man zum Abendessen gehen, bei dem die
Handelsdiener nicht zugegen waren, und das nur in der Mutter und in
unserer Gegenwart eingenommen wurde. Bei diesem Abendessen sprach er
sehr gerne zu uns Kindern und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter
auch scherzhafte Geschichten und Märchen. Das Buch, in dem er gelesen
hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es
genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das
Bücherzimmer ging, konnte man nicht im geringsten wahrnehmen, daß eben
jemand hier gewesen sei und gelesen habe. Überhaupt durfte bei dem
Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen,
sondern mußte immer aufgeräumt sein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es
sollte dafür aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die
gemischten Zimmer, wie er sich ausdrückte, die mehreres zugleich sein
können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht
leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne
nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug strenger
Genauigkeit prägte sich uns ein und ließ uns auf die Befehle der
Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele
durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten.
Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung desselben betraut.

In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es standen in manchen
Geräte, die aus alten Zeiten stammten und an denen wunderliche
Gestalten ausgeschnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen
Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden.

Der Vater hatte auch einen Kasten, in welchem Münzen waren, von denen
er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden sich vorzüglich schöne
Taler, auf welchen geharnischte Männer standen oder die Angesichter
mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus sehr alten
Zeiten mit wunderschönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine
mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er besaß auch Steine,
in welche Dinge geschnitten waren. Er hielt diese Steine sehr hoch
und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten,
nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er sie
Freunden; diese standen lange an dem Kästchen derselben, hielten den
einen oder den andern in ihren Händen und sprachen darüber.

Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft. Manches Mal wurden
Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir spielen durften, und öfter
gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und
uns Spiele veranstalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hause
von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden,
in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als
Geschäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßigen Verlauf der Zeit,
von welchem nicht abgewichen werden durfte.

Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte,
und die weit eher ein Abweichen von dem angegebenen Zeitenlaufe
zugunsten einer Lust gestattet hätte, wenn sie nicht von der Furcht
vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie ging in dem Hause
emsig herum, besorgte alles, ordnete alles, ließ aus der obgenannten
Furcht keine Ausnahme zu und war uns ein ebenso ehrwürdiges Bildnis
des Guten wie der Vater, von welchem Bildnisse gar nichts abgeändert
werden konnte. Zu Hause hatte sie gewöhnlich sehr einfache Kleider an.
Nur zuweilen, wenn sie mit dem Vater irgend wohin gehen mußte, tat
sie ihre stattlichen seidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, daß
wir meinten, sie sei wie eine Fee, welche in unsern Bilderbüchern
abgebildet war. Dabei fiel uns auf, daß sie immer ganz einfache,
obwohl sehr glänzende Steine hatte, und daß ihr der Vater nie die
geschnittenen umhing, von denen er doch sagte, daß sie so schöne
Gestalten in sich hätten.

Da wir Kinder noch sehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer
immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht
Gesellschaft leisten, weil ihn seine Geschäfte in der Stadt
festhielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Festtage kam er,
blieb den ganzen Tag bei uns und ließ sich von uns beherbergen. Im
Laufe der Woche besuchten wir ihn einmal, bisweilen auch zweimal in
der Stadt, in welchem Falle er uns dann bewirtete und beherbergte.

Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater älter wurde und die
Mutter, die er sehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte;
später aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vorstadt
ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft genießen, uns
bewegen und gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen
konnten.


Die Erwerbung des Vorstadthauses war eine große Freude. Es wurde nun
von dem alten, finstern Stadthause in das freundliche und geräumige
der Vorstadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im allgemeinen
zusammen richten lassen, und selbst, da wir schon darin wohnten,
waren noch immer in verschiedenen Räumen desselben Handwerksleute
beschäftigt. Das Haus war nur für unsere Familie bestimmt. Es wohnten
nur noch unsere Handlungsdiener in demselben und gleichsam als
Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann mit seiner Frau und seiner
Tochter.

In diesem Hause richtete sich der Vater ein viel größeres Zimmer
zum Bücherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch
bestimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt
mußten die Bilder wegen Mangels an Raum in verschiedenen Zimmern
zerstreut sein. Die Wände dieses neuen Bilderzimmers wurden mit
dunkelrotbraunen Tapeten überzogen, von denen sich die Goldrahmen
sehr schön abhoben. Der Fußboden war mit einem mattfarbigen Teppiche
belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte
sich eine Staffelei aus braunem Holze machen lassen, und diese stand
in dem Zimmer, damit man bald das eine, bald das andere Bild darauf
stellen und es genau in dem rechten Lichte betrachten konnte.

Für die alten geschnitzten und eingelegten Geräte wurde auch ein
eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge
eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze
der Zirbelkiefer geschnitzt war. Diese Decke ließ er zusammen legen
und ließ sie mit einigen Zutaten versehen, die man nicht merkte, so
daß sie als Decke in dieses Zimmer paßte. Das freute uns Kinder sehr,
und wir saßen nun doppelt gerne in dem alten Zimmer, wenn uns an
Abenden der Vater und die Mutter dahin führten, und arbeiteten dort
etwas, und ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen solche Sachen
gemacht worden sind.

Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem ersten Geschosse des Hauses
gegen den Garten hinaus lief, ließ er ein gläsernes Stübchen machen,
das heißt, ein Stübchen, dessen zwei Wände, die gegen den Garten
schauten, aus lauter Glastafeln bestanden; denn die Hinterwände waren
Holz. In dieses Stübchen tat er alte Waffen aus verschiedenen Zeiten
und mit verschiedenen Gestalten. Er ließ an den Stäben, in die das
Glas gefügt war, viel Efeu aus dem Garten herauswachsen, auch im
Innern ließ er Efeu an dem Gerippe ranken, daß derselbe um die alten
Waffen rauschte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden, und der
Wind durch dieselben herein zog. Eine große hölzerne Keule, welche in
dem Stübchen war und welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er
Morgenstern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der
Morgenstern viel schöner war.

Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunstreich abgenähten rotseidenen
Stoffen, die er gekauft hatte, überziehen ließ. Sonst aber wußte man
noch nicht, was in das Zimmer kommen würde.

In dem Garten war Zwergobst, es waren Gemüse- und Blumenbeete, und an
dem Ende desselben, von dem man auf die Berge sehen konnte, welche die
Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem großen Bogen
umgeben, befanden sich hohe Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus
hatte der Vater teils ausbessern, teils durch einen Zubau vergrößern
lassen.

Sonst hatte das Haus auch noch einen großen Hof, der gegen den Garten
zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras naß war, spielen
durften, und gegen welchen die Fenster der Küche, in der die Mutter
sich viel befand, und der Vorratskammern herab sahen.

Der Vater ging täglich morgens in die Stadt in sein Verkaufsgewölbe
und in seine Schreibstube. Die Handelsdiener mußten der Ordnung halber
mit ihm gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speisen so wie auch jene
Diener, welche nicht eben die Reihe traf, während der Speisestunde in
dem Verkaufsgewölbe zu wachen. Nachmittag ging er größtenteils auch
wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Festtage brachte er mit uns
zu.

Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit ihren Kindern zu uns
geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem
Garten uns ergötzen. Die Lehrer kamen zu uns jetzt in die Vorstadt,
wie sie sonst in der Stadt zu uns gekommen waren.

Der Vater, welcher durch das viele Sitzen an dem Schreibtische sich
eine Krankheit zuzuziehen drohte, gönnte sich nur auf das Andringen
der Mutter täglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete,
Bewegung zu machen. In dieser Zeit ging er zuweilen in eine
Gemäldegalerie oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild sehen
konnte, oder er ließ sich bei einem Fremden einführen, bei dem
Merkwürdigkeiten zu treffen waren. An schönen Sommerfesttagen fuhren
wir auch zuweilen ins Freie und brachten den Tag in einem Dorfe oder
auf einem Berge zu.

Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vorstadthauses
außerordentlich erfreut war, widmete sich mit gesteigerter
Tätigkeit dem Hauswesen. Alle Samstage prangte das Linnen »weiß wie
Kirschenblüte« auf dem Aufhängeplatze im Garten, und Zimmer für Zimmer
mußte unter ihrer Aufsicht gereinigt werden, außer denen, in welchen
die Kostbarkeiten des Vaters waren, deren Abstäubung und Reinigung
immer unter seinen Augen vor sich gehen mußte. Das Obst, die
Blumen und die Gemüse des Gartens besorgte sie mit dem Vater
gemeinschaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, daß
Nachbarinnen kamen und von ihr Dienstboten verlangten, die in unserem
Hause gelernt hätten.

Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den
Umgang der Eltern gezogen; der Vater zeigte uns seine Bilder und
erklärte uns manches in denselben. Er sagte, daß er nur alte habe,
die einen gewissen Wert besitzen, den man immer haben könne, wenn man
einmal genötigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns,
wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schatten, er
nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenständen befanden, und
erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher
Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewegung sei die
Bedingung eines jeden Kunstwerkes. Er sprach mit uns auch von seinen
Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das
enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem
Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten
von Männern und Frauen erzählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen
seien und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt
haben. Er sagte, daß in anderen das enthalten sei, was die Menschen in
vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung
und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar
nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde,
sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen
können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische
Dinge hegen.

In dieser Zeit starb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die
Mutter erbte den Schmuck seiner vor ihm gestorbenen Frau, wir Kinder
aber sein übriges Vermögen. Der Vater legte es als unser natürlicher
Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an und tat alle Jahre die
Zinsen dazu.

Endlich waren wir so weit herangewachsen, daß der gewöhnliche
Unterricht, den wir bisher genossen hatten, nach und nach aufhören
mußte. Zuerst traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den
Anfangsgründen der Kenntnisse unterwiesen hatten, die man heutzutage
für alle Menschen für notwendig hält, dann verminderten sich auch
die, welche uns in den Gegenständen Unterricht gegeben hatten,
die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder
ausgezeichneteren Ständen gehören sollen. Die Schwester mußte nebst
einigen Fächern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach
und nach in die Häuslichkeit eingeführt werden und die wichtigsten
Dinge derselben erlernen, daß sie einmal würdig in die Fußstapfen der
Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nachdem ich die Fächer erlernt
hatte, die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen
zu den sogenannten Brotkenntnissen betrachtet, einzelne Zweige fort,
die schwieriger waren und in denen eine Nachhilfe nicht entbehrt
werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was
denn in der Zukunft mit mir zu geschehen habe, und da tat der Vater
etwas, was ihm von vielen Leuten sehr übel genommen wurde. Er
bestimmte mich nehmlich zu einem Wissenschafter im Allgemeinen. Ich
hatte bisher sehr fleißig gelernt und jeden neuen Gegenstand, der von
den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer ergriffen, so daß,
wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genügt habe,
das Urteil der Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den
angedeuteten Lebensberuf von dem Vater selber verlangt und er dem
Verlangten zugestimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewisser
Drang meines Herzens dazu trieb. Das sah ich wohl trotz meiner Jugend
schon ein, daß ich nicht alle Wissenschaften würde erlernen können;
aber was und wie viel ich lernen würde, das war mir eben so
unbestimmt, als mein Gefühl unbestimmt war, welches mich zu diesen
Dingen trieb. Mir schwebte auch nicht ein besonderer Nutzen vor, den
ich durch mein Bestreben erreichen wollte, sondern es war mir nur, als
müßte ich so tun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichtiges in
der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen beginnen und an welchem Ende
ich die Sache anfassen sollte, das wußte weder ich, noch wußten es die
Meinigen. Ich hatte nicht die geringste Vorliebe für das eine oder das
andere Fach, sondern es schienen alle anstrebenswert, und ich hatte
keinen Anhaltspunkt, aus dem ich hätte schließen können, daß ich zu
irgend einem Gegenstande eine hervorragende Fähigkeit besäße, sondern
es erschienen mir alle nicht unüberwindlich. Auch meine Angehörigen
konnten kein Merkmal finden, aus dem sie einen ausschließlichen Beruf
für eine Sache in mir hätten wahrnehmen können.

Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in diesem Beginnen lag, war es,
was die Leute meinem Vater übelnahmen, sondern sie sagten, er hätte
mir einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nützlich ist,
befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme,
und einmal mit dem Bewußtsein scheiden könne, meine Schuldigkeit getan
zu haben.

Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der
menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und
wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er
es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler
auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen
schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte:
wenn er der größte Maler wird, so tut er auch der Welt den größten
Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch
einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man
folgen soll. Wie könnte man denn sonst auch wissen, wozu man auf der
Erde bestimmt ist, ob zum Künstler, zum Feldherrn, zum Richter, wenn
nicht ein Geist da wäre, der es sagt, und der zu den Dingen führt, in
denen man sein Glück und seine Befriedigung findet.

Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig verteilt sind, so daß
jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und daß nicht
eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. In diesen
Gaben liegen dann auch schon die gesellschaftlichen, und bei großen
Künstlern, Rechtsgelehrten, Staatsmännern sei auch immer die
Billigkeit, Milde, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe. Und aus solchen
Männern, welche ihren innern Zug am weitesten ausgebildet, seien
auch in Zeiten der Gefahr am öftesten die Helfer und Retter ihres
Vaterlandes hervorgegangen.

Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit
Kaufleute, Ärzte, Staatsdiener geworden; aber in den meisten Fällen
ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat,
so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlechteren Grund,
nehmlich daß sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und
Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft sind sie auch, ohne weiter
über eine Wahl mit sich zu Rate zu gehen, in den Stand geraten
oder durch Umstände in ihn gestoßen worden und nehmen das Wohl der
Menschheit in den Mund, das sie bezweckt hätten, um nicht ihre
Schwäche zu gestehen. Dann ist noch eine eigene Gattung, welche immer
von dem öffentlichen Wohle spricht. Das sind die, welche mit ihren
eigenen Angelegenheiten in Unordnung sind. Sie geraten stets in Nöte,
haben stets Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen
Leichtsinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den
öffentlichen Zuständen ihre Lage schuld zu geben und zu sagen, sie
wären eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und sie würden alles
am besten in demselben einrichten. Aber wenn wirklich die Lage kömmt,
daß das Vaterland sie beruft, so geht es dem Vaterlande, wie es früher
ihren eigenen Angelegenheiten gegangen ist. In Zeiten der Verirrung
sind diese Menschen die selbstsüchtigsten und oft auch grausamsten.
Es ist aber auch kein Zweifel. daß es solche gibt, denen Gott
den Gesellschaftstrieb und die Gesellschaftsgaben in besonderem
Maße verliehen hat. Diese widmen sich aus innerem Antriebe den
Angelegenheiten der Menschen, erlernen sie auch am sichersten, finden
Freude in den Anordnungen und opfern oft ihr Leben für ihren Beruf.
Aber in der Zeit, in der sie ihr Leben opfern, sei sie lange oder sei
sie ein Augenblick, empfinden sie Freude, und diese kömmt, weil sie
ihrem innern Andrange nachgegeben haben.

Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nutzen als Zweck
vorgezeichnet, weder den Nutzen für uns noch für andere, sondern
er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene
Schönheit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüter nachstreben. Wer
Gutes tut, weil das Gegenteil dem menschlichen Geschlechte schädlich
ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich
tief. Dieser müßte zur Sünde greifen, sobald sie dem menschlichen
Geschlechte oder ihm Nutzen bringt. Solche Menschen sind es auch,
denen alle Mittel gelten, und die für das Vaterland, für ihre Familie
und für sich selber das Schlechte tun. Solche hat man zu Zeiten,
wo sie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen, sie sind aber nur
Afterstaatsmänner, und der augenblickliche Nutzen, den sie erzielten,
ist ein Afternutzen gewesen und hat sich in den Tagen des Gerichtes
als böses Verhängnis erwiesen.

Daß bei dem Vater kein Eigennutz herrschte, beweist der Umstand, daß
er im Rate der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete,
daß er öfter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und daß er bei
öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spitze stand.

Er sagte, man solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem
Unbestimmten schon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle
ich auf der Welt einzunehmen hätte.


Ich mußte meine körperlichen Übungen fortsetzen. Schon als sehr kleine
Kinder mußten wir so viele körperliche Bewegungen machen, als nur
möglich war. Das war einer der Hauptgründe, weshalb wir im Sommer auf
dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorstadthause war,
war einer der Hauptbeweggründe, weshalb der Vater das Haus kaufte.

Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich so viel gehen und laufen,
als wir selber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir selber aus
Müdigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt sich eine Anstalt entwickelt,
in welcher nach einer gewissen Ordnung Leibesbewegungen vorgenommen
werden sollten, um alle Teile des Körpers nach Bedürfnis zu üben, und
ihrer naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Diese Anstalt durfte
ich besuchen, nachdem der Vater den Rat erfahrener Männer eingeholt
und sich selber durch den Augenschein von den Dingen überzeugt hatte,
die da vorgenommen wurden. Für Mädchen bestand damals eine solche
Anstalt nicht, daher ließ der Vater für die Schwester in einem Zimmer
unserer Wohnung so viele Vorrichtungen machen, als er und unser
Hausarzt, der ein Begünstiger dieser Dinge war, für notwendig
erachteten, und die Schwester mußte sich den Übungen unterziehen,
die durch die Vorrichtungen möglich waren. Durch die Erwerbung des
Vorstadthauses wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur
hatten wir mehr Raum im Innern des Hauses, um alle Vorrichtungen zu
Körperübungen in besserem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können.
sondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an sich
körperliche Übungen vorgenommen werden konnten und die auch weitere
Anlagen möglich machten. Daß wir diese Sachen sehr gerne taten,
begreift sich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der Jugend von
selber. Wir hatten schon in der Kindheit schwimmen gelernt und gingen
im Sommer fast täglich, selbst da wir in der Vorstadt wohnten, von
wo aus der Weg weiter war, in die Anstalt, in welcher man schwimmen
konnte. Selbst für Mädchen waren damals schon eigene Schwimmanstalten
errichtet. Auch außerdem machten wir gerne weite Wege, besonders
im Sommer. Wenn wir im Freien außer der Stadt waren, erlaubten die
Eltern, daß ich mit der Schwester einen besonderen Umgang halten
durfte. Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege oder in
Besteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurück, an
welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meistens ein Diener
mit uns, später aber, da wir erwachsen waren, ließ man uns allein
gehen. Um besser und mit mehr Bequemlichkeit für die Eltern an jede
beliebige Stelle des Landes außerhalb der Stadt gelangen zu können,
schaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der
bisher Gärtner und gelegentlich unser Aufseher gewesen war, wurde
jetzt auch Kutscher. In einer Reitschule, in welcher zu verschiedenen
Zeiten Knaben und Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt
und hatten später unsere bestimmten Wochentage, an denen wir uns
zu gewissen Stunden im Reiten üben konnten. Im Garten hatte ich
Gelegenheit, nach einem Ziele zu springen, auf schmalen Planken zu
gehen, auf Vorrichtungen zu klettern und mit steinernen Scheiben
nach einem Ziele oder nach größtmöglicher Entfernung zu werfen. Die
Schwester, so sehr sie von der Umgebung als Fräulein behandelt wurde,
liebte es doch sehr, bei sogenannten gröberen häuslichen Arbeiten
zuzugreifen, um zu zeigen, daß sie diese Dinge nicht nur verstehe,
sondern an Kraft auch die noch übertreffe, welche von Kindheit an
bei diesen Arbeiten gewesen sind. Die Eltern legten ihr bei diesem
Beginnen nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern billigten es
sogar. Außerdem trieb sie noch das Lesen ihrer Bücher, machte Musik,
besonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der sie auch sang,
und malte mit Wasserfarben.

Als ich den letzten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet
hatte, als ich in denjenigen wissenschaftlichen Zweigen, in welchen
man einen längeren Unterricht für nötig gehalten hatte, weil sie
schwieriger oder wichtiger waren, solche Fortschritte gemacht hatte,
daß man einen Lehrer nicht mehr für notwendig erachtete, entstand die
Frage, wie es in Bezug auf meine erwählte wissenschaftliche Laufbahn
zu halten sei, ob man da einen gewissen Plan entwerfen und zu dessen
Ausführung Lehrer annehmen sollte. Ich bat, man möchte mir gar keinen
Lehrer mehr nehmen, ich würde die Sachen schon selber zu betreiben
suchen. Der Vater ging auf meinen Wunsch ein, und ich war nun sehr
freudig, keinen Lehrer mehr zu haben und auf mich allein angewiesen zu
sein.

Ich fragte Männer um Rat, welche einen großen wissenschaftlichen Namen
hatten und gewöhnlich an der einen oder der andern Anstalt der Stadt
beschäftigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verletzung
der Bescheidenheit geschehen konnte. Da es meistens nur eine Anfrage
war, die ich in Bezug auf mein Lernen an solche Männer stellte, und da
ich mich nicht in ihren Umgang drängte, so nahmen sie meine Annäherung
nicht übel, und die Antwort war immer sehr freundlich und liebevoll.
Auch waren unter den Männern, die gelegentlich in unser Haus kamen,
manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an diese wandte
ich mich. Meistens betrafen die Anfragen Bücher und die Folge, in
welcher sie vorgenommen werden sollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige
fort, in denen ich schon Unterricht erhalten hatte, weil man sie zu
jener Zeit eben als Grundlage einer allgemeinen menschlichen Bildung
betrachtete, nur suchte ich zum Teile mehr Ordnung in dieselben zu
bringen, als bisher befolgt worden war, zum Teile suchte ich mich auch
in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzusagen begann. Auf diese
Weise geschah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziemliche Ordnung
herrschte, da bei der Unbestimmtheit des ganzen Unternehmens die
Gefahr sehr nahe war, in die verschiedensten Dinge zersplittert und in
die kleinsten Kleinlichkeiten verschlagen zu werden. In Bezug auf die
Fächer, die ich eben angefangen hatte, besuchte ich auch Anstalten in
unserer Stadt, die ihnen förderlich werden konnten: Büchersammlungen,
Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Versuche gemacht
wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangels an
Gelegenheit und Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich an
Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte, schaffte der Vater
bereitwillig an.


Ich war sehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen
Gegenstande mit all der entzündeten Lust hin, die der Jugend bei
Lieblingsdingen eigen zu sein pflegt. Obwohl ich bei meinen Besuchen
der öffentlichen Anstalten zu körperlicher oder geistiger Entwicklung,
ferner bei den Besuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei
ihnen machten, sehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, so war ich
doch nie dahin gekommen, so ausschließlich auf bloße Vergnügungen und
noch dazu oft unbedeutende erpicht zu sein, wie ich es bei der größten
Zahl der jungen Leute gesehen hatte. Die Vergnügungen, die in unserem
Hause vorkamen, wenn wir Leute zum Besuche bei uns hatten, waren auch
immer ernsterer Art.

Ich lernte auch viele ältere Menschen kennen; aber ich achtete damals
weniger darauf, weil es bei der Jugend Sitte ist, sich mit lebhafter
Beteiligung mehr an die anzuschließen, die ihnen an Jahren näher
stehen, und das, was an älteren Leuten befindlich ist, zu übersehen.

Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Teil meines
Eigentums aus der Erbschaft vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte
bis dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt, sondern wenn ich
irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem
Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich sie selber kaufe. Auch
zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine Beträge. Von nun an
aber, sagte der Vater, werde er mir am ersten Tage eines jeden Monats
eine bestimmte Summe auszahlen, ich solle darüber ein Buch führen, er
werde diese Auszahlungen bei der Verwaltung meines Gesammtvermögens,
welche Verwaltung ihm noch immer zustehe, in Abrechnung bringen, und
sein Buch und das meinige müßten stimmen. Er gab mir einen Zettel, auf
welchem der Kreis dessen aufgezeichnet war, was ich von nun an mit
meinen monatlichen Einkünften zu bestreiten hätte. Er werde mir
nie mehr von seinem Gelde einen Gegenstand kaufen, der in den
verzeichneten Kreis gehöre. Ich müsse pünktlich verfahren und
haushälterisch sein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter
den dringendsten Bedingungen einen Vorschuß geben. Wenn ich zu seiner
Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirtschaftet hätte, dann werde er
meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigstem Ermessen
sehen, in welcher Zeit er mir auch vor der erreichten gesetzlichen
Mündigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Hände werde geben können.



Der Wanderer

Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesetzt hatte, gut.
Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater
versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht bloß nur einen Teil
meiner Bedürfnisse von dem zugewiesenen Einkommen decken, sondern
alle. Deshalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte sie mir
von nun an auch nicht mehr monatlich, sondern vierteljährlich aus, um
mich an größere Zeitabschnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährlich oder
gar nach ganzen Jahren einzuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich
doch nicht etwa in Unordnungen geriete. Er gab mir nicht die ganzen
Zinsen von der Erbschaft des Großoheims, sondern nur einen Teil, den
andern Teil legte er zu der Hauptsumme, so daß mein Eigentum wuchs,
wenn ich auch von meiner Rente nichts erübrigte. Als Beschränkung
blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hause meiner Eltern wohnen und
an ihrem Tische speisen mußte. Es ward dafür ein Preis festgesetzt,
den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfnis,
Kleider, Bücher, Geräte oder was es immer war, durfte ich nach meinem
Ermessen und nach meiner Einsicht befriedigen.

Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Teiles
der Erbschaft des Großoheims, in so weit sie sich für ein Mädchen
schickten.

Wir waren über diese Einrichtung sehr erfreut und beschlossen, nach
dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu
machen.

Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zweigen der Kenntnisse,
die ich zuletzt mit meinen Lehrern betrieben hatte und welche als
allgemein notwendige Kenntnisse für einen gebildeten Menschen gelten,
nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathematik über.
Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste
Wissenschaft, sie sei die Grundlage zu allen übrigen, in ihr sei alles
wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besitztum für das
ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man mir riet, um von den
Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen und zu dem Höheren
immer weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große
Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß
ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt
waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer
nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach
erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren geführt
worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeiträume fest, in welchen ich
vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen und
meinem Gedächtnisse einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Teilen
vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen
wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgestellt.
Ich war nach einer verhältnismäßigen Zeit in ziemlich schwierige
Abteilungen des höheren Gebietes dieser Wissenschaft vorgerückt.


Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch
entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen.
Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes
meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich erhielt ein
Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen Fenster auf die
nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten
Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen
Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge. Sehr oft
kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem
Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und blieb
manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause.

Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel
weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat
häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben
und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß über
diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemächer
befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte obere Stube.
Häufig ist sie bloß das einzige Gemach des ersten Geschosses. Die
obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In ihr stehen die
schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr stehen die
Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben- und
Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise,
die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schöneren
Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder etwas aus
Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und
sonstige Zierden, zum Beispiel ein schönes Jesuskindlein aus Wachs,
welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube
des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der
Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benutzung
des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen.

Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor. Weil ich mit
den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht nach
Mitteilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen wäre und
sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt also zu
ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus
Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine
Bücherkästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie
geübt, etwas selber in größerem Zusammenhange zusammen zu stellen.
Jetzt mußte ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach
und nach die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu
fühlen. Ich schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren
Schilderungen.


Auch eine andere Veränderung trat ein.

Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge
gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten
Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große
Unannehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhörlich
um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren Gebrauch und konnte
mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschiebende war. Auch
konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem
machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich
meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir
Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte und ihn in
lauter Klötze zerlegte. Die Klötze waren nun kein Baum mehr, und da
sie morsch waren, konnte man keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz,
kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen
gelernt und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte,
taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause
verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen
waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die
große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen
Turm habe, warum dieser so spitzig sei, warum die Kirche so schwarz
sei, wem dieses oder jenes Haus gehöre, warum es so groß sei, weshalb
sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befänden
und in einem weiteren Hause zwei steinerne Männer das Sims des
Haustores tragen.

Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei
einigen äußerte er nur Mutmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse
es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und
Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der
Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge
werden oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt,
an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die
Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.

Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in
eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete
mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen
Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte
nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging
mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die Wälder
und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf
diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des
Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste ländliche
Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen.
Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und
der Leinwand aus Flachs, der Butter und des Käses aus der Milch, des
Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich merkte mir die Namen, womit
die Landleute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merkmale
kennen, aus denen man die Güte oder den geringeren Wert der
Bodenerzeugnisse oder ihre nächsten Umwandlungen beurteilen konnte.
Selbst in Gespräche, wie man dieses oder jenes auf eine vielleicht
zweckmäßigere Weise hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber
da einen hartnäckigen Widerstand.

Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche
des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging
ich zu den Gegenständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von meiner
Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser durchströmt
war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und
dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben
von Werken eignete. In dem Tale waren daher mehrere Fabriken
zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen Handelshäusern. Die
Eigentümer lebten in der Stadt und besuchten zuweilen ihre Werke, die
von einem Verwalter oder Geschäftsleiter versehen wurden.

Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich
über die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte
den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik
geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser
in die zweite und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als
letztes Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der
einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale aufmerksam
gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit der endlich in
der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte.
Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die
Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt
wurden.

Die Maschinen, welche hiezu größtenteils verwendet wurden, waren mir
durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen
Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre
besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht
werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit
der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze so vor mir
hatte und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung
auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher
Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.

In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich
fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche
Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu
diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich,
die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse kennen zu
lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte
und welche nur einiger Maßen aufzubewahren waren, nahm ich mit in
meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte,
wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beschreibungen,
welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die
ich immer nach allen sich mir darbietenden Eigenschaften der Pflanzen
machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beschreibung
andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehörten, als welche von den
Pflanzenkundigen als zusammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte,
daß von den Pflanzenlehrern die Einteilungen der Pflanzen nur nach
einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern
oder nach den Blütenteilen, gemacht wurden, und daß da Pflanzen in
einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und
in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt
die herkömmlichen Einteilungen bei und hatte aber auch meine
Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen
nach sinnfälligen Linien und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach
ihrer Bauführung beisammen.

Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, geriet ich beinahe in
dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche
Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus
anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon
Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen
auf sich aufgeklebt.

Auch waren sie womöglich immer im Kristallzustande. Das System von
Mohs hatte einmal großes Aufsehen gemacht; ich war durch meine
mathematischen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und
lieben gelernt. Allein da ich jetzt meine Mineralien in der Gegend
meines Aufenthaltes suchte und zusammen trug, fand ich sie weit öfter
in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten
da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. Das
Kristallisiren der Stoffe, welches das System von Mohs voraussetzt,
kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe standen nach
diesen Blüten beisammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben
den Einteilungen, die gebräuchlich waren, mir ebenfalls meine
Beschreibungen zu machen.


Ungefähr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin
eine Reihe von schönen Hügeln. Diese Hügel setzen sich in Stufenfolgen
und nur hie und da von etwas größeren Ebenen unterbrochen immer weiter
nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in höher gelegenes, noch
hügligeres Land, das sogenannte Oberland, übergehen. In der Nähe der
Stadt sind die Hügel mehrfach von Landhäusern besetzt und mit Gärten
und Anlagen geschmückt, in weiterer Entfernung werden sie ländlicher.
Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind
zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenstrecken sind mit
laubigen, mehr busch- als baumartigen Wäldern besetzt. Die Bäche und
sonstigen Gewässer sind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer
zwischen den Hügeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab führte, das
ausgetrocknete, mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In
diesem Hügellande war mein Aufenthalt, und in demselben rückte ich
immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit
herum und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging
die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingeländen
hinliefen und sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen und manche
Meilen, ja Tagereisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen
Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüschen verborgen waren und
nicht selten im Laubwerk, Gras oder Gestrippe spurlos endeten.
Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen, Wald und sonstige
Landflächen, um die Gegenstände zu finden, welche ich suchte. Daß
wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist
begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich
gönnen können und in derselben auf den breiten herkömmlichen Straßen
des Landvergnügens bleiben und von anderen Pfaden nichts wissen.
An der Mittagseite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von
Hochgebirge gesäumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann
man zwischen Häusern und Bäumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge
sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue
Fleckchen und dachte nichts weiter als: das ist das Gebirge. Selbst
da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Teil des
Hochgebirges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jetzt sah
ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines
Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren
Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes
Gestrippe plötzlich auf einen freien Abriß kam und mir die Abendröte
entgegen schlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, so
setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es
kamen allerlei Gefühle in mein Herz.

Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zurückkehrte, wurde ich
recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte sich an meine
Abwesenheiten, da ich stets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und
die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte,
aus ihren Behältnissen auspacken, damit ich sie in den Räumen, die
hiezu bestimmt waren, ordnen konnte.

So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für geraten
fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Großoheims zu freier
Verfügung zu übertragen. Er sagte, ich könne mit diesem Einkommen
verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich damit ausreichen. Er
werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir
je Vorschüsse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, daß
sie meine jetzigen Bedürfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles größer
würden, nicht nur hinlänglich decke, sondern daß sie selbst auch
manche Vergnügungen bestreiten könne, und daß doch noch etwas übrig
bleiben dürfte. Es liege somit in meiner Hand, für die Zukunft, die
etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme
zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch dürfe ich nicht mehr, wenn
ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern nehmen, sondern wo ich immer
wollte. Das Stammvermögen selber werde er an dem Orte, an welchem
es sich bisher befand, liegen lassen. Er fügte bei, er werde mir
dasselbe, sobald ich das vierundzwanzigste Jahr erreicht habe,
einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten.
»Ich rate dir aber«, fuhr er fort, »dann nicht nach einer größeren
Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer größeren
Unsicherheit des Stammvermögens zu erzielen ist. Sei immer deines
Grundvermögens sicher und mache die dadurch entstehende kleinere Rente
durch Mäßigkeit größer. Solltest du den Rat deines Vaters einholen
wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe oder
freiwillig aus den Geschäften zurück trete, so werdet ihr beide auch
noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten. Wie groß
dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemühe mich, durch
Vorsicht und durch gut gegründete Geschäftsführung sie so groß als
möglich und auch so sicher als möglich zu machen; aber alle stehen
wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein
Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermögensumstände bedeutend
verändern. Darum sei weise und gebare mit dem Deinigen, wie du bisher
zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter getan hast.« Ich war
gerührt über die Handlungsweise meines Vaters und dankte ihm von
ganzem Herzen. Ich sagte, daß ich mich stets bestreben werde, seinem
Vertrauen zu entsprechen, daß ich ihn inständig um seinen Rat bitte,
und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn
handeln, und daß ich auch nicht den kleinsten Schritt tun wolle,
ohne nach diesem Rat zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hause
zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, wäre mir sehr
schmerzlich, und ich bitte, in dem Hause meiner Eltern und an ihrem
Tische bleiben zu dürfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine
Schickung eine Änderung herbei führe.

Der Vater und die Mutter waren über diese Worte erfreut. Die Mutter
sagte, daß sie mir zu meiner bisherigen Wohnung, die mir doch als
einem nunmehr selbständigen Manne besonders bei meinen jetzigen
Verhältnissen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten
zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnismäßig wachse. Ich
war natürlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich mußte gleich mit
der Mutter gehen und die mir zugedachte Vergrößerung der Wohnung
besehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächsten Tagen
richtete ich mich in der neuen Wohnung ein.

Den Winter benutzte ich zum Teile mit Vorbereitungen, um im nächsten
Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir
vorgenommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in
ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen würde.


Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzesten
Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann
in ihm längs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu
Fuße fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den
Tälern entlang, selbst wenn sie von meiner Richtung abwichen und
allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen
immer meinen Hauptweg wieder zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche
und ging auf der entgegengesetzten Seite wieder in das Tal hinab.

Ich erklomm manchen Gipfel und suchte von ihm die Gegend zu sehen und
auch schon die Richtung zu erspähen, in welcher ich in nächster Zeit
vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich stets, soweit es anging,
nach dem Hauptzuge des Gebirges und wich von der Wasserscheide so
wenig als möglich ab.

In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten
Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen,
und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu
kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben
so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfüße in
die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. Das
Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte und mit ihm
großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glänzte
noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antlitz,
das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine
Mörder. Ich griff den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich
eine Weile bei dem toten Tiere gestanden war, hörte ich Laute in den
Wäldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden
klangen. Diese Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und
bald sprang ein Paar schöner Hunde über den Bach, denen noch einige
folgten. Sie näherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei
dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen und bellten
heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreise um mich
zogen, in ihnen dahin flogen und in Eilfertigkeit sich an Steinen
überschlugen und überstürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer
mit Schießgewehren. Als sich diese dem Hirsche genähert hatten und
neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine
Scheu mehr, beschnupperten mich und bewegten sich und zitterten um das
Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplatze
erschienen waren, sehr bald von ihm.

Bisher hatte ich keine Tiere zu meinen Bestrebungen in der
Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben
eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlässigung der
leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, daß ich,
selbst da ich einen Teil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte,
noch immer die Merkmale von Ziegen, Schafen, Kühen aus meinen
Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten.

Ich schlug jetzt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen
hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner
Held und war ein reines Wesen. Auch die Hunde, seine Feinde,
erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlanken
springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls
vor den Augen. Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten,
waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht
hatten. Ich fing von der Stunde an, Tiere so aufzusuchen und zu
betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und
betrachtet hatte. Sowohl jetzt, da ich noch in dem Gebirge war, als
auch später zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen betrachtete
ich Tiere und suchte ihre wesentlichen Merkmale sowohl an ihrem Leibe
als auch an ihrer Lebensart und Bestimmung zu ergründen. Ich schrieb
das, was ich gesehen hatte, auf und verglich es mit den Beschreibungen
und Einteilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geschah es
wieder, daß ich mit diesen Büchern in Zwiespalt geriet, weil es meinen
Augen widerstrebte, Tiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer
Abteilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung
ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich, aber
zu meinem Gebrauche eine andere Einteilung zusammen.

Einen besonderen Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen
wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, außer was sich zufällig
fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu
sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesättigt war, begab ich
mich auf dem nächsten Wege in das flache Land hinaus und fuhr auf
diesem wieder nach Hause.

Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte
ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindrücke
wirkend auf mich heran gekommen, so ging ich jetzt schon mehr in das
Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr und richtete die Betrachtung
auf besondere Dinge. Viele von ihnen drängten sich an meine Seele.
Ich saß auf einem Steine und sah die breiten Schattenflächen und die
scharfen, oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter.
Ich dachte nach, weshalb die Schatten hier so blau seien und die
Lichter so kräftig und das Grün so feurig und die Wässer so blitzend.
Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren,
und mir wurde es, als hätte ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen
zu können. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen länger und
betrachtete die Menschen, ihr tägliches Gewerbe, ihr Fühlen, ihr
Reden, Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete
sie, untersuchte sie und hörte auf ihr spielen und zu ihr singen. Sie
erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehört
und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung, ihr Anhängen
an die Bergwände, ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhältnisse
des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare
Erscheinungen.

Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich
von den Führern nicht bloß auf das Eis der Gletscher geleiten, welches
mich sehr anregte und zur Betrachtung aufforderte, sondern bestieg
auch mit ihrer Hilfe die höchsten Zinnen der Berge. Ich sah die
Überreste einer alten, untergegangenen Welt in den Marmoren, die in
dem Gebirge vorkommen und die man in manchen Tälern zu schleifen
versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden und sendete sie nach
Hause. Den schönen Enzian hatte ich im früheren Sommer schon der
Schwester in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jetzt brachte ich ihr
auch Alpenrosen und Edelweiß. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze
nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und so kam ich
bereichert nach Hause.

Ich ging von nun an jeden Sommer in das Gebirge.

Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern
nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte und nicht
mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern
öfter schon die blauen und heiteren Lüfte, wenn diese durch ihre Farbe
schon gleichsam ihre größere Weichheit ankündigten, wenn auf den
Mauern und Schornsteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen
Richtungen übersehen konnte, schon immer kräftigere Tafeln von
Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken ließ und an den
Bäumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich
bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vorläufig zu genügen, ging
ich gerne aus der Stadt und erquickte mich an der offenen Weite der
Wiesen, der Felder, der Weinberge. Wenn aber die Bäume blühten und das
erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu,
wenngleich ihre Wände noch von mannigfaltigem Schnee erglänzten. Ich
erwählte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich
aufhielt, um sie genau kennen zu lernen und zu genießen.

Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der
Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es
blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem
Grundvermögen getan werden konnte. Ich spürte desohngeachtet in meiner
Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude
waren und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen
meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern, Speise und Trank
die größte Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir
zur Mäßigkeit erzogen waren und weil diese Gegenstände, wenn ich
ihnen große Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, mich von meinen
Lieblingsbestrebungen abgelenkt hätten. So ging alles gut, Vater und
Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre
Freude.


Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine
Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben,
und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung.
Ich erstaunte, weshalb ich denn nicht sogleich auf den Gedanken
geraten sei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit
mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesetzen entstanden,
Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten und mit Zirkel und
Richtscheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man
mit Linien alle möglichen Körper darstellen könne, und hatte es an den
Bildern meines Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter
darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung beschäftigt war. Es
mußte diese Vernachlässigung von einer Eigenschaft in mir herrühren,
die ich in einem hohen Grade besaß und die man mir zum Vorwurfe
machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschäftigt
war, so vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere
Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel
an Gefühl.

Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern, mit Stielen,
mit Zweigen. Es war Anfangs die Ähnlichkeit nicht sehr groß, und die
Vollkommenheit der Zeichnung ließ viel zu wünschen übrig, wie ich
später erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war und vom
Versuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten
Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und
nach nicht bloß die Farbe, sondern auch die Gestalt, und erinnerten
nicht mehr entfernt an ihre ursprüngliche Beschaffenheit.

Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die
Gestalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer
Beschaffenheit, und selbst solche, die wegen ihrer Größe in ein
Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beispiele Pilze oder
Bäume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden.
Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht
mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflanzen, besonders bei den
Blüten, eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit
Farben zu versehen und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit
mit den Urbildern erschien und immer größer zu werden versprach.

Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegenstände vor, deren Farbe
etwas Auffallendes und Faßliches hatte. Ich geriet auf die Falter und
suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervorragenden
Gegenständen, die zwar unscheinbar, aber doch bedeutsam sind, wie die
der Gesteine im unkristallischen Zustande, kamen später an die Reihe,
und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen.

Da ich nun einmal zeichnete und die Dinge deshalb doch viel genauer
betrachten mußte, und da das Zeichnen und meine jetzige Bestrebungen
mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine andere,
viel weiter gehende Richtung.

Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg und von
ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geübteren
Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren
Merkmalen dar und faßten sich übersichtlicher in großen Teilen
zusammen. Da öffnete sich dem Gemüte und der Seele der Reiz des
Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen,
ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres
Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die
Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen
und wieder vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in
unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas
ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer
Fenster absetzt, und die Kälte dazu kömmt, die nötig ist, so entsteht
die Decke von Fäden, Sternen, Wedeln, Palmen und Blumen, die wir
gefrorene Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem
Ganzen zusammen, und die Strahlen, die Täler, die Rücken, die
Knoten des Eises sind durch ein Vergrößerungsglas angesehen
bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus
gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie muß aus
einem erstarrenden Stoffe entstanden sein und streckt ihre Fächer
und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich
stehe, ist der weiße, helle und sehr glänzende Punkt, den wir in
der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die
Palmenränder der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbröcklung
wegen des Luftzuges oder durch Schmelzung wegen der Wärme lückenhaft
und unterbrochen. An den Gebirgszügen geschehen Zerstörungen durch
Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers, der Luft, der
Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zerstörung der Eisnadeln an den
Fenstern kürzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der
unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob
mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges
Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen
Bemühungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser
Erdoberfläche nachzuspüren und durch Sammlung vieler kleiner Tatsachen
an den verschiedensten Stellen sich in das große und erhabene Ganze
auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von
Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen und sie endlich alle
erfüllt haben und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt
als die Weite und die Wölbung des Meeres.

Ich begann, durch diese Gefühle und Betrachtungen angeregt, gleichsam
als Schlußstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten
die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht
der Bildung der Erde selber zu betreiben. Nebstdem, daß ich
gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberfläche
genau zeichnete, gleichsam als wäre sie durch einen Spiegel gesehen
worden, schaffte ich mir die vorzüglichsten Werke an, welche über
diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man
braucht, bekannt, so wie mit der Art ihrer Benützung.

Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgesetztem Eifer und mit
einer strengen Ordnung.

Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung
seiner Erscheinungen und die Verhältnisse seines Wetters.

Meine Besuche der Berge hatten nun fast ausschließlich diesen Zweck zu
ihrem Inhalte.



Die Einkehr

Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Hügelland hinaus.
Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern übersiedeln
und meinen Weg dahin durch einen Teil des offenen Landes nehmen.
Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichsam
wie mit einem Übergange gegen das flachere Land ausläuft. Mit Laub-
oder Nadelwald bedeckt ziehen sie in angenehmer Färbung dahin, lassen
hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über sich sehen, sind hie
und da von einer leuchtenden Wiese unterbrochen, führen alle Wässer,
die das Gebirge liefert und die gegen das Land hinaus gehen, zwischen
sich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein und strecken sich
nach allen Richtungen, in denen das Gebirge sich abniedert, gegen die
bebauteren und bewohnteren Teile hinaus.

Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere
Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken
eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann und den Himmel
umschleierte. Ich schritt rüstig fort und beobachtete das Zunehmen und
Wachsen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war und
mich in einem Teile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen
Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in
Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die
Kirchtürme schimmern, in den Talfurchen die Bäche rauschen und überall
wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue, gezackte
Band der Hochgebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr
denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum
mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, daß es in einer
Stunde und bei begünstigenden Umständen wohl noch früher ausbrechen
konnte.

Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchturm von der Sonne
scharf beschienen über Kirschen- und Weidenbäumen hervor sah. Es lag
nur ganz wenig abseits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe,
deren jeder in einer mäßigen Entfernung von der Straße in Wiesen und
Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein
Bauerhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein
schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. Ich hatte
schon früher wiederholt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus
betrachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasselbe bekümmert. Jetzt
fiel es mir um so mehr auf, weil es der nächste Unterkunftsplatz von
meinem Standorte aus war und weil es mehr Bequemlichkeit als die
Meierhöfe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigentümlicher
Reiz. Es war, da schon ein großer Teil des Landes, mit Ausnahme des
Rohrberger Kirchturmes, im Schatten lag, noch hell beleuchtet und sah
mit einladendem schimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landschaft
hinaus.

Ich beschloß also, in diesem Hause eine Unterkunft zu suchen.

Ich forschte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Straße auf
den Hügel des Hauses hinaufführen sollte. Nach meiner Kenntnis des
Landesgebrauches war es mir nicht schwer, den mit einem Zaune und
mit Gebüsch besäumten Weg, der von der Landstraße ab hinauf ging,
zu finden. Ich schritt auf demselben empor und kam, wie ich richtig
vermutet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell
beschienen. Allein da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen
bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen
bedeckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande ist, daß,
wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit einander blüht, so war es
auch hier: die Rosen schienen sich das Wort gegeben zu haben, alle
zur selben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der
reizendsten Farbe und in eine Wolke der süßesten Gerüche zu hüllen.

Wenn ich sage, das Haus sei über und über mit Rosen bedeckt gewesen,
so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich
hohe Geschosse.

Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen
Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der übrige Teil bis zu dem Dache war
frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Landschaft
hinaus geschaut und mich gewissermaßen herauf gelockt hatte. Die Rosen
waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand,
befestigt. Sie bestanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige
darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere,
deren Stämmchen über die ersten empor ragten, und so fort, bis die
letzten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein
sahen. Die Pflanzen waren so verteilt und gehegt, daß nirgends eine
Lücke entstand und daß die Wand des Hauses, soweit sie reichten,
vollkommen von ihnen bedeckt war.

Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so großen Maßstabe noch
nie gesehen.

Es waren zudem fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und
einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen
Weiß der weißen Rosen durch das gelbliche und rötliche Weiß der
Übergangsrosen in das zarte Rot und in den Purpur und in das bläuliche
und schwärzliche Rot der roten Rosen über. Die Gestalten und der Bau
wechselten in eben demselben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach
Farben eingeteilt, sondern die Rücksicht der Anpflanzung schien nur
die zu sein, daß in der Rosenwand keine Unterbrechung statt finden
möge. Die Farben blühten daher in einem Gemische durch einander.

Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und
kein bei Rosen öfter als bei andern Pflanzen vorkommender Übelstand
der grünen Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir zu
Gesichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zerfressenes oder durch
ihr Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen
so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und
in ihren verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die
Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemischt einen
wunderlichen Überzug des Hauses. Die Sonne, die noch immer gleichsam
einzig auf dieses Haus schien, gab den Rosen und den grünen Blättern
derselben gleichsam goldene und feurige Farben.


Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergessend vor diesen Blumen
gestanden war, ermahnte ich mich und dachte an das Weitere. Ich sah
mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen.
Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Tür und kein Tor.
Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hause bemerkbar gemacht;
denn der ganze Platz vor demselben war ein reiner, durch den Rechen
wohlgeordneter Sandplatz. Derselbe schnitt sich durch ein Rasenband
und eine Hecke von den angrenzenden, hinter meinem Rücken liegenden
Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner
Länge setzten sich Gärten fort, die durch ein hohes, eisernes, grün
angestrichenes Gitter von dem Sandplatze getrennt waren. In diesen
Gittern mußte also der Eingang sein.

Und so war es auch.

In dem Gitter, welches dem den Hügel heranführenden Wege zunächst
lag, entdeckte ich die Tür oder eigentlich zwei Flügel einer Tür, die
dem Gitter so eingefügt waren, daß sie von demselben bei dem ersten
Anblicke nicht unterschieden werden konnten. In den Türen waren die
zwei messingenen Schloßgriffe und an der Seite des einen Flügels ein
Glockengriff.

Ich sah zuerst ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplatz
setzte sich hinter dem Gitter fort, nur war er besäumt mit blühenden
Gebüschen und unterbrochen mit hohen Obstbäumen, welche Schatten
gaben. In dem Schatten standen Tische und Stühle; es war aber kein
Mensch bei ihnen gegenwärtig. Der Garten erstreckte sich rückwärts um
das Haus herum und schien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen.

Ich versuchte zuerst die Türgriffe, aber sie öffneten nicht. Dann nahm
ich meine Zuflucht zu dem Glockengriffe und läutete.

Auf den Klang der Glocke kam ein Mann hinter den Gebüschen des Gartens
gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir
stand, sah ich, daß es ein Mann mit schneeweißen Haaren war, die er
nicht bedeckt hatte. Sonst war er unscheinbar und hatte eine Art
Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen soll, das ihm überall
enge anlag und fast bis auf die Knie herabreichte. Er sah mich einen
Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und sagte dann: »Was
wollt ihr, lieber Herr?«

»Es ist ein Gewitter im Anzuge«, antwortete ich, »und es wird in
Kurzem über diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an
meinem Ränzchen seht, und bitte daher, daß mir in diesem Hause so
lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen, oder wenigstens der
schwerere, vorüber ist.«

»Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kommen«, sagte der Mann.

»Es wird keine Stunde dauern, daß es kömmt«, entgegnete ich, »ich bin
mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt und verstehe mich auch auf die
Wolken und Gewitter derselben ein wenig.«

»Ich bin aber mit dem Platze, auf welchem wir stehen, aller
Wahrscheinlichkeit nach weit länger bekannt als ihr mit dem Gebirge,
da ich viel älter bin als ihr«, antwortete er, »ich kenne auch seine
Wolken und Gewitter und weiß, daß heute auf dieses Haus, diesen Garten
und diese Gegend kein Regen niederfallen wird.«

»Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter
dieses Haus netzen wird oder nicht«, sagte ich; »wenn ihr Anstand
nehmet, mir dieses Gittertor zu öffnen, so habet die Güte und ruft den
Herrn des Hauses herbei.«

»Ich bin der Herr des Hauses.«

Auf dieses Wort sah ich mir den Mann etwas näher an. Sein Angesicht
zeigte zwar auch auf ein vorgerücktes Alter, aber es schien mir
jünger als die Haare und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen,
wohlgefärbten, nicht durch das Fett der vorgerückten Jahre entstellten
Angesichtern, von denen man nie weiß, wie alt sie sind. Hierauf sagte
ich: »Nun muß ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich so zudringlich
gewesen bin, ohne weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn
eure Behauptung, daß kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung
gleich sein soll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt
nicht, daß ich als junger Mann den Regen so scheue; es ist mir zwar
nicht so angenehm, durchnäßt zu werden als trocken zu bleiben, es ist
mir aber auch nicht so unangenehm, daß ich deshalb jemandem zur Last
fallen sollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es
liegt nichts daran, wenn ich auch heute getroffen werde.«

»Das sind eigentlich zwei Fragen«, antwortete der Mann, »und ich muß
auf beide etwas entgegnen. Das Erste ist, daß ihr in Naturdingen eine
Unrichtigkeit gesagt habet, was vielleicht daher kömmt, daß ihr die
Verhältnisse dieser Gegend zu wenig kennt oder auf die Vorkommnisse
der Natur nicht genug achtet. Diesen Irrtum mußte ich berichtigen;
denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden. Das Zweite
ist, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieses Haus kommen wollt,
und wenn ihr gesonnen seid, seine Gastfreundschaft anzunehmen, ich
sehr gerne willfahren werde. Dieses Haus hat schon manchen Gast gehabt
und manchen gerne beherbergt, und wie ich an euch sehe, wird es auch
euch gerne beherbergen und so lange verpflegen, als ihr es für nötig
erachten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein.«

Mit diesen Worten tat er einen Druck am Schlosse des Torflügels,
der Flügel öffnete sich, drehte sich mit einer Rolle auf einer
halbkreisartigen Eisenschiene und gab mir Raum zum Eintreten.

Ich blieb nun einen Augenblick unentschlossen.

»Wenn das Gewitter nicht kömmt«, sagte ich, »so habe ich im Grunde
keine Ursache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden
Gewitters willen von der Landstraße abgewichen und zu diesem Hause
heraufgestiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage
anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforscher und habe mich mehrere
Jahre mit Naturdingen, mit Beobachtungen und namentlich mit diesem
Gebirge beschäftigt, und meine Erfahrungen sagen mir, daß heute über
diese Gegend und dieses Haus ein Gewitter kommen wird.«

»Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen«, sagte er, »jetzt
handelt es sich darum, daß wir gemeinschaftlich abwarten, wer von uns
beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforscher und kann von mir
nicht sagen, daß ich mich mit Naturwissenschaften beschäftigt habe;
aber ich habe manches über diese Gegenstände gelesen, habe während
meines Lebens mich bemüht, die Dinge zu beobachten und über das
Gelesene und Gesehene nachzudenken. In Folge dieser Bestrebungen habe
ich heute die unzweideutigen Zeichen gesehen, daß die Wolken, welche
jetzt noch gegen Sonnenuntergang stehen, welche schon einmal gedonnert
haben und von denen ihr veranlaßt worden seid, zu mir herauf zu
steigen, nicht über dieses Haus und überhaupt über keine Gegend einen
Regen bringen werden. Sie werden sich vielleicht, wenn die Sonne
tiefer kömmt, verteilen und werden zerstreut am Himmel herum stehen.
Abends werden wir etwa einen Wind spüren, und morgen wird gewiß wieder
ein schöner Tag sein. Es könnte sich zwar ereignen, daß einige schwere
Tropfen fallen oder ein kleiner Sprühregen nieder geht, aber gewiß
nicht auf diesen Hügel.«

»Da die Sache so ist«, erwiderte ich, »trete ich gerne ein und harre
mit euch gerne der Entscheidung, auf die ich begierig bin.«

Nach diesen Worten trat ich ein, er schloß das Gitter und sagte, er
wolle mein Führer sein.


Er führte mich um das Haus herum; denn in der den Rosen
entgegengesetzten Seite war die Tür. Er führte mich durch dieselbe
ein, nachdem er sie mit einem Schlüssel geöffnet hatte. Hinter der Tür
erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflastert war.

»Dieser Eingang«, sagte er, »ist eigentlich der Haupteingang; aber da
ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich
ihn immer gesperrt, und die Leute gehen durch eine Tür in die Zimmer,
welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um die Ecke des
Hauses gingen. Des Pflasters willen muß ich euch auch bitten, diese
Filzschuhe anzuziehen.«

Es standen einige Paare gelblicher Filzschuhe gleich innerhalb der
Tür. Niemand konnte mehr als ich von der Notwendigkeit überzeugt
sein, diesen so edlen und schönen Marmor zu schonen, der an sich
so vortrefflich ist und hier ganz meisterhaft geglättet war. Ich
fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar solcher Schuhe, er tat
desgleichen, und so gingen wir über den glatten Boden. Der Gang,
welcher von oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfelten
Tür. Vor derselben legte er die Filzschuhe ab, verlangte von mir, daß
ich dasselbe tue, und, nachdem wir uns auf dem hölzernen Antritte der
Tür der Filzschuhe entledigt hatten, öffnete er dieselbe und führte
mich in ein Zimmer. Dem Ansehen nach war es ein Speisezimmer; denn in
der Mitte desselben stand ein Tisch, an dessen Bauart man sah, daß er
vergrößert oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere oder
kleinere Anzahl von Personen um ihn sitzen sollte. Außer dem Tische
befanden sich nur Stühle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die
Speisegerätschaften enthalten sein konnten.

»Legt in diesem Zimmer«, sagte der Mann, »euern Hut, euern Stock und
euer Ränzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach führen, in
welchem ihr ausruhen könnt.«

Als er dies gesagt und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer
breiten Strohmatte und zu Fußbürsten, die sich am Ausgange des Zimmers
befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fußbekleidung
und lud mich ein, dasselbe zu tun. Ich tat es, und da ich fertig war,
öffnete er die Ausgangstür, die ebenfalls braun und getäfelt war, und
führte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der
Seite des Vorgemaches lag.

»Dieses Vorgemach«, sagte er, »ist der eigentliche Eingang in das
Speisezimmer, und man kömmt von der andern Tür in dasselbe.«

Das Ausruhezimmer war ein freundliches Gemach und schien recht eigens
zum Sitzen und Ruhehalten bestimmt. Es befaßte nichts als lauter
Tische und Sitze. Auf den Tischen lagen aber nicht, wie es häufig in
unsern Besuchzimmern vorkömmt, Bücher oder Zeichnungen und dergleichen
Dinge, sondern die Tafeln derselben waren unbedeckt und waren
ausnehmend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von dunklem
Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein
einziges Geräte war da, welches kein Tisch und kein Sitz war, ein
Gestelle mit mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den Wänden
hingen Kupferstiche.

»Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen müde seid oder überhaupt
ruhen wollt«, sagte der Mann, »ich werde gehen und sorgen, daß man
euch etwas zu essen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile allein bleiben.
Auf dem Gestelle liegen Bücher, wenn ihr etwa ein wenig in dieselben
blicken wollet.«

Nach diesen Worten entfernte er sich.

Ich war in der Tat müde und setzte mich nieder.

Als ich saß, konnte ich den Grund einsehen, weshalb der Mann vor dem
Eintritte in dieses Zimmer so sehr seine Fußbekleidung gereinigt und
mir den Wunsch zu gleicher Reinigung ausgedrückt hatte. Das Zimmer
enthielt nehmlich einen schön getäfelten Fußboden, wie ich nie einen
gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich
konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen
in ihren natürlichen Farben zusammengesetzt und sie in ein Ganzes von
Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräten meines Vaters her an
solche Dinge gewohnt war und sie etwas zu beurteilen verstand, sah ich
ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht
haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien.
Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufstehen und auf der Sache
herum gehen, besonders wenn ich die Nägel in Anschlag brachte, mit
denen meine Gebirgsstiefel beschlagen waren. Auch hatte ich keine
Veranlassung zum Aufstehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen
Gange sehr angenehm war.

Da saß ich nun in dem weißen Hause, zu welchem ich hinauf gestiegen
war, um in ihm das Gewitter abzuwarten.

Es schien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenster
dieses Zimmers schief herein und legte lichte Tafeln auf den schönen
Fußboden desselben.

Als ich eine Weile gesessen war, bemächtigte sich meiner eine seltsame
Empfindung, welche ich mir Anfangs nicht zu erklären vermochte. Es war
mir nehmlich, als sitze ich nicht in einem Zimmer, sondern im Freien,
und zwar in einem stillen Walde. Ich blickte gegen die Fenster, um mir
das Ding zu erklären; aber die Fenster erteilten die Erklärung nicht:
ich sah durch sie ein Stück Himmel, teils rein, teils etwas bewölkt,
und unter dem Himmel sah ich ein Stück Gartengrün von emporragenden
Bäumen, ein Anblick, den ich wohl schon sehr oft gehabt hatte. Ich
spürte eine reine, freie Luft mich umgeben. Die Ursache davon war,
daß die Fenster des Zimmers in ihren oberen Teilen offen waren.
Diese oberen Teile konnten nicht nach Innen geöffnet werden, wie das
gewöhnlich der Fall ist, sondern waren nur zu verschieben, und zwar
so, daß einmal Glas in dem Rahmen vorgeschoben werden konnte, ein
anderes Mal ein zarter Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer
saß, war das Letztere der Fall. Die Luft konnte frei herein strömen,
Fliegen und Staub waren aber ausgeschlossen.

Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, sah ich
doch hierin nicht völlige Erklärung allein.

Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich
befand, hörte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hauses,
den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder
weniger in Zwischenräumen vernimmt. Diese Art Abwesenheit häuslichen
Geräusches verbarg allerdings die Nachbarschaft bewohnter Räume,
konnte aber eben so wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben.

Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hörte nehmlich
fast ununterbrochen, bald näher, bald ferner, bald leiser, bald lauter
vermischten Vogelgesang. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf diese
Wahrnehmung und erkannte bald, daß der Gesang nicht bloß von Vögeln
herrühre, die in der Nähe menschlicher Wohnungen hausen, sondern auch
von solchen, deren Stimme und Zwitschern mir nur aus den Wäldern und
abgelegenen Bebuschungen bekannt war. Dieses wenig auffallende, mir
aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der Tat nicht
gleich beachtete Getön mochte wohl die Hauptursache meiner Täuschung
gewesen sein, obwohl die Stille des Raumes und die reine Luft auch
mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieses gelegentliche
Vogelzwitschern achtete, fand ich wirklich, daß Töne sehr einsamer und
immer in tiefen Wäldern wohnender Vögel vorkamen. Es nahm sich dies
wunderlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus.

Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte
oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein großer Teil ihrer
Dunkelheit und mithin Annehmlichkeit verschwunden.

Wie ich nun so fortwährend auf den Vogelgesang merkte, fiel mir
sogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge ist und
schwüle Lüfte in dem Himmelsraume stocken, schweigen gewöhnlich die
Waldvögel. Ich erinnerte mich, daß ich in solchen Augenblicken oft in
den schönsten, dichtesten, entlegensten Wäldern nicht den geringsten
Laut gehört habe, etwa ein einmaliges oder zweimaliges Hämmern des
Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die
Landleute Gießvogel nennen. Aber selbst er schweigt, wenn das Gewitter
in unmittelbarer Annäherung ist. Nur bei den Menschen wohnende Vögel,
die das Gewitter fürchten wie er, oder solche, die im weiten Freien
hausen und vielleicht dessen majestätische Annäherung bewundern,
zeigen sein Bevorstehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken
Wolken eines heraufsteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauchgefieder
kreuzen gesehen und selbst schreien gehört, und so habe ich Lerchen
singend gegen die dunkeln Gewitterwolken aufsteigen gesehen. Das
Singen der Waldvögel erschien mir nun als ein schlimmes Zeichen für
meine Voraussagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, daß sich noch
immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für so
ferne gehalten hatte, als ich die Landstraße verließ. Die Sonne schien
noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden Lichttafeln lagen noch
immer auf dem schönen Fußboden des Zimmers.


Mein Beherberger schien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein
zu lassen, wahrscheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu
geben; denn er kam nicht so bald zurück, als ich nach seiner Äußerung
erwartet hatte.

Als ich eine geraume Weile gesessen war und das Sitzen anfing, mir
nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewähren wie Anfangs, stand ich
auf und ging auf den Fußspitzen, um den Boden zu schonen, zu dem
Büchergestelle, um die Bücher anzusehen. Es waren aber bloß beinahe
lauter Dichter. Ich fand Bände von Herder, Lessing, Goethe, Schiller,
Übersetzungen Shakespeares von Schlegel und Tieck, einen griechischen
Odysseus, dann aber auch etwas aus Ritters Erdbeschreibung, aus
Johannes Müllers Geschichte der Menschheit und aus Alexander und
Wilhelm Humboldt. Ich tat die Dichter bei Seite und nahm Alexander
Humboldts Reise in die Äquinoctialländer, die ich zwar schon kannte,
in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche
wieder zu meinem Sitze zurück.

Als ich nicht gar kurze Zeit gelesen hatte, trat mein Beherberger
herein.

Ich hatte, weil er so lange abwesend war, gedacht, er werde sich etwa
auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gast habe und
weil sein Anzug so gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen
Kleidern zurück, in welchen er vor mir an dem Gittertore gestanden
war.

Er entschuldigte sein Außenbleiben nicht, sondern sagte, ich möchte,
wenn ich ausgeruht hätte und es mir genehm wäre, zu speisen, ihm in
das Speisezimmer folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden.

Ich sagte, ausgeruht hätte ich schon, aber ich sei nur gekommen, um
Unterstand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weise, besonders in
Hinsicht von Speise und Trank, lästig zu fallen.

»Ihr fallt nicht lästig«, antwortete der Mann, »ihr müßt etwas zu
essen bekommen, besonders da ihr so lange da bleiben müßt, bis sich
die Sache wegen des Gewitters entschieden hat. Da schon Mittag vorüber
ist, wir aber genau mit der Mittagstunde des Tages zu Mittag essen und
von da bis zu dem Abendessen nichts mehr aufgetragen wird, so muß für
euch, wenn ihr nicht bis Abends warten sollet, besonders aufgetragen
werden. Solltet ihr aber sollen zu Mittag gegessen haben und bis
Abends warten wollen, so fordert es doch die Ehre des Hauses, daß euch
etwas geboten werde, ihr möget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir
daher in das Speisezimmer.«

Ich legte das Buch neben mich auf den Sitz und schickte mich an, zu
gehen.

Er aber nahm das Buch und legte es auf seinen Platz in dem
Büchergestelle.

»Verzeiht«, sagte er, »es ist bei uns Sitte, daß die Bücher, die auf
dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet oder sich
sonst aufhält, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann,
nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das
Zimmer die ihm zugehörige Gestalt behalte.«

Hierauf öffnete er die Tür und lud mich ein, in das mir bekannte
Speisezimmer voraus zu gehen.

Als wir in demselben angelangt waren, sah ich, daß in ausgezeichnet
schönen weißen Linnen gedeckt sei, und zwar nur ein Gedecke, daß sich
eingemachte Früchte, Wein, Wasser und Brot auf dem Tische befanden und
in einem Gefäße verkleinertes Eis war, es in den Wein zu tun. Mein
Ränzlein und meinen Schwarzdornstock sah ich nicht mehr, mein Hut aber
lag noch auf seinem Platze.

Mein Begleiter tat aus einer der Taschen seines Kleides ein, wie ich
vermutete, silbernes Glöcklein hervor und läutete. Sofort erschien
eine Magd und brachte ein gebratenes Huhn und schönen rot
gesprenkelten Kopfsalat.

Mein Gastherr lud mich ein, mich zu setzen und zu essen.

Da es so freundlich geboten war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich
schon einmal gegessen hatte, so war das vor dem Mittag gewesen, und
ich war durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoß daher von
dem Aufgesetzten.

Mein Beherberger setzte sich zu mir, leistete mir Gesellschaft, aß und
trank aber nichts.

Da ich fertig war und die Eßgeräte hingelegt hatte, bot er mir an,
wenn ich nicht zu müde sei, mich in den Garten zu führen.

Ich nahm es an.

Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Befehl zu geben, daß man
abräume, und führte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir
herein gekommen waren, sondern durch einen mit gewöhnlichen Steinen
gepflasterten in den Garten. Er hatte jetzt ein kleines Häubchen von
durchbrochener Arbeit auf seinen weißen Haaren, wie man sie gerne
Kindern aufsetzt, um ihre Locken gleichsam wie in einem Netze
einzufangen.

Als wir in das Freie kamen, sah ich, daß, während ich aß, die Sonne
auf das Haus zu scheinen aufgehört hatte, sie war von der Gewitterwand
überholt worden. Auf dem Garten sowie auf der Gegend lag der warme,
trockene Schatten, wie er bei solchen Gelegenheiten immer erscheint.
Aber die Gewitterwand hatte sich während meines Aufenthaltes in dem
Hause wenig verändert und gab nicht die Aussicht auf baldigen Ausbruch
des Regens.


Ein Umblick überzeugte mich sogleich, daß der Garten hinter dem Hause
sehr groß sei. Es war aber kein Garten, wie man sie gerne hinter
und neben den Landhäusern der Städter anlegt, nehmlich, daß man
unfruchtbare oder höchstens Zierfrüchte tragende Gebüsche und Bäume
pflegt und zwischen ihnen Rasen und Sandwege oder einige Blumenhügel
oder Blumenkreise herrichtet, sondern es war ein Garten, der mich an
den meiner Eltern bei dem Vorstadthause erinnerte. Es war da eine
weitläufige Anlage von Obstbäumen, die aber hinlänglich Raum ließen,
daß fruchtbare oder auch nur zum Blühen bestimmte Gesträuche
dazwischen stehen konnten und daß Gemüse und Blumen vollständig zu
gedeihen vermochten. Die Blumen standen teils in eigenen Beeten, teils
liefen sie als Einfriedigung hin, teils befanden sie sich auf eigenen
Plätzen, wo sie sich schön darstellten. Mich empfingen von jeher
solche Gärten mit dem Gefühle der Häuslichkeit und Nützlichkeit,
während die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken
und andererseits wahrhaftig auch kein Wald sind. Was zur Rosenzeit
blühen konnte, blühte und duftete, und weil eben die schweren Wolken
am Himmel standen, so war aller Duft viel eindringender und stärker.
Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin.

Nahe bei dem Hause befand sich ein Gewächshaus. Es zeigte uns aber
gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht seine Länge, sondern seine
Breite hin. Auch diese Breite, welche teilweise Gebüsche deckten, war
mit Rosen bekleidet und sah aus wie ein Rosenhäuschen im Kleinen.

Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten durch den Garten lief,
entlang. Er war Anfangs eben, zog sich aber dann sachte aufwärts.

Auch im Garten waren die Rosen beinahe herrschend. Entweder stand hie
und da auf einem geeigneten Platze ein einzelnes Bäumchen oder es
waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich
Abteilungen, wo sie gute Verhältnisse zum Gedeihen finden und sich dem
Auge angenehm darstellen konnten. Eine Gruppe von sehr dunkeln, fast
violetten Rosen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um
sie auszuzeichnen oder zu schützen. Alle Blumen waren wie die vor
dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verblühenden
erschienen in ihren Blättern noch kraftvoll und gesund.

Ich machte in Einsicht des letzten Umstandes eine Bemerkung.

»Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen gesehen«, sagte mein
Begleiter, »die in ihrer Jugend sehr schön gewesen waren und sich
lange kräftig erhalten haben? Sie gleichen diesen Rosen. Wenn sie
selbst schon unzählige kleine Falten in ihrem Angesichte haben, so
ist doch noch zwischen den Falten die Anmut herrschend und eine sehr
schöne, liebe Farbe.«

Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet hätte, und wir gingen
weiter.

Es waren außer den Rosen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von
Aurikeln standen an schattigen Orten. Sie waren wohl längst verblüht,
aber ihre starken grünen Blätter zeigten, daß sie in guter Pflege
waren. Hie und da stand eine Lilie an einer einsamen Stelle, und voll
entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an
dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren.
Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber die Knospen waren weit
vorgerückt und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die
auserwählten auf dem Schragen stehen; denn ich sah die Schule dieser
Pflanzen, als wir etwas weiter kamen, in langen, weithingehenden
Beeten angelegt. Sonst waren die gewöhnlichen Gartenblumen da, teils
in Beeten, teils auf kleinen, abgesonderten Plätzen, teils als
Einfassungen. Besonders schien sich auch die Levkoje einer Vorliebe
zu erfreuen, denn sie stand in großer Anzahl und Schönheit sowie in
vielen Arten da. Ihr Duft ging wohltuend durch die Lüfte. Selbst in
Töpfen sah ich diese Blume gepflegt und an zuträgliche Orte gestellt.
Was an Zwiebelgewächsen, Hyazinthen, Tulpen und dergleichen vorhanden
gewesen sein mochte, konnte ich nicht ermessen, da die Zeit dieser
Blumen längst vorüber war.

Auch die Zeit der Blütengesträuche war vorüber, und sie standen nur
mit ihren grünen Blättern am Wege oder an ihren Stellen.

Die Gemüse nahmen die weiten und größeren Räume ein. Zwischen ihnen
und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen
besonders gehegt, waren häufig aufgebunden und hatten Blechtäfelchen
zwischen sich, auf denen die Namen standen.

Die Obstbäume waren durch den ganzen Garten verteilt, wir gingen an
vielen vorüber. Auch an ihnen, besonders aber an den zahlreichen
Zwergbäumen, sah ich weiße Täfelchen mit Namen.

An manchen Bäumen erblickte ich kleine Kästchen von Holz, bald an dem
Stamme, bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staren
gerne solche Behälter, damit sie Ihr Nest in dieselben bauen. Die hier
befindlichen Behältnisse waren aber anderer Art. Ich wollte fragen,
aber in der Folge des Gespräches vergaß ich wieder darauf.

Da wir in dem Garten so fortgingen, hörte ich besonders aus seinem
bebuschten Teile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer
gehört hatte, nur hier deutlicher und heller.

Auch ein anderer Umstand fiel mir auf, da wir schon einen großen Teil
des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen
Raupenfraß. Während meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber
doch gesehen, obwohl er mir, da er nicht außerordentlich war und
keinen Obstmißwachs befürchten ließ, nicht besonders aufgefallen war.
Bei der Frische der Belaubung dieses Gartens fiel er mir wieder ein.
Ich sah das Laub deshalb näher an und glaubte zu bemerken, daß es
auch vollkommener sei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und
dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirschen und die kleinen
Äpfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor. Ich
betrachtete, durch diese Tatsache aufmerksam gemacht, nun auch den
Kohl genauer, der nicht weit von unserm Wege stand. An ihm zeigte
keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings genagt habe. Die
Blätter waren ganz und schön. Ich nahm mir vor, diese Beobachtung
gegen meinen Begleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen.


Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und
es begann Rasengrund, der steiler anstieg, Anfangs mit Bäumen besetzt
war, weiter oben aber kahl fortlief.

Wir stiegen auf ihm empor.

Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren und Bäume die Aussicht
nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig stehen, um den Himmel zu
betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter stand
nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, sondern jetzt überall. Wir
hörten auch entfernten Donner, der sich öfter wiederholte. Wir hörten
ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die
wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte seiner Sache sehr sicher
sein; denn ich sah, daß in dem Garten Arbeiter sehr eifrig an den
mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Wasser in die durch den Garten
laufenden Rinnen zu leiten und aus diesen in die Wasserbehälter.
Ich sah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Gießkannen in den
Wasserbehältern füllen und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete
ausstreuen. Ich war sehr begierig auf den Verlauf der Dinge, sagte
aber gar nichts, und mein Begleiter schwieg auch.

Wir gingen nach kurzem Stillstande auf dem Rasengrunde wieder weiter
aufwärts, und zuletzt ziemlich steil.

Endlich hatten wir die höchste Stelle erreicht und mit ihr auch das
Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwärts.
Auf diesem Platze stand ein sehr großer Kirschbaum, der größte Baum
des Gartens, vielleicht der größte Obstbaum der Gegend. Um den Stamm
des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier
Weltgegenden vor sich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend besehen
oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach
allen Richtungen des Himmels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß
ich diesen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen von der Straße
oder von anderen Stellen aus gesehen hatte. Er war wie ein dunkler,
ausgezeichneter Punkt erschienen, der die höchste Stelle der
Gegend krönte. Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze
Gebirgskette im Süden sehen, jetzt aber war nichts davon zu erblicken;
denn alles floß in eine einzige Gewittermasse zusammen. Gegen
Mitternacht erschien ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach
meiner Schätzung das Städtchen Landegg liegen mußte.

Wir setzten uns ein wenig auf das Bänklein. Es schien, daß man an
diesem Plätzchen niemals vorüber gehen konnte, ohne sich zu setzen und
eine kleine Umschau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum
abgetreten, daß der kahle Boden hervorsah, wie wenn ein Weg um den
Baum ginge. Man mußte sich daher gerne an diesem Platze versammeln.

Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, sah ich eine Gestalt aus
den nicht sehr entfernten Büschen und Bäumen hervortreten und gegen
uns empor gehen. Da sie etwas näher gekommen war, erkannte ich, daß
es ein Gemische von Knabe und Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen
können, der Ankommende sei ganz ein Jüngling, und zuweilen, er sei
noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und weißgestreiftes Leinenzeug
als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch
nichts als eine dichte Menge brauner Locken.

Da er herzugekommen war, sagte er: »Ich sehe, daß du mit einem fremden
Manne beschäftigt bist, ich werde dich also nicht stören und wieder in
den Garten hinab gehen.«

»Tue das«, sagte mein Begleiter.

Der Knabe machte eine schnelle und leichte Verbeugung gegen mich,
wendete sich um und ging in derselben Richtung wieder zurück, in der
er gekommen war.

Wir blieben noch sitzen.

Am Himmel änderte sich indessen wenig. Dieselbe Wolkendecke stand da,
und wir hörten denselben Donner. Nur da die Decke dunkler geworden zu
sein schien, so wurde jetzt zuweilen auch ein Blitz sichtbar.

Nach einer Zeit sagte mein Begleiter. »Eure Reise hat wohl nicht einen
Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem
Tage oder von einigen Tagen gestört würde.«

»Es ist so, wie ihr gesagt habt«, antwortete ich, »mein Zweck ist,
soweit meine Kräfte reichen, wissenschaftliche Bestrebungen zu
verfolgen und nebenbei, was ich auch nicht für unwichtig halte, das
Leben in der freien Natur zu genießen.«

»Dieses Letzte ist in der Tat auch nicht unwichtig«, versetzte mein
Nachbar, »und da ihr euren Reisezweck bezeichnet habt, so werdet ihr
gewiß einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu
reisen, sondern die Nacht in meinem Hause zuzubringen. Wünschet ihr
dann am morgigen Tage und an mehreren darauf folgenden noch bei mir zu
verweilen, so steht es nur bei euch, so zu tun.«

»Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange angedauert hätte, doch
heute noch nach Rohrberg gehen«, sagte ich. »Da ihr aber auf eine so
freundliche Weise gegen einen unbekannten Reisenden verfahrt, so sage
ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hause zuzubringen und bin
euch dafür dankbar. Was morgen sein wird, darüber kann ich noch nicht
entscheiden, weil das Morgen noch nicht da ist.«

»So haben wir also für die kommende Nacht abgeschlossen, wie ich
gleich gedacht habe«, sagte mein Begleiter, »ihr werdet wohl bemerkt
haben, daß euer Ränzlein und euer Wanderstock nicht mehr in dem
Speisezimmer waren, als ihr zum Essen dahin kamet.«

»Ich habe es wirklich bemerkt«, antwortete ich.

»Ich habe beides in euer Zimmer bringen lassen«, sagte er, »weil
ich schon vermutete, daß ihr diese Nacht in unserm Hause zubringen
würdet.«



Die Beherbergung

Nach einer Weile sagte mein Gastfreund: »Da ihr nun meine
Nachtherberge angenommen habt, so könnten wir von diesem Baume auch
ein wenig in das Freie gehen, daß ihr die Gegend besser kennen
lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen sollte, so kennen wir
wohl beide die Anzeichen genug, daß wir rechtzeitig umkehren, um
ungefährdet das Haus zu erreichen.«

»So kann es geschehen«, sagte ich, und wir standen von dem Bänkchen
auf.

Einige Schritte hinter dem Kirschbaume war der Garten durch eine
starke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieser Planke
gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schlüssel aus der Tasche,
öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus und er schloß hinter uns das
Pförtchen wieder zu.

Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verschiedensten
Getreide standen. Die Getreide, welche sonst wohl bei dem geringsten
Luftzuge zu wanken beginnen mochten, standen ganz stille und
pfeilrecht empor, das feine Haar der Ähren, über welches unsere Augen
streiften, war gleichsam in einem unbeweglichen goldgrünen Schimmer.

Zwischen dem Getreide lief ein Fußpfad durch. Derselbe war breit und
ziemlich ausgetreten. Er ging den Hügel entlang, nicht steigend und
nicht sinkend, so daß er immer auf dem höchsten Teile der Anhöhe
blieb. Auf diesem Pfade gingen wir dahin.

Zu beiden Seiten des Weges stand glühroter Mohn in dem Getreide, und
auch er regte die leichten Blätter nicht.

Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber dieses war gleichsam eine
andere Stille und erhöhte die Erwartung, die aller Orten war. Durch
die über den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein
tiefes Donnern, und ein blasser Blitz lüftete zeitweilig ihr Dunkel.

Mein Begleiter ging ruhig neben mir und strich manchmal sachte mit der
Hand an den grünen Ähren des Getreides hin. Er hatte sein Netz von den
weißen Haaren abgenommen, hatte es in die Tasche gesteckt und trug
sein Haupt unbedeckt in der milden Luft,

Unser Weg führte uns zu einer Stelle, auf welcher kein Getreide stand.
Es war ein ziemlich großer Platz, der nur mit sehr kurzem Grase
bedeckt war. Auf diesem Platze befand sich wieder eine hölzerne Bank
und eine mittelgroße Esche.

»Ich habe diesen Fleck freigelassen, wie ich ihn von meinen Vorfahren
überkommen hatte«, sagte mein Begleiter, »obwohl er, wenn man ihn
urbar machte und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren eine
nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe. Die Arbeiter halten hier
ihre Mittagsruhe und verzehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf
das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen lassen, weil ich
auch gerne da sitze, wäre es auch nur, um den Schnittern zuzuschauen
und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte
Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des
Bestehenden und immer Gesehenen. Hier dürfte es aber mehr sein,
weshalb die Stelle unbebaut blieb und der Baum auf derselben steht.
Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der
einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie
roh sind, achten gewiß auch auf die Aussicht, die man hier genießt.
Setzt euch nur zu mir nieder und betrachtet das Wenige, was uns heute
der verschleierte Himmel gönnt.«

Wir setzten uns auf die Bank unter der Esche, so daß wir gegen Mittag
schauten. Ich sah den Garten wie einen grünen Schoß schräg unter mir
liegen.

An seinem Ende sah ich die weiße mitternächtliche Mauer des Hauses und
über der weißen Mauer das freundliche rote Dach. Von dem Gewächshause
war nur das Dach und der Schornstein ersichtlich.

Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen
wegen des blauen Wolkenschattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen
Morgen stand der weiße Turm von Rohrberg und gegen Abend war Getreide
an Getreide, zuerst auf unserm Hügel, dann jenseits desselben auf
dem nächsten Hügel und so fort, so weit die Hügel sichtbar waren.
Dazwischen zeigten sich weiße Meierhöfe und andere einzelne Häuser
oder Gruppen von Häusern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von
Obstbäumen zwischen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe von
Häusern oder Dörfern standen diese Bäume dichter, gleichsam wie in
Wäldchen, beisammen. Ich fragte meinen Nachbar teils nach den Häusern,
teils nach dein Besitzern der Felder.

»Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnenuntergang hin bis zu der
ersten Zeile von Obstbäumen sind unser«, sagte mein Begleiter. »Die
wir von dem Kirschbaum bis hieher durchwandert haben, gehören auch
uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die ihr da unten
seht, welche unsere Wirtschaftsgebäude sind. Gegen Mitternacht
erstrecken sie sich, wenn ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit
den Erlenbüschen. Die Wiesen gehören auch uns und machen dort die
Grenze unserer Besitzungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur
Einfriedigung von Weißdorn, wo ihr die Straße verlassen habt. Ihr
könnt also sehen, daß ein nicht ganz geringer Teil dieses Hügels von
unserm Eigentume bedeckt ist. Wir sind von diesem Eigentume umringt
wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht.«

Mir fiel bei diesen Worten auf, daß er vom Eigentume immer die
Ausdrücke uns und unser gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine
Gattin oder auch Kinder einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich
im Heraufgehen gesehen hatte, vielleicht ist dieser ein Sohn von ihm.

»Der Rest des Hügels ist an drei Meierhöfe verteilt«, schloß er seine
Rede, »welche unsere nächsten Nachbarn sind. Von den Niederungen
an, die um den Hügel liegen, und jenseits welcher das Land wieder
aufsteigt, beginnen unsere entfernteren Nachbarn.«

»Es ist ein gesegnetes, ein von Gott beglücktes Land«, sagte ich.

»Ihr habt recht gesprochen«, erwiderte er, »Land und Halm ist eine
Wohltat Gottes. Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum,
welch ein unermeßlicher Wert in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal
von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem
unserem sonstigen Reichtume vor Hunger. Wer weiß, ob die heißen Länder
nicht so dünn bevölkert sind und das Wissen und die Kunst nicht so
tragen wie die kälteren, weil sie kein Getreide haben. Wie viel selbst
dieser kleine Hügel gibt, würdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal
die Mühe genommen, die Fläche dieses Hügels, soweit sie Getreideland
ist, zu messen, um auf der Grundlage der Erträgnisse unserer
Felder und der Erträgnisfähigkeit der Felder der Nachbarn, die ich
untersuchte, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zu machen, welche
Getreidemenge im Durchschnitte jedes Jahr auf diesem Hügel wächst.

Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe sie mir vorher
nicht so groß vorgestellt. Wenn es euch genehm ist, werde ich euch die
Arbeit in unserem Hause zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide
gehöre auch zu jenen unscheinbaren, nachhaltigen Dingen dieses Lebens
wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht
weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist und uns beide überall
umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche
Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Überall, wo Völker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen
auftreten und vernünftige Staatseinrichtungen haben, finden wir
sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockeren
Gesellschaftsbanden, aber vereint mit seiner Herde lebt, da sind es
zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren
Verwandten, die Gräser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten.
- Aber verzeiht, daß ich da so von Gräsern und Getreiden rede, es ist
natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne und auf ihren Segen erst
in meinem Alter mehr achten lernte.«

»Ich habe nichts zu verzeihen«, erwiderte ich; »denn ich teile eure
Ansicht über das Getreide vollkommen, wenn ich auch ein Kind der
großen Stadt bin. Ich habe diese Gewächse viel beachtet, habe darüber
gelesen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und
habe, seit ich einen großen Teil des Jahres in der freien Natur
zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einsehen gelernt.«

»Ihr würdet es erst recht«, sagte er, »wenn ihr Besitztümer hättet
oder auf euren Besitztümern euch mit der Pflege dieser Pflanzen
besonders abgäbet.«

»Meine Eltern sind in der Stadt«, antwortete ich, »mein Vater treibt
die Kaufmannschaft, und außer einem Garten besitzt weder er noch ich
einen liegenden Grund.«

»Das ist von großer Bedeutung«, erwiderte er, »den Wert dieser
Pflanzen kann keiner vollständig ermessen, als der sie pflegt.«


Wir schwiegen nun eine Weile.

Ich sah an seinen Wirtschaftsgebäuden Leute beschäftigt. Einige gingen
an den Toren ab und zu, in häuslichen Arbeiten begriffen, andere
mähten in einer nahen Wiese Gras und ein Teil war bedacht, das im
Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbeladenen Wägen durch die Tore
einzufahren. Ich konnte wegen der großen Entfernung das Einzelne der
Arbeiten nicht unterscheiden, so wie ich die eigentliche Bauart und
die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahrnehmen konnte.

»Was ihr von den Häusern und den Besitzern der Felder gesagt habt, daß
ich sie euch nennen soll«, fuhr er nach einer Weile fort, »so hat dies
seine Schwierigkeit, besonders heute. Man kann zwar von diesem Platze
aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel
umschleiert ist, sehen wir nicht nur das Gebirge nicht, sondern es
entgeht uns auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der Wohnungen
bezeichnet, von denen ich sprechen möchte. Anderen Teils sind euch die
Leute unbekannt. Ihr solltet eigentlich in der Gegend herumgewandert
sein, in ihr gelebt haben, daß sie zu eurem Geiste spräche und ihr die
Bewohner verstündet. Vielleicht kommt ihr wieder und bleibt länger bei
uns, vielleicht verlängert ihr euren jetzigen Aufenthalt. Indessen
will ich euch im Allgemeinen etwas sagen und von Besonderem
hinzufügen, was euch ansprechen dürfte. Ich besuche auch meiner
Nachbarn willen gerne diesen Platz; denn außerdem, daß hier auf der
Höhe selbst an den schönsten Tagen immer ein kühler Luftzug geht,
außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier
aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein,
und ich ermesse, wie ich ihnen nützen kann oder wie überhaupt das
Allgemeine gefördert werden möge. Sie sind im Ganzen ungebildete, aber
nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt und nicht
vorschnell in eine andere zwingen will. Sie sind dann meist auch
gutartig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen und
ihnen manchen äußeren Vorteil verschafft. Sie ahmen nach, wenn sie
etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft
haben sie mich zuerst verlacht und endlich dann doch nachgeahmt. In
Vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch
meine Felder ist ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich
auf der Bank sitze, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich erteile
ihm Rat, und ich lerne aus seinen Worten. Meine Felder sind bereits
ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das
ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung. Nur die
Wiese, welche sich hinter unserem Rücken befindet, tiefer als die
Felder liegt und von einem kleinen Bache bewässert wird, habe ich
nicht so verbessern können, wie ich wollte; sie ist noch durch die
Erlengesträuche und durch die Erlenstöcke verunstaltet, die sich
am Saume des Bächleins befinden und selbst hie und da Sumpfstellen
veranlassen; aber ich kann die Sache im Wesentlichen nicht abändern,
weil ich die Erlengesträuche und Erlenstöcke zu anderen Dingen
notwendig brauche.«

Um meine Frage nach dem Einzelnen seiner Nachbarn zu unterbrechen, die
er, wie ich jetzt einsah, nicht beantworten konnte, wenigstens nicht,
wie sie gestellt war, fragte ich ihn, ob denn zu seinem Anwesen nicht
auch Waldgrund gehöre.

»Allerdings«, antwortete er, »aber derselbe liegt nicht so nahe, als
es der Bequemlichkeit wegen wünschenswert wäre; aber er liegt auch
entfernt genug, daß die Schönheit und Anmut dieses Getreidehügels
nicht gestört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen
wäret, statt zu unserem Hause heraufzusteigen, so würdet ihr nach
einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Straße die
Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben, um welche die Straße herum
geht. Diese Ecke erhebt sich rasch, erweitert sich nach rückwärts,
wohin man von der Straße nicht sehen kann, und gehört einem Walde an,
der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein großes
Stück sehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerste
steht.«

»Ich kenne den Wald recht gut«, sagte ich, »er schlingt sich um eine
Höhe und berührt die Straße nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn
betritt, lernt man seine Größe kennen. Es ist der Alizwald. Er hat
mächtige Buchen und Ahorne, die sich unter die Tannen mischen. Die
Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz stehen beiderseits hohe
Felsen mit seltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein
Streifen Landes mit den allerstärksten Buchen talwärts.«

»Ihr kennt den Wald«, sagte er.

»Ja«, erwiderte ich, »ich bin schon in ihm gewesen. Ich habe dort die
größte Doppelbuche gezeichnet, die ich je gesehen, ich habe Pflanzen
und Steine gesammelt und die Felsenlagen betrachtet.«

»Jener Waldstreifen, der mit den starken Buchen bestanden ist, und
noch mehreres Land jenes Waldes gehört zu diesem Anwesen«, sagte mein
Beherberger. »Es ist weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel
unser, auf dem stellenweise die Birke sehr verkrüppelt vorkommt,
welche zum Brennen wenig taugt, aber Holz zu feinen Arbeiten gibt.«

»Ich kenne den Bühel auch«, sagte ich, »dort geht der Granit zu Ende,
aus dem der ganze mitternächtliche Teil unseres Landes besteht, und
es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den
höchsten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagseite macht.«

»Ja, der Bühel ist der südlichste Granitblock«, sagte mein Begleiter,
»er übersetzt sogar die Wässer. Wir können hier trotz des Duftes
der Wolken hie und da die Grenze sehen, in der sich der Granit
abschneidet.«

»Dort ist die Klamspitze«, sagte er, »die noch Granit hat, rechts der
Gaisbühl, dann die Asser, der Losen und zuletzt die Grumhaut, die noch
zu sehen ist.«

Ich stimmte in allem bei.


Der Abend kam indessen immer näher und näher, und der Nachmittag war
bedeutend vorgerückt.

Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich besonders merkwürdig
geworden.

Ich hatte den Ausbruch desselben, als ich den Hügel zu dem weißen
Hause empor stieg, um eine Unterkunft zu suchen, in kurzer Zeit
erwartet; und nun waren Stunden vergangen und es war noch immer
nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel stand es unbeweglich. Die
Wolkendecke war an manchen Stellen fast finster geworden und Blitze
zuckten aus diesen Stellen bald höher, bald tiefer hervor. Der Donner
folgte in ruhigem, schwerem Rollen auf diese Blitze; aber in der
Wolkendecke zeigte sich kein Zusammensammeln zu einem einzigen
Gewitterballen, und es war kein Anschicken zu einem Regen.

Ich sagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Männer
zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die
Wirtschaftsgebäude lagen, Gras machten: »Diese scheinen auch auf kein
Gewitter und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgigen Tag
zu rechnen, weil sie jetzt Gras mähen, das ihnen in der Nacht ein
tüchtiger Regen durchnässen oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu
trocknen kann.«

»Diese wissen gar nichts von dem Wetter«, sagte mein Begleiter, »und
sie mähen das Gras nur, weil ich es so angeordnet habe.«

Das waren die einzigen Worte, die er über das Wetter gesprochen hatte.
Ich veranlaßte ihn auch nicht zu mehreren.

Wir gingen von diesem Feldersitze, auf dem wir nun schon eine Weile
gesessen waren, nicht mehr weiter von dem Hause weg, sondern, nachdem
wir uns erhoben hatten, schlug mein Begleiter wieder den Rückweg ein.

Wir gingen auf demselben Wege zurück, auf dem wir gekommen waren.

Die Donner erschallten nun sogar lauter und verkündeten sich bald an
dieser Stelle des Himmels, bald an jener.

Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das
Pförtchen hinter sich geschlossen hatte, und als wir von dem großen
Kirschbaume bereits abwärts gingen, sagte er zu mir: »Erlaubt, daß ich
nach dem Knaben rufe und ihm etwas befehle.«

Ich stimmte sogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebüsches:
»Gustav!«

Der Knabe, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, kam fast an der
nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorscheine, an welcher er früher
herausgetreten war. Da er jetzt länger vor uns stehen blieb, konnte
ich ihn genauer betrachten. Sein Angesicht erschien mir sehr rosig
und schön, und besonders einnehmend zeigten sich die großen schwarzen
Augen unter den braunen Locken, die ich schon früher beobachtet hatte.

»Gustav«, sagte mein Begleiter, »wenn du noch an deinem Tische oder
sonst irgendwo in dem Garten bleiben willst, so erinnere dich an das,
was ich dir über Gewitter gesagt habe. Da die Wolken über den ganzen
Himmel stehen, so weiß man nicht, wann überhaupt ein Blitz auf die
Erde niederfährt und an welcher Stelle er sie treffen wird. Darum
verweile unter keinem höheren Baume. Sonst kannst du hier bleiben,
wie du willst. Dieser Herr bleibt heute bei uns, und du wirst zur
Abendspeisestunde in dem Speisezimmer eintreffen.«

»Ja«, sagte der Knabe, verneigte sich und ging wieder auf einem
Sandwege in die Gesträuche des Gartens zurück.

»Dieser Knabe ist mein Pflegesohn«, sagte mein Begleiter, »er ist
gewohnt, zu dieser Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen,
darum kam er, da wir bei dem Kirschbaume saßen, von seinem
Arbeitstische, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu suchen;
allein da er sah, daß ein Fremder da sei, ging er wieder an seine
Stelle zurück.«

Mir, der ich mich an den einfachen, folgerichtigen Ausdruck gewöhnt
hatte, fiel es jetzt abermals auf, daß mein Begleiter, der, wenn er
von seinen Feldern redete, fast immer den Ausdruck unser gebraucht
hatte, nun, da er von seinem Pflegesohne sprach, den Ausdruck mein
wählte, da er doch, wenn er etwa seine Gattin einbezog, jetzt auch das
Wort unser gebrauchen sollte.


Als wir von dem Rasengrunde hinab gekommen waren und den bepflanzten
Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege
zurück als auf dem wir herauf gegangen waren.

Auf diesem Wege sah ich nun, daß der Besitzer des Gartens auch
Weinreben in demselben zog, obwohl das Land der Pflege dieses
Gewächses nicht ganz günstig ist. Es waren eigene dunkle Mauern
aufgeführt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet
wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag
allein waren die Stellen offen. So sammelte er die Hitze und gewährte
Schutz. Auch Pfirsiche zog er auf dieselbe Weise, und aus den Blättern
derselben schloß ich auf sehr edle Gattungen.

Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und in ihrer Nähe erblickte
ich ein Bienenhaus.

Von dem Gewächshause sah ich auf dem Rückwege wohl die Längenseite,
konnte aber nichts Näheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu
ihm nicht einschlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum ersuchen:
ich vermutete, daß er mich zu seiner Familie führen würde.

Da wir an dem Hause angekommen waren, geleitete er mich bei dem
gemeinschaftlichen Eingange desselben hinein, führte mich über eine
gewöhnliche Sandsteintreppe in das erste Stockwerk und ging dort mit
mir einen Gang entlang, in dem viele Türen waren. Eine derselben
öffnete er mit einem Schlüssel, den er schon in seiner Tasche in
Bereitschaft hatte, und sagte: »Das ist euer Zimmer, solange ihr in
diesem Hause bleibt. Ihr könnt jetzt in dasselbe eintreten oder es
verlassen, wie es euch gefällt. Nur müsset ihr um acht Uhr wieder da
sein, zu welcher Stunde ihr zum Abendessen werdet geholt werden. Ich
muß euch nun allein lassen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in
Humboldts Reisen gelesen, ich habe das Buch in dieses Zimmer legen
lassen. Wünschet ihr für jetzt oder für den Abend noch irgend ein
Buch, so nennt es, daß ich sehe, ob es in meiner Büchersammlung
enthalten ist.«

Ich lehnte das Anerbieten ab und sagte, daß ich mit dem Vorhandenen
schon zufrieden sei, und wenn ich mich außer Humboldt mit noch andern
Buchstaben beschäftigen wolle, so habe ich in meinem Ränzchen schon
Vorrat, um teils etwas mit Bleifeder zu schreiben, teils früher
Geschriebenes durchzulesen und zu verbessern, welche Beschäftigung ich
auf meinen Wanderungen häufig Abends vornehme.

Er verabschiedete sich nach diesen Worten, und ich ging zur Tür
hinein.

Ich übersah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewöhnliches
Fremdenzimmer, wie man es in jedem größeren Hause auf dem Lande hat,
wo man zuweilen in die Lage kömmt, Herberge erteilen zu müssen. Die
Geräte waren weder neu, noch nach der damals herrschenden Art gemacht,
sondern aus verschiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge
fallend. Die Überzüge der Sessel und des Ruhebettes waren gepreßtes
Leder, was man damals schon selten mehr fand. Eine gesellige Zugabe,
die man nicht häufig in solchen Zimmern findet, war eine altertümliche
Pendeluhr in vollem Gange. Mein Ränzlein und mein Stock lagen, wie der
Mann gesagt hatte, schon in diesem Zimmer.

Ich setzte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Ränzlein, öffnete
es und blätterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen
hatte, und schrieb gelegentlich in denselben.

Da endlich die Dämmerung gekommen war, stand ich auf, ging gegen eines
der beiden offenstehenden Fenster, lehnte mich hinaus und sah herum.
Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem sachte hinabgehenden
Hügel erblickte. Am Morgen dieses Tages, da ich von meiner
Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich
gesehen; aber dasselbe war in einem lustigen Wogen begriffen gewesen,
während dieses reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren
Lanzen. Vor dem Hause war der Sandplatz, den ich bei meiner Ankunft
schon gesehen und betreten hatte. Meine Fenster gingen also auf der
Seite der Rosenwand heraus. Von dem Garten tönte noch schwaches
Vogelgezwitscher herüber, und der Duft von den Tausenden der Rosen
stieg wie eine Opfergabe zu mir empor.

An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte
sich eine Veränderung eingefunden. Die Wolkendecke war geteilt, die
Wolken standen in einzelnen Stücken gleichsam wie Berge an dem Gewölbe
herum, und einzelne reine Teile blickten zwischen ihnen heraus. Die
Blitze aber waren stärker und häufiger, die Donner klangen heller und
kürzer.


Als ich eine Weile bei dem Fenster hinaus gesehen hatte, hörte ich ein
Pochen an meiner Tür, eine Magd trat herein und meldete, daß man mich
zum Abendessen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tischchen, das
neben meinem Bette stand, legte den Humboldt darauf und folgte der
Magd, nachdem ich die Tür hinter mir gesperrt hatte. Sie führte mich
in das Speisezimmer.

Bei dem Eintritte sah ich drei Personen: den alten Mann, der mit mir
den Spaziergang gemacht hatte, einen andern, ebenfalls ältlichen Mann,
der durch nichts besonders auffiel als durch seine Kleidung, welche
einen Priester verriet, und den Pflegesohn des Hausbesitzers in seinem
blaugestreiften Linnengewande.

Der Herr des Hauses stellte mich dem Priester vor, indem er sagte:
»Das ist der hochwürdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter
fürchtet und deshalb diese Nacht in unserm Hause zubringen wird«, und
dann auf mich weisend fügte er bei: »Das ist ein fremder Reisender,
der auch heute unser Dach mit uns teilen wird.«

Nach diesen Worten und nach einem kurzen stummen Gebete setzten wir
uns zu dem Tische an unsere angewiesenen Plätze. Das Abendessen war
sehr einfach. Es bestand aus Suppe, Braten und Wein, zu welchem, wie
zu dem an meinem Mittagsmahle, verkleinertes Eis gestellt wurde.
Dieselbe Magd, welche mir mein Mittagessen gebracht hatte, bediente
uns. Ein männlicher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und
mein Gastfreund sprachen öfter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich
ward gelegentlich einbezogen, wenn es sich um Allgemeineres handelte.
Der Knabe sprach gar nicht.

Die Dunkelheit des Abends wurde endlich so stark, daß die Kerzen,
welche früher mit der Dämmerung gekämpft hatten, nun vollkommen die
Herrschaft behaupteten, und die schwarzen Fenster nur zeitweise durch
die hereinleuchtenden Blitze erhellt wurden.

Da das Essen beendet war und wir uns zur Trennung anschickten, sagte
der Hauswirt, daß er den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in
unser Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachskerze, die
uns angezündet von der Magd gereicht wurde, während dessen sich der
Knabe Gustav empfahl und durch die gewöhnliche Tür entfernte. Der
Hauseigentümer führte uns bei der Tür hinaus, bei der ich zuerst
herein gekommen war. Wir befanden uns draußen in dem schönen
Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporführte. Wir
durften die Filzschuhe nicht anziehen, weil jetzt über den Gang und
die Treppe ein Tuchstreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der
Treppe, wo sie einen Absatz machte, gleichsam einen erweiterten Platz
oder eine Stiegenhalle, stand eine Gestalt aus weißem Marmor auf einem
Gestelle. Durch ein paar Blitze, die eben jetzt fielen und das Haupt
und die Schultern der Marmorgestalt noch röter beschienen, als es
unsere Kerzen konnten, ersah ich, daß der Platz und die Treppe von
oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten.

Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete sich der
Hauswirt mit uns durch eine Tür links, und wir befanden uns in jenem
Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gastzimmer, wie
ich nun zu erkennen vermeinte. Unser Gastfreund bezeichnete eines als
das des Pfarrers und führte mich zu dem meinigen.

Als wir in dasselbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner
Bequemlichkeit noch etwas wünsche, besonders, ob mir Bücher aus seinem
Bücherzimmer genehm wären.

Als ich sagte, daß ich keinen Wunsch habe und bis zum Schlafen schon
Beschäftigung finden würde, antwortete er: »Ihr seid in eurem Gemache
und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl.«

»Ich wünsche euch auch eine gute Nacht«, erwiderte ich, »und sage euch
Dank für die Mühe, die ihr heute mit mir gehabt habet.«

»Es war keine Mühe«, antwortete er, »denn sonst hätte ich sie mir ja
ersparen können, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen hätte.«

»So ist es«, antwortete ich.

»Erlaubt«, sagte er, indem er ein kleines Wachskerzchen hervorzog und
an meinem Lichte anzündete.

Nachdem er dieses Geschäft vollbracht hatte, verbeugte er sich, was
ich erwiderte, und ging auf den Gang hinaus.


Ich schloß hinter ihm die Tür, legte meinen Rock ab und lüftete mein
Halstuch, weil, obgleich es schon spät war, die ruhige Nacht noch
immer eine große Hitze und Schwüle in sich hegte. Ich ging einige
Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenster, lehnte mich
hinaus und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die
noch immer hell leuchtenden Blitze erkennen ließen, war die Gestalt
der Dinge dieselbe, wie sie am Abend vor dem Speisen gewesen war.
Wolkentrümmer standen an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren
zwischen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Blitz aus ihnen über
den Getreidehügel und die Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner
rollte ihm nach.

Als ich eine Weile die freie Luft genossen hatte, schloß ich mein
Fenster, schloß auch das andere und begab mich zur Ruhe.

Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in
dem Bette gelesen und mitunter sogar mit Bleifeder etwas in meine
Schriften geschrieben hatte, löschte ich das Licht aus und richtete
mich zum Schlafen.

Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing, hörte ich noch, wie sich
draußen ein Wind erhob und die Wipfel der Bäume zu starkem Rauschen
bewegte. Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu ermannen,
sondern entschlief gleich darauf völlig.

Ich schlief recht ruhig und fest.

Als ich erwachte, war mein Erstes, zu sehen, ob es geregnet habe. Ich
sprang aus dem Bette und riß die Fenster auf. Die Sonne war bereits
aufgegangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen rührte sich,
aus dem Garten tönte das Schmettern der Vögel, die Rosen dufteten und
die Erde zu meinen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand war
ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Rasens gefegt worden, und
ein Mann war beschäftigt, ihn wieder zu ebnen und in ein gehöriges
Gleichgewicht zu bringen.

Also hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu
erfahren, aus welchen Gründen er seine Gewißheit, die er so sicher
gegen mich behauptet hatte, geschöpft und wie er diese Gründe entdeckt
und erforscht habe.

Um das recht bald zu erfahren und meine Abreise nicht so lange zu
verzögern, beschloß ich, mich anzukleiden und meinen Gastherrn
ungesäumt aufzusuchen.

Als ich mit meinem Anzuge fertig, war und mich in das Speisezimmer
hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu
dem Frühmahle beschäftigt und fragte nach dem Herrn.

»Er ist in dem Garten auf der Fütterungstenne«, sagte sie.

»Und wo ist die Fütterungstenne, wie du es nennst?« sprach ich.

»Gleich hinter dem Hause und nicht weit von den Glashäusern«,
erwiderte sie.

Ich ging hinaus und schlug die Richtung gegen das Gewächshaus ein.

Vor demselben fand ich meinen Gastfreund auf einem Sandplatze. Es war
derselbe Platz, von dem aus ich schon gestern das Gewächshaus mit
seiner schmalen Seite und dem kleinen Schornsteine gesehen hatte.
Diese Seite war mit Rosen bekleidet, daß das Haus wie ein zweites,
kleines Rosenhäuschen hervor sah. Mein Gastfreund war in einer
seltsamen Beschäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand sich vor
ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem
Korbdeckel in der Hand und streuete aus demselben Futter unter die
Vögel. Er schien sich daran zu ergötzen, wie sie pickten, sich
überkletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättigten davon
flogen und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun endlich,
daß außer den gewöhnlichen Gartenvögeln auch solche da waren, die mir
sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie
erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuten
mußte. Sie trauten ihm vollkommen. Er stand wieder barhäuptig da, so
daß es mir schien, daß er diese Sitte liebe, da er auch gestern auf
dem Spaziergange seine so leichte Kopfbedeckung eingesteckt hatte.
Seine Gestalt war vorgebeugt und die schlichten, aber vollen weißen
Haare hingen an seinen Schläfen herab. Sein Anzug war auch heute
wieder sonderbar. Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis
auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die
Brust und den Rücken hinab einen rötlichbraunen Streifen, der fast
einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen
verfertigt worden, einem weißen und einem roten. Beide Stoffe aber
zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblichbraun und das
Rot zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke sah eine unscheinbare
Fußbekleidung hervor, die mit Schnallenschuhen endete.

Ich blieb hinter seinem Rücken in ziemlicher Entfernung stehen, um ihn
nicht zu stören und die Vögel nicht zu verscheuchen.

Als er aber seinen Korb geleert hatte und seine Gäste fortgeflogen
waren, trat ich näher. Er hatte sich eben umgewendet, um
zurückzugehen, und da er mich erblickte, sagte er: »Seid ihr schon
ausgegangen? Ich hoffe, daß ihr gut geschlafen habt.«

»Ja, ich habe sehr gut geschlafen«, erwiderte ich, »ich habe noch den
Wind gehört, der sich gestern Abends erhoben hat, was weiter geschehen
ist, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken ist
und daß ihr Recht gehabt habet.«

»Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf diese Gegend vom Himmel
gefallen ist«, antwortete er.

»Wie das Aussehen der Erde zeigt, glaube ich es auch«, erwiderte ich;
»aber nun müßt ihr mir auch wenigstens zum Teile sagen: woher ihr
dies so gewiß wissen konntet und wie ihr euch diese Kenntnis erworben
habt; denn das müßt ihr zugestehen, daß sehr viele Zeichen gegen euch
waren.«

»Ich will euch etwas sagen«, antwortete er, »die Darlegung der Sache,
die ihr da verlangt, dürfte etwas lang werden, da ich sie euch, der
sich mit Wissenschaften beschäftigt, doch nicht oberflächlich geben
kann: verspreche mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns
zuzubringen, da kann ich euch nicht nur dieses sagen, sondern noch
vieles Andere, ihr könnt Verschiedenes anschauen, und ihr könnt mir
von eurer Wissenschaft erzählen.«

Dieses offen und freundlich gemachte Anerbieten konnte ich nicht
ausschlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen,
sondern mehrere Tage zu einer Nebenbeschäftigung zu verwenden. Ich
gebrauchte daher die gewöhnliche Redeweise von Nichtlästigfallenwollen
und sagte unter dieser Bedingung zu.

»Nun so geht mit mir zuerst zu einem Frühmahle, das ich mit euch
teilen will«, sagte er, »der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns schon
vor Tagesanbruch verlassen, um zu rechter Zeit in seiner Kirche zu
sein, und Gustav ist bereits zu seiner Arbeit gegangen.«

Mit diesen Worten wendeten wir uns auf den Rückweg zu dem Hause. Als
wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs für einen
Korbdeckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochtenes, sehr
flaches und längliches Fütterungskörbchen war, einer Magd, daß sie es
auf seinen Platz lege, und wir gingen in das Speisezimmer.

Während des Frühmahles sagte ich: »Ihr habt selbst davon gesprochen,
daß ich hier Verschiedenes anschauen könne, wäre es denn zu
unbescheiden, wenn ich bäte, von dem Hause und dessen Umgebung Manches
näher besehen zu dürfen. Es ist eine der lieblichsten Lagen, in der
dieses Anwesen liegt, und ich habe bereits so Vieles davon gesehen,
was meine Aufmerksamkeit aufregte, daß der Wunsch natürlich ist, noch
Mehreres besehen zu dürfen.«

»Wenn es euch Vergnügen macht, unser Haus und einiges Zubehör zu
besehen«, antwortete er, »so kann das gleich nach dem Frühmahle
geschehen, es wird nicht viele Zeit in Anspruch nehmen, da das Gebäude
nicht so groß ist. Es wird sich dann auch das, was wir noch zu reden
haben, natürlicher und verständlicher ergeben.«

»Ja freilich«, sagte ich, »macht es mir Vergnügen.«

Wir schritten also nach dem Frühmahle zu diesem Geschäfte.

Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgestalt
stand, hinauf. Heute fiel statt des roten zerstreuten Lichtes der
Kerzen und der Blitze von der vergangenen Nacht das stille weiße
Tageslicht auf sie herab und machte die Schultern und das Haupt in
sanftem Glanze sich erhellen. Nicht nur die Treppe war in diesem
Stiegenhause von Marmor, sondern auch die Bekleidung der Seitenwände.
Oben schloß gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überspannt war, die
Räume. Als wir die Treppe erstiegen hatten, öffnete mein Gastfreund
eine Tür, die der gegenüber war, die zu dem Gange der Gastzimmer
führte. Die Tür ging in einen großen Saal. Auf der Schwelle, an der
der Tuchstreifen, welcher über die Treppe empor lag, endete, standen
wieder Filzschuhe. Da wir jeder ein Paar derselben angezogen hatten,
gingen wir in den Saal. Er war eine Sammlung von Marmor. Der Fußboden
war aus dem farbigsten Marmor zusammengestellt, der in unseren
Gebirgen zu finden ist. Die Tafeln griffen so ineinander, daß eine
Fuge kaum zu erblicken war, der Marmor war sehr fein geschliffen und
geglättet, und die Farben waren so zusammengestellt, daß der Fußboden
wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies glänzte und
schimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenstern hereinströmte.
Die Seitenwände waren von einfachen, sanften Farben. Ihr Sockel war
mattgrün, die Haupttafeln hatten den lichtesten, fast weißen Marmor,
den unsere Gebirge liefern, die Flachsäulen waren schwach rot und die
Simse, womit die Wände an die Decke stießen, waren wieder aus schwach
Grünlich und Weiß zusammengestellt, durch welche ein Gelb wie schöne
Goldleisten lief. Die Decke war blaßgrau und nicht von Marmor, nur
in der Mitte derselben zeigte sich eine Zusammenstellung von roten
Amoniten, und aus derselben ging die Metallstange nieder, welche in
vier Armen die vier dunkeln, fast schwarzen Marmorlampen trug, die
bestimmt waren, in der Nacht diesen Raum beleuchten zu können. In dem
Saale war kein Bild, kein Stuhl, kein Geräte, nur in den drei Wänden
war jedesmal eine Tür aus schönem, dunklem Holze eingelegt, und in der
vierten Wand befanden sich die drei Fenster, durch welche der Saal bei
Tag beleuchtet wurde. Zwei davon standen offen, und zu dem Glanze des
Marmors war der Saal auch mit Rosenduft erfüllt.

Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrichtung eines solchen
Zimmers aus; den alten Mann, der mich begleitete, schien dieses
Vergnügen zu erfreuen, er sprach aber nicht weiter darüber.

Aus diesem Saale führte er mich durch eine der Türen in eine Stube,
deren Fenster in den Garten gingen.

»Das ist gewissermaßen mein Arbeitszimmer«, sagte er, »es hat außer am
frühen Morgen nicht viel Sonne, ist daher im Sommer angenehm, ich lese
gerne hier oder schreibe oder beschäftige mich sonst mit Dingen, die
Anteil einflößen.«


Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte sagen mit einer Art Sehnsucht
auf meinen Vater, da ich diese Stube betreten hatte. In ihr war nichts
mehr von Marmor, sie war wie unsere gewöhnlichen Stuben; aber sie war
mit altertümlichen Geräten eingerichtet, wie sie mein Vater hatte und
liebte. Allein die Geräte erschienen mir so schön, daß ich glaubte,
nie etwas ihnen Ähnliches gesehen zu haben. Ich unterrichtete meinen
Gastfreund von der Eigenschaft meines Vaters und erzählte ihm in
Kurzem von den Dingen, welche derselbe besaß. Auch bat ich, die Sachen
näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach meiner Zurückkunft
von ihnen erzählen und sie ihm, wenn auch nur notdürftig, beschreiben
zu können. Mein Begleiter willigte sehr gerne in mein Begehren. Es war
vor allem ein Schreibschrein, welcher meine Aufmerksamkeit erregte,
weil er nicht nur das größte, sondern wahrscheinlich auch das schönste
Stück des Zimmers war. Vier Delphine, welche sich mit dem Unterteil
ihrer Häupter auf die Erde stützten und die Leiber in gewundener
Stellung emporstreckten, trugen den Körper des Schreines auf diesen
gewundenen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine seien aus Metall
gearbeitet, mein Begleiter sagte mir aber, daß sie aus Lindenholz
geschnitten und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen
Metalle hergerichtet waren, dessen Verfertigung man jetzt nicht mehr
zuwege bringt. Der Körper des Schreines hatte eine allseitig gerundete
Arbeit mit sechs Fächern. Über ihm befand sich das Mittelstück, das in
einer guten Schwingung flach zurückging und die Klappe enthielt, die
geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstücke erhob sich der
Aufsatz mit zwölf geschwungenen Fächern und einer Mitteltür. An den
Kanten des Aufsatzes und zu beiden Seiten der Mitteltür befanden sich
als Säulen vergoldete Gestalten. Die beiden größten zu den Seiten der
Tür waren starke Männer, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen,
das sich auf ihrer Brust öffnete, legte die Schlüsselöffnungen dar.
Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfräulein,
die in Übereinstimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischenden
ausliefen. Die zwei letzten Gestalten an den hintern Seitenkanten
waren Mädchen in faltigen Gewändern. Alle Leiber der Fische sowohl als
der Säulen erschienen mir sehr natürlich gemacht. Die Fächer hatten
vergoldete Knöpfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf
der achteckigen Fläche dieser Knöpfe waren Brustbilder geharnischter
Männer oder geputzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbelegung auf
dem ganzen Schrein war durchaus eingelegte Arbeit. Ahornlaubwerk
in dunkeln Nußholzfeldern, umgeben von geschlungenen Bändern und
geflammtem Erlenholze.

Die Bänder waren wie geknitterte Seide, was daher kam, daß sie aus
kleinem, feingestreiftem, vielfarbigem Rosenholz senkrecht auf die
Achse eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht bloß,
wie es häufig bei derlei Geräten der Fall ist, auf der Daransicht,
sondern auch auf den Seitenteilen und den Friesen der Säulen.

Mein Begleiter stand neben mir, als ich diesem Geräte meine
Aufmerksamkeit widmete, und zeigte mir Manches und erklärte mir auf
meine Bitte Dinge, die ich nicht verstand.

Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in diesem Zimmer
befand, die meine Geistestätigkeit in Anspruch nahm. Es kam mir
nehmlich vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr so seltsam
sei, als er mir gestern und als er mir heute erschienen war, da
ich ihn auf dem Fütterungsplatze gesehen hatte. Bei diesen Geräten
erschien er mir eher als zustimmend und hieher gehörig, und ich begann
die Vermutung zu hegen, daß ich vielleicht noch diesen Anzug billigen
werde und daß der alte Mann in dieser Hinsicht verständiger sein
dürfte als ich.

Außer dem Schreibschreine erregten noch zwei Tische meine
Aufmerksamkeit, die an Größe gleich waren und auch sonst gleiche
Gestalt hatten, sich aber nur darin unterschieden, daß jeder auf
seiner Platte eine andere Gestaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder
ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geschlechter
führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen
waren sie umgeben und verschlungen mit Laubwerk, Blumen- und
Pflanzenwerk, und nie habe ich die leinen Fäden der Halme, der
Pflanzenbärte und der Getreideähren zarter gesehen als hier, und doch
waren sie von Holz in Holz eingelegt. Die übrige Gerätschaft waren
hochlehnige Sessel mit Schnitzwerk, Flechtwerk und eingelegter Arbeit,
zwei geschnitzte Sitzbänke, die man im Mittelalter Gesiedel geheißen
hatte, geschnitzte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von
gespanntem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen, Früchte, Tiere,
Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie
farbiges Gold aussah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den Geräten
aus Flächen alter eingelegter Arbeit zusammengestellt. Wir hatten
wahrscheinlich wegen der Schönheit dieses Bodens bei dem Eintritte in
diese Stube die Filzschuhe an unsern Füßen behalten.

Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein
Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit
sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz
gestellt zu sein.

Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude über dieses Zimmer
aussprach, nicht sehr wortreich, genau so wie in dem Marmorsaale;
aber gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von seinem Angesicht
herablesen zu können.

Das nächste Zimmer war wieder ein altertümliches. Es ging gleichfalls
auf den Garten. Sein Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte
Arbeit, aber auf ihm standen drei Kleiderschreine und das Zimmer war
ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren groß, altertümlich eingelegt und
jeder hatte zwei Flügeltüren. Sie erschienen mir zwar minder schön
als das Schreibgerüste im vorigen Zimmer, aber doch auch von großer
Schönheit, besonders der mittlere, größte, der eine vergoldete
Bekrönung trug und auf seinen Hohltüren ein sehr schönes Schild-,
Laub- und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren nur noch Stühle
da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich
Kleider darauf zu hängen. Die inneren Seiten der Zimmertüren waren
ebenfalls zu den Geräten stimmend und bestanden aus Simswerk und
eingelegter Arbeit.

Als wir dieses Zimmer verließen, legten wir die Filzschuhe ab.

Das nächste Zimmer, gleichfalls auf den Garten gehend, war das
Schlafgemach. Es enthielt Geräte neuer Art, aber doch nicht ganz in
der Gestaltung, wie ich sie in der Stadt zu sehen gewohnt war. Man
schien hier vor Allem auf Zweckmäßigkeit gesehen zu haben. Das Bett
stand mitten im Zimmer und war mit dichten Vorhängen umgeben. Es war
sehr nieder und hatte nur ein Tischchen neben sich, auf dem Bücher
lagen, ein Leuchter und eine Glocke standen und sich Geräte befanden,
Licht zu machen. Sonst waren die Geräte eines Schlafzimmers da,
besonders solche, die zum Aus- und Ankleiden und zum Waschen
behilflich waren. Die Innenseiten der Türen waren hier wieder zu den
Geräten stimmend.

An das Schlafgemach stieß ein Zimmer mit wissenschaftlichen
Vorrichtungen, namentlich zu Naturwissenschaften. Ich sah Werkzeuge
der Naturlehre aus der neuesten Zeit, deren Verfertiger ich entweder
persönlich aus der Stadt kannte oder deren Namen, wenn die Geräte aus
andern Ländern stammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden sich
Werkzeuge zu den vorzüglichsten Teilen der Naturlehre hier.

Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhanden, vorzüglich aus dem
Mineralreiche. Zwischen den Geräten und an den Wänden war Raum, mit
den vorhandenen Vorrichtungen Versuche anstellen zu können. Das Zimmer
war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer.

Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauses, dessen Fenster
teils auf den Hauptkörper des Gartens gingen, teils nach Nordwesten
sahen. Ich konnte aber die Bestimmung dieses Zimmers nicht erraten, so
seltsam kam es mir vor. An den Wänden standen Schreine aus geglättetem
Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern. An diesen Fächern waren
Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken
findet. Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von
Sämereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht.
Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Geräte in dem Zimmer. Vor
den Fenstern waren wagrechte Brettchen befestigt, wie man sie hat,
um Blumentöpfe darauf zu stellen; aber ich sah keine Blumentöpfe
auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte sich auch, daß sie zu
schwach seien, um Blumentöpfe tragen zu können. Auch wären gewiß
solche auf ihnen gestanden, wenn sie dazu bestimmt gewesen wären, da
ich in allen Zimmern, mit Ausnahme des Marmorsaales, an jedem nur
einiger Maßen geeigneten Platze Blumen aufgestellt gesehen hatte.

Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er
äußerte sich auch nicht darüber.


Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die an der Mittagseite des
Hauses lagen und über den Sandplatz auf die Felder hinaus sahen.

Das erste nach dem Eckzimmer war ein Bücherzimmer. Es war groß und
geräumig und stand voll von Büchern. Die Schreine derselben waren
nicht so hoch, wie man sie gewöhnlich in Bücherzimmern sieht, sondern
nur so, daß man noch mit Leichtigkeit um die höchsten Bücher langen
konnte. Sie waren auch so flach, daß nur eine Reihe Bücher stehen
konnte, keine die andere deckte und alle vorhandenen Bücher ihre
Rücken zeigten. Von Geräten befand sich in dem Zimmer gar nichts als
in der Mitte desselben ein langer Tisch, um Bücher darauf legen zu
können. In seiner Lade waren die Verzeichnisse der Sammlung. Wir
gingen bei dieser allgemeinen Beschauung des Hauses nicht näher auf
den Inhalt der vorhandenen Bücher ein.

Neben dem Bücherzimmer war ein Lesegemach. Es war klein und hatte nur
ein Fenster, das zum Unterschiede aller anderen Fenster des Hauses mit
grünseidenen Vorhängen versehen war, während die anderen grauseidne
Rollzüge besaßen. An den Wänden standen mehrere Arten von Sitzen,
Tischen und Pulten, so daß für die größte Bequemlichkeit der Leser
gesorgt war. In der Mitte stand, wie im Bücherzimmer, ein großer Tisch
oder Schrein - denn er hatte mehrere Laden -, der dazu diente, daß man
Tafeln, Mappen, Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte.
In den Laden lagen Kupferstiche. Was mir in diesem Zimmer auffiel,
war, daß man nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Lesens
erinnerte, herumliegen sah.

Nach dem Lesegemache kam wieder ein größeres Zimmer, dessen Wände mit
Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren
ausschließlich Ölgemälde und reichten nicht höher, als daß man sie
noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonst hingen sie aber
so dicht, daß man zwischen ihnen kein Stückchen Wand zu erblicken
vermochte. Von Geräten waren nur mehrere Stühle und eine Staffelei da,
um Bilder nach Gelegenheit aufstellen und besser betrachten zu können.
Diese Einrichtung erinnerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters.

Das Bilderzimmer führte durch die dritte Tür des Marmorsaales wieder
in denselben zurück, und so hatten wir die Runde in diesen Gemächern
vollendet.

»Das ist nun meine Wohnung«, sagte mein Begleiter, »sie ist nicht groß
und von außerordentlicher Bedeutung, aber sie ist sehr angenehm. In
dem anderen Flügel des Hauses sind die Gastzimmer, welche beinahe alle
dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geschlafen habt. Auch ist
Gustavs Wohnung dort, die wir aber nicht besuchen können, weil wir
ihn sonst in seinem Lernen stören würden. Durch den Saal und über die
Treppe können wir nun wieder in das Freie gelangen.«

Als wir den Saal durchschritten hatten, als wir über die Treppe
hinabgegangen und zu dem Ausgange des Hauses gekommen waren, legten
wir die Filzschuhe ab, und mein Begleiter sagte: »Ihr werdet euch
wundern, daß in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die
Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann
mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich,
als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die
Abteilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich
nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich
gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeit
erkaufen muß. Ich habe in diesen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe mit
Wollsohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg
gelangen, da ich in dasselbe nicht durch den Saal gehen muß, wie wir
jetzt getan haben, sondern da von dem Erdgeschosse ein Gang in das
Zimmer hinaufführt, den ihr nicht gesehen haben werdet, weil seine
beiden Enden mit guten Tapetentüren geschlossen sind. Der Pfarrer von
Rohrberg leidet an der Gicht und verträgt heiße Füße nicht, daher
belege ich für ihn, wenn er anwesend ist, die Treppe oder die Zimmer
mit einem Streifen von Wollstoff, wie ihr es gestern gesehen habt.«

Ich antwortete, daß die Vorrichtung sehr zweckmäßig sei und daß sie
überall angewendet werden muß, wo kunstreiche oder sonst wertvolle
Fußböden zu schonen sind.

Da wir nun im Garten waren, sagte ich, indem ich mich umwendete und
das Haus betrachtete: »Eure Wohnung ist nicht, wie ihr sagt, von
geringer Bedeutung. Sie wird, so viel ich aus der kurzen Besichtigung
entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht
gedacht, daß das Haus, wenn ich es so von der Straße aus sah, eine so
große Räumlichkeit in sich hätte.«

»So muß ich euch nun auch noch etwas anderes zeigen«, erwiderte er,
»folgt mir ein wenig durch jenes Gebüsch.«

Er ging nach diesen Worten voran, ich folgte ihm. Er schlug einen Weg
gegen dichtes Gebüsch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf
einem schmalen Pfade durch dessen Verschlingung fort. Endlich kamen
sogar hohe Bäume, unter denen der Weg dahin lief. Nach einer Weile tat
sich ein anmutiger Rasenplatz vor uns auf, der wieder ein langes, aus
einem Erdgeschosse bestehendes Gebäude trug. Es hatte viele Fenster,
die gegen uns hersahen. Ich hatte es früher weder von der Straße aus
erblickt noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich gewesen war.
Vermutlich waren die Bäume daran Schuld, die es umstanden.

Da wir uns näherten, ging ein feiner Rauch aus seinem Schornsteine
empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch so
früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ursache davon sein konnte.
Als wir näher kamen, hörte ich in dem Hause ein Schnarren und
Schleifen, als ob in ihm gesägt und gehobelt würde. Da wir eingetreten
waren, sah ich in der Tat eine Schreinerwerkstätte vor mir, in welcher
tätig gearbeitet wurde. An den Fenstern, durch welche reichliches
Licht hereinfiel, standen die Schreinertische und an den übrigen
Wänden, welche fensterlos waren, lehnten Teile der in Arbeit
begriffenen Gegenstände. Hier fand ich wieder eine Ähnlichkeit mit
meinem Vater. So wie er sich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der
ihm seine altertümlichen Geräte nach seiner Angabe wieder herstellte,
so sah ich hier gleich eine ganze Werkstätte dieser Art; denn ich
erkannte aus den Teilen, die herumstanden, daß hier vorzüglich an der
Wiederherstellung altertümlicher Gerätschaften gearbeitet werde. Ob
auch Neues in dem Hause verfertigt werde, konnte ich bei dem ersten
Anblicke nicht erkennen.

Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenstern für sich, der
von dem Raume seines Nachbars durch gezogene Schranken abgesondert
war. Er hatte seine Geräte und seine eben notwendigen Arbeitsstücke
in diesem Raume bei sich, das Andere, was er gerade nicht brauchte,
hatte er an der Hinterwand des Hauses hinter sich, so daß eine
übersichtliche Ordnung und Einheit bestand. Es waren vier Arbeiter. In
einem großen Schreine, der einen Teil der einen Seitenwand einnahm,
befanden sich vorrätige Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß
irgend eines unversehens untauglich würde und zu seiner Herstellung
zu viele Zeit in Anspruch nähme. In einem andern Schreine an der
entgegengesetzten Seitenwand waren Fläschchen und Büchschen, in denen
sich die Flüssigkeiten und andere Gegenstände befanden, die zur
Erzeugung von Firnissen, Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine
bestimmte Farbe oder das Ansehen von Alter zu geben. Abgesondert von
der Werkstube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten
unentbehrliche Feuer brannte. Seine Stätte war feuerfest, um die
Werkstube und ihren Inhalt nicht zu gefährden.

»Hier werden Dinge«, sagte mein Begleiter, »welche lange vor uns, ja
oft mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeit verfertigt worden und in
Verfall geraten sind, wieder hergestellt, wenigstens soweit es die
Zeit und die Umstände nur immer erlauben. Es wohnt in den alten
Geräten beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen
und Abgeblühten, der bei dem Menschen, wenn er in die höheren Jahre
kömmt, immer stärker wird. Darum sucht er das zu erhalten, was der
Vergangenheit angehört, wie er ja auch eine Vergangenheit hat,
die nicht mehr recht zu der frischen Gegenwart der rings um ihn
Aufwachsenden paßt. Darum haben wir hier eine Anstalt für Geräte
des Altertums gegründet, die wir dem Untergange entreißen,
zusammenstellen, reinigen, glätten und wieder in die Wohnlichkeit
einzuführen suchen.«


Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhause befand, eben an der
Platte eines Tisches gearbeitet, die, wie mein Begleiter sagte,
aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammte. Sie war in Hölzern von
verschiedener, aber natürlicher Farbe eingelegt. Bloß wo grünes Laub
vorkam, war es von grüngebeiztem Holze. Von außen war eine Verbrämung
von in einander geschlungenen und schneckenartig gewundenen Rollen,
Laubzweigen und Obst. Die innere Fläche, welche von der Verbrämung
durch ein Bänderwerk von rotem Rosenholze abgeschnitten war, trug
auf einem Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Sammlung von
Musikgeräten. Sie waren freilich nicht in dem Verhältnisse ihrer
Größen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die
Trommel und der Dudelsack waren gleich groß und unter beiden zog sich
die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erschienen mir
die Sachen als sehr schön, und die Mandoline war so rein und lieblich,
wie ich solche Dinge nicht schöner auf den alten Gemälden meines
Vaters gesehen hatte. Einer der Arbeiter schnitt Stücke aus Ahorn,
Buchs, Sandelholz, Ebenholz, türkisch Hasel und Rosenholz zurecht,
damit sie in ihrer kleineren Gestalt gehörig austrocknen konnten.
Ein anderer löste schadhafte Teile aus der Platte und ebnete die
Grundstellen, um die neuen Bestandteile zweckmäßig einsetzen zu
können. Der dritte schnitt und hobelte die Füße aus einem Ahornbalken
und der vierte war beschäftigt, nach einer in Farben ausgeführten
Abbildung der Tischplatte, die er vor sich hatte, und aus einer Menge
von Hölzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu bestimmen, die den
auf der Zeichnung befindlichen Farben am meisten entsprächen. Mein
Begleiter sagte mir, daß das Gerüste und die Füße des Tisches
verlorengegangen seien und neu gemacht werden mußten.

Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue zu dem Vorhandenen
passe.

Er antwortete: »Wir haben eine Zeichnung gemacht, die ungefähr
darstellte, wie die Füße und das Gerüste ausgesehen haben mögen.«

Auf meine neue Frage, wie man denn das wissen könne, antwortete
er: »Diese Dinge haben so gut wie bedeutendere Gegenstände ihre
Geschichte, und aus dieser Geschichte kann man das Aussehen und den
Bau derselben zusammen setzen. Im Verlaufe der Jahre haben sich die
Gestaltungen der Geräte immer neu abgelöset, und wenn man auf diese
Abfolge sein Augenmerk richtet, so kann man aus einem vorhandenen
Ganzen auf verlorengegangene Teile schließen und aus aufgefundenen
Teilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen
entworfen, in deren jede immer die Tischplatte einbezogen war, und
haben uns auf diese Weise immer mehr der mutmaßlichen Beschaffenheit
der Sache genähert. Endlich sind wir bei einer Zeichnung geblieben,
die uns nicht zu widersprechend schien.«

Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für seine Anstalt habe,
antwortete er: »Sie ist nicht gleich so entstanden, wie ihr sie hier
sehet. Anfangs zeigte sich die Lust an alten und vorelterlichen
Dingen, und wie die Lust wuchs, sammelten sich nach und nach schon die
Gegenstände an, die ihrer Wiederherstellung entgegen sahen. Zuerst
wurde die Ausbesserung bald auf diesem, bald auf jenem Wege versucht
und eingeleitet. Viele Irrwege sind betreten worden. Indessen wuchs
die Zahl der gesammelten Gegenstände immer mehr und deutete schon
auf die künftige Anstalt hin. Als man in Erfahrung brachte, daß ich
altertümliche Gegenstände kaufe, brachte man mir solche oder zeigte
mir die Orte an, wo sie zu finden wären. Auch vereinigten sich mit uns
hie und da Männer, welche auf die Dinge des Altertums ihr Augenmerk
richteten, uns darüber schrieben und wohl auch Zeichnungen einsandten.
So erweiterte sich unser Kreis immer mehr.

Ungehörige Ausbesserungen aus früheren Zeiten gaben ebenfalls Stoff
zu erneuerter Arbeit, und da wir anfangs auch an verschiedenen Orten
arbeiten ließen und häufig genötigt waren, die Orte zu wechseln, ehe
wir uns hier niederließen, so verschleppte sich manche Zeit und die
Arbeitsgegenstände mehrten sich. Endlich gerieten wir auch auf den
Gedanken, neue Gegenstände zu verfertigen. Wir gerieten auf ihn durch
die alten Dinge, die wir immer in den Händen hatten. Diese neuen
Gegenstände wurden aber nicht in der Gestalt gemacht, wie sie jetzt
gebräuchlich sind, sondern wie wir sie für schön hielten. Wir lernten
an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in
der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in
dem sogenannten gothischen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir suchten
selbstständige Gegenstände für die jetzige Zeit zu verfertigen mit
Spuren des Lernens an vergangnen Zeiten. Haben ja selbst unsere
Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geschöpft, diese wieder aus den ihrigen
und so fort, bis man auf unbedeutende und kindische Anfänge stößt.

Überall aber sind die eigentlichen Lehrmeister die Werke der Natur
gewesen.«

»Sind solche neugemachte Gegenstände in eurem Hause vorhanden?« fragte
ich.

»Nichts von Bedeutung«, antwortete er, »einige sind an verschiedenen
Punkten der Gegend zerstreut, einige sind in einem anderen Orte als
in diesem Hause gesammelt. Wenn ihr Lust zu solchen Dingen habt oder
sie in Zukunft fassen solltet und euer Weg euch wieder einmal hieher
führt, so wird es nicht schwer sein, euch an den Ort zu geleiten, wo
ihr mehrere unserer besten Gegenstände sehen könnt.«

»Es sind der Wege sehr verschiedene«, erwiderte ich, »die die Menschen
gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu
euch heraufgeführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist und ob
ich ihn nicht noch einmal gehe.«

»Ihr habt da ein sehr wahres Wort gesprochen«, antwortete er, »die
Wege der Menschen sind sehr verschiedene. Ihr werdet dieses Wort erst
recht einsehen, wenn ihr älter seid.«

»Und habt ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei
erbaut?« fragte ich weiter.

»Ja«, antwortete er, »wir haben es eigens zu diesem Zwecke erbaut. Es
ist aber viel später entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so
weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt
ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstätte hiefür einzurichten.
Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel
schwerer war es, die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner
und mußte sie entlassen. Ich lernte nach und nach selber, und da trat
mir der Starrsinn, der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm
endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren und sich erst hier
unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die Frühern eine
Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr
häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit,
die stets sagt: >es ist so auch recht<, und die jede weitere Vorsicht
für unnötig erachtet. Es ist diese Sünde in den unbedeutendsten und
wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen
früheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel
gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr
viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie
unglücklich oder unfruchtbar geworden. Werke, die sonst entstanden
wären, hat sie vereitelt und die Kunst und was mit derselben
zusammenhängt wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menschen
in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Künstler,
Dichter, Gelehrten, Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich
komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie bloß, daß
wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann,
der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn bekämpfte; aber
innerlich mochte er recht oft erzürnt gewesen sein und über Eigensinn
geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke
gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angestrebt war,
und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schönheit
der Gestalten wuchs und das Leichte und Feine wurde dem Schweren
und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus und erzog sie in seinem
Sinne. Die Begabten fügten sich bald. Es wurde die Chemie und andere
Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schöner Bücher wurde das
Innere des Gemütes zu bilden versucht.«


Er ging nach diesen Worten gegen den Mann, der mit dem Aussuchen der
Hölzer nach dem vor ihm liegen den Plane der Tischplatte beschäftigt
war, und sagte: »Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige
Zeichnungen zu zeigen, Eustach?«

Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von
seiner Arbeit und zeigte uns ein ruhiges, gefälliges Wesen. Er legte
die grüne Tuchschürze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus
seiner Arbeitsstelle zu uns herüber. Es befand sich neben dieser
Stelle in der Wand eine Glastür, hinter welcher grüne Seide in Falten
gespannt war. Diese Tür öffnete er und führte uns in ein freundliches
Zimmer. Das Zimmer hatte einen künstlich eingelegten Fußboden und
enthielt mehrere breite, glatte Tische. Aus der Lade eines dieser
Tische nahm der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öffnete sie
und tat sie auf der Tischplatte auseinander. Ich sah, daß diese
Zeichnungen für mich zum Ansehen heraus genommen worden waren und
legte daher die Blätter langsam um. Es waren lauter Zeichnungen
von Bauwerken, und zwar teils im Ganzen, teils von Bestandteilen
derselben. Sie waren sowohl, wie man sich ausdrückt, im Perspective
ausgeführt, als auch in Aufrissen, in Längen- und Querschnitten. Da
ich mich selber geraume Zeit mit Zeichnen beschäftigt hatte, wenn auch
mit Zeichnen anderer Gegenstände, so war ich bei diesen Blättern schon
mehr an meiner Stelle als bei den alten Geräten. Ich hatte immer bei
dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach großer Genauigkeit gestrebt
und hatte mich bemüht, durch den Schwarzstift die Wesenheit derselben
so auszudrücken, daß man sie nach Art und Gattung erkennen sollte.
Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken.
Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte sie eigentlich nie recht
betrachtet. Aber andererseits waren die Linien, die hier vorkamen, die
von großen Körpern, von geschichteten Stoffen und von ausgedehnten
Flächen, wie sie bei mir auch an den Felsen und Bergen erschienen;
oder sie waren die leichten Wendungen von Zieraten, wie sie bei mir
die Pflanzen boten.

Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entstanden, welche die
Vorbilder gaben, etwa aus Felsenkuppen oder Felsenzacken oder selbst
aus Tannen, Fichten oder anderen Bäumen. Ich betrachtete daher die
Zeichnungen recht genau und sah sie um ihre Treue und Sachgemäßheit
an. Als ich sie schon alle durchgeblättert hatte, legte ich sie wieder
um und schaute noch einmal jedes einzelne Blatt an.

Die Zeichnungen waren sämmtlich mit dem Schwarzstifte ausgeführt. Es
war Licht und Schatten angegeben und die Linienführung war verstärkt
oder gemäßigt, um nicht bloß die Körperlichkeit der Dinge, sondern
auch das sogenannte Luftperspective darzustellen. In einigen Blättern
waren Wasserfarben angewendet, entweder, um bloß einzelne Stellen zu
bezeichnen, die eine besonders starke oder eigentümliche Farbe hatten,
wie etwa, wo das Grün der Pflanzen sich auffallend von dem Gemäuer,
aus dem es sproßte, abhob oder wo der Stoff durch Einfluß von Sonne
oder Wasser eine ungewöhnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beispiele
an gewissen Steinen, die durch Wasser bräunlich, ja beinahe rot
werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der
Wirklichkeit und Zusammenstimmung zu geben; oder endlich es waren
einzelne sehr kleine Stellen mit Farben, gleichsam mit Farbdruckern,
wie man sich ausdrückt, bezeichnet, um Flächen oder Körper oder ganze
Abteilungen im Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die Farben
so untergeordnet gehalten, daß die Zeichnungen nicht in Gemälde
übergingen, sondern Zeichnungen blieben, die durch die Farbe nur noch
mehr gehoben wurden. Ich kannte diese Verfahrungsweise sehr gut und
hatte sie selber oft angewendet.

Was den Wert der Zeichnungen anbelangt, so erschien mir derselbe ein
ziemlich bedeutender. Die Hand, von der sie verfertigt worden waren,
hielt ich für eine geübte, was ich daraus schloß, daß in den vielen
Zeichnungen kein Fortschritt zu bemerken war, sondern daß dieser schon
in der Zeit vor den Zeichnungen lag und hier angewendet wurde. Die
Linien waren rein und sicher gezogen, das sogenannte Linearperspective
war, so weit meine Augen urteilen konnten - denn eine mathematische
Prüfung konnte ich nicht anlegen -, richtig, der Stoff des
Schwarzstiftes war gut beherrscht, und mit seinen geringen Mitteln war
Haushaltung getroffen, darum standen die Körper klar da und lösten
sich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen
hatte, war sie mit Gegenständlichkeit und Maß hingesetzt, was, wie ich
aus Erfahrung wußte, so schwer zu finden ist, daß die Dinge als Dinge,
nicht als Färbungen gelten. Dies ist besonders bei Gegenständen der
Fall, die minder entschiedene Farben haben, wie Steine, Gemäuer und
dergleichen, während Dinge von deutlichen Farben leichter zu behandeln
sind, wie Blumen, Schmetterlinge, selbst manche Vögel.

Eine besondere Tatsache aber fiel mir bei Betrachtung dieser
Zeichnungen auf. Bei den Bauverzierungen, welche von Gegenständen
der Natur genommen waren, von Pflanzen oder selbst von Tieren, kamen
bedeutende Fehler vor, ja es kamen sogar Unmöglichkeiten vor, die kaum
ein Anfänger macht, sobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den
ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in andern Zeichnungen
waren diese Fehler nicht da, sondern die Verzierungen waren in
Hinsicht ihrer Urbilder in der Natur mit Richtigkeit angegeben.
Ich hatte, da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Vaters
betrachtet und in ihnen, selbst in solchen, die er für sehr gut hielt,
ähnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit
waren, diese Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darstellten, so
schloß ich, daß sie vielleicht Abrisse von wirklichen Bauten seien
und daß die Fehler in den Zieraten der Zeichnungen Fehler in den
wirklichen Zieraten der Bauarten seien, und daß die Zieraten, deren
Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwerken keinen Fehler
gehabt haben.

Es gewannen durch diesen Umstand die Zeichnungen in meinen Augen noch
mehr, da er gerade ihre große Treue bewies.

Auch ein eigentümlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieser
Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie so viele Zeichnungen von
Bauwerken beisammen gesehen, so wie ich Bauwerke selber nicht zum
Gegenstande meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle diese
Laubwerke, diese Ranken, diese Zacken, diese Schwingungen, diese
Schnecken in großer Abfolge sah, erschienen sie mir gewissermaßen
wie Naturdinge, etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehörigen
Tieren. Ich dachte, man könnte sie eben so zu einem Gegenstande der
Betrachtung und der Forschung machen wie die wirklichen Pflanzen
und andere Hervorbringungen der Erde, wenn sie hier auch nur eine
steinerne Welt sind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch
hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude einen
steinernen Stengel oder eine Rose oder eine Distelspitze oder einen
Säulenschaft oder die Vergitterung einer Tür ansah. Ich nahm mir vor,
diese Gegenstände nun genauer zu beobachten.

»Diese Zeichnungen sind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken,
die in unserem Lande vorhanden sind«, sagte mein Begleiter. »Wir haben
sie nach und nach zusammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unseres
Landes, welches entweder im Ganzen schön ist oder an dem Teile
schön sind, fehlt. Es ist nehmlich auch hier im Lande wie überall
vorgekommen, daß man zu den Teilen alter Kirchen oder anderer Werke,
die nicht fertig geworden sind, neue Zubaue in ganz anderer Art
gemacht hat, so daß Bauwerke entstanden, die in verschiedenen Stilen
ausgeführt und teils schön und teils häßlich sind. Die Landkirchen,
die auf verschiedenen Stellen in unserer Zeit entstanden sind, haben
wir nicht angenommen.«

»Wer hat denn diese Zeichnungen verfertigt?« fragte ich.

»Der Zeichner steht vor euch«, antwortete mein Begleiter, indem er auf
den jungen Mann wies.

Ich sah den Mann an, und es zeigte sich ein leichtes Erröten in seinem
Angesichte.

»Der Meister hat nach und nach die Teile des Landes besucht«, fuhr
mein Gastfreund fort, »und hat die Baugegenstände gezeichnet, die ihm
gefielen. Diese Zeichnungen hat er in seinem Buche nach Hause gebracht
und sie dann auf einzelnen Blättern im Reinen ausgeführt. Außer den
Zeichnungen von Bauwerken haben wir auch die von inneren Ausstattungen
derselben. Seid so gefällig und zeigt auch diese Mappe, Eustach.«

Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten,
zusammen und tat sie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade
eine andere Mappe und legte sie mir mit den Worten vor: »Hier sind die
kirchlichen Gegenstände.«

Ich sah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geöffnet hatte, an,
wie ich früher die der Bauwerke angesehen hatte. Es waren Zeichnungen
von Altären, Chorstühlen, Kanzeln, Sakramentshäuschen, Taufsteinen,
Chorbrüstungen, Sesseln, einzelnen Gestalten, gemalten Fenstern
und anderen Gegenständen, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie
die Zeichnungen der Baugegenstände entweder ganz in Schwarzstift
ausgeführt oder teils in Schwarzstift, teils in Farben. Hatte ich mich
schon früher in diese Gegenstände vertieft, so geschah es jetzt noch
mehr. Sie waren noch mannigfaltiger und für die Augen anlockender als
die Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm
ich noch einmal vor, nachdem ich es schon hingelegt hatte. Als ich
mit dieser Mappe fertig war, legte mir der Meister eine neue vor und
sagte: »Hier sind die weltlichen Gegenstände.«

Die Mappe enthielt Zeichnungen von sehr verschiedenen Geräten, die in
Wohnungen, Burgen, Klöstern und dergleichen vorkommen, sie enthielt
Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmerdecken, Fenster- und
Türeinfassungen, ja von eingelegten Fußböden. Bei den weltlichen
Geräten war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen
und bei den Bauten; denn die Wohngeräte haben sehr oft die Farbe als
einen wesentlichen Gegenstand ihrer Erscheinung, besonders wenn sie
in verschiedenfarbigen Hölzern eingelegt sind. Ich fand in dieser
Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Gegenständen, die ich in der
Wohnung meines Gastfreundes gesehen hatte. So war der Schreibschrein
und der große Kleiderschrein vorhanden. Auch der Tisch, an dem noch in
der Schreinerstube gearbeitet wurde, stand hier schon fertig vor uns
auf dem Papiere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und
kräftig ausgeführt war, das Gerüste und die Füße minder, gleichsam
schattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, daß man so das Neue, was
zu Geräten hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel diese Art
sehr gut.

»Die Kirchengeräte unseres Landes dürften in dieser Sammlung ziemlich
vollständig sein«, sagte mein Gastfreund, »wenigstens wird nichts
Wesentliches fehlen. Bei den weltlichen kann man das weniger sagen,
da man nicht wissen kann, was noch hie und da in dem Lande zerstreut
ist.«


Als ich diese Mappe auch angesehen hatte, sagte mein Begleiter: »Diese
Zeichnungen sind Nachbildungen von lauter wirklichen aus älterer Zeit
auf uns gekommenen Gegenständen, wir haben aber auch Zeichnungen
selbstständig entworfen, die Geräte oder andere kleinere Gegenstände
darstellen. Zeigt uns auch diese, Meister.«

Der junge Mann legte die Mappe auf den Tisch.

Sie war viel umfassender als jede der früheren und enthielt nicht bloß
die vollständige Darstellung der ganzen Gegenstände, sondern auch ihre
Quer- und Längenschnitte und ihre Grundrisse. Es waren Abbildungen von
verschiedenen Geräten, dann von Verkleidungen, Fußböden, Zimmerdecken,
Nischen und endlich sogar von Baugegenständen, Treppenhäusern und
Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelsucht und Gewissenhaftigkeit
zu Werke gegangen; manche Zeichnung war vier-, ja fünfmal vorhanden
und jedes Mal verändert und verbessert. Die letzten waren stets mit
Farben angegeben und dies besonders deutlich, wenn die Gegenstände in
Holz oder Marmor auszuführen waren. Ich fragte, ob einige dieser Dinge
ausgeführt worden sind.

»Freilich«, antwortete mein Begleiter, »wozu wären denn so viele
Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenstände, die ihr öfter
gezeichnet sahet und deren letzte Zeichnung in Farben angegeben ist,
sind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Diese Zeichnungen sind die
Pläne und Vorlagen zu den neuen Geräten, auf deren Verfertigung, wie
ich früher sagte, wir geraten sind. Wenn ihr einmal in den Ort, von
dem ich euch gesagt habe, daß er mehrere enthält, kommen solltet, so
würdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet sind,
sehen, sondern auch solche, die zusammen gehören und ein Ganzes
bilden.«

»Wenn man diese Zeichnungen betrachtet«, sagte ich, »und wenn man die
anderen betrachtet, welche ich früher gesehen habe, so kömmt man auf
den Gedanken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräte, welche
in diesen Bauwerken sein sollten, eine Einheit bilden, die nicht
zerrissen werden kann.«

»Allerdings bilden sie eine«, erwiderte er, »die Geräte sind ja die
Verwandten der Baukunst, etwa ihre Enkel oder Urenkel, und sind aus
ihr hervorgegangen. Dieses ist so wahr, daß ja auch unsere heutigen
Geräte zu unserer heutigen Baukunst gehören. Unsere Zimmer sind
fast wie hohle Würfel oder wie Kisten, und in solchen stehen die
geradlinigen und geradflächigen Geräte gut. Es ist daher nicht ohne
Begründung, wenn die viel schöneren altertümlichen Geräte in unseren
Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, sie
widersprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn
sie die Geräte nicht schön finden, die Wohnung ist es, und diese
sollte geändert werden. Darum stehen in Schlössern und altertümlichen
Bauten derlei Geräte noch am schönsten, weil sie da eine ihnen
ähnliche Umgebung finden. Wir haben aus diesem Verhältnisse Nutzen
gezogen und aus unseren Zeichnungen der Bauwerke viel für die
Zusammenstellung unserer Geräte gelernt, die wir eben nach ihnen
eingerichtet haben.«

»Wenn man so viele dieser Dinge in so vielen Abbildungen vor sich
sieht, wie wir jetzt getan haben«, sagte ich, »so kann man nicht
umhin, einen großen Eindruck zu empfinden, den sie machen.«

»Es haben sehr tiefsinnige Menschen vor uns gelebt«, erwiderte er,
»man hat es nicht immer erkannt und fängt erst jetzt an, es wieder ein
wenig einzusehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwermut
nennen soll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, daß unsere
Voreltern ihre größten und umfassendsten Werke nicht vollendet haben.
Sie mußten auf eine solche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet
haben, daß sie überzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter
bauen, was sie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen stehen wie
Fremdlinge in unserer Zeit. Wir haben sie nicht mehr empfunden oder
haben sie durch häßliche Aftergebilde verunstaltet. Ich möchte
jung sein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher in unserem Vaterlande
das Gefühl für diese Anfänge so groß wird, daß es die Mittel
zusammenbringt, diese Anfänge weiter zu führen. Die Mittel sind
vorhanden, nur werden sie auf etwas anderes angewendet, so wie man
diese Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet ließ, sondern
aus anderen Gründen.«

Ich sagte nach diesen Worten, daß ich in dem berührten Punkte weniger
unterrichtet sei; aber in einem anderen Punkte könnte ich vielleicht
etwas sagen, nehmlich in Hinsicht der Zeichnungen. »Ich habe durch
längere Zeit her Pflanzen, Steine, Tiere und andere Dinge gezeichnet,
habe mich sehr geübt und dürfte daher etwa ein Urteil wagen können.
Diese Zeichnungen erscheinen mir in Reinheit der Linien, in
Richtigkeit des Perspectives, in kluger Hinstellung jedes Körperteiles
und in passender Anwendung der Farben als ganz vortrefflich, und ich
fühle mich gedrungen, dieses zu sagen.«

Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick
zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urteil zu freuen.

Er bedeutete den Meister, die Mappe zusammen zu binden und in die Lade
zu legen, was auch geschah.


Wir gingen von diesem Zimmer in die weiteren Räume des
Schreinerhauses. Als wir über die Schwelle schritten, dachte ich,
daß ich von altertümlichen Gegenständen trotz der Sammlungen meines
Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben gewesen war,
eigentlich bisher nicht viel verstanden habe und erst lernen müsse.

Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des
Meisters, welches neben den gewöhnlichen Gerätstücken ebenfalls
Zeichnungstische und Staffeleien enthielt. Es war ebenso freundlich
eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen.

Auch die Zimmer der Gehilfen besuchten wir und betraten dann die
Nebenräume. Es waren dies Räume, die zu verschiedenen Gegenständen,
die eine solche Anstalt fordert, notwendig sind. Der vorzüglichste war
das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus
der man in die untere und obere Abteilung desselben gelangen konnte.
Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier
verarbeitete, jenen Zustand der Trockenheit erreichen konnten, der
in Geräten notwendig ist, daß nicht später wieder Beschädigungen
eintreten. In dem unteren Raume wurden die größeren Holzkörper
aufbewahrt, in dem oberen die kleineren und feineren. Ich konnte
sehen, wie sehr es Ernst mit der Anlegung dieses Werkhauses war;
denn ich fand in dem Trockenhause nicht nur einen sehr großen
Vorrat von Holz, sondern auch fast alle Gattungen der inländischen
und ausländischen Hölzer. Ich hatte hierin von der Zeit meiner
naturwissenschaftlichen Bestrebungen her einige Kenntnis. Außerdem
war das Holz beinahe durchgängig schon in die vorläufigen Gestalten
geschnitten, in die es verarbeitet werden sollte, damit es auf diese
Weise zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter
zeigte mir die verschiedenen Behältnisse und erklärte mir im
Allgemeinen ihren Inhalt.

In dem unteren Raume sah ich Lärchenholz zu sehr großen seltsamen
Gestalten verbunden, gleichsam zu schlanken Gerüsten, Rahmen und
dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte,
um ihre Bedeutung.

»In unserem Lande«, antwortete mein Begleiter, »sind mehrere
geschnitzte Altäre. Sie sind alle aus Lindenholz verfertigt und einige
von bedeutender Schönheit. Sie stammen aus sehr früher Zeit, etwa
zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert, und sind
Flügelaltäre, welche mit geöffneten Flügeln die Gestalt einer
Monstranze haben. Sie sind zum Teile schon sehr beschädigt und drohen,
in kürzerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da haben wir nun
einen auf meine Kosten wiederhergestellt und arbeiten jetzt an einem
zweiten. Die Holzgerüste, um die ihr fragtet, sind Grundlagen, auf
denen Verzierungen befestigt werden müssen. Die Verzierungen sind noch
ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber sind sehr morsch geworden,
weshalb wir neue anfertigen müssen, wozu ihr hier die Entwürfe sehet.«

»Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar
umzugestalten?« fragte ich.

»Man hat es uns erst nach vielen Schwierigkeiten erlaubt«, antwortete
er, »wir haben aber die Schwierigkeiten besiegt. Besonders kam uns das
Mißtrauen in unsere Kenntnisse und Fähigkeiten entgegen, und hierin
hatte man Recht. Wohin käme man denn, wenn man an vorhandenen Werken
vorschnell Veränderungen anbringen ließe? Es könnten ja da Dinge von
der größten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstört werden. Wir mußten
angeben, was wir verändern oder hinzufügen wollten und wie die Sache
nach der Umarbeitung aussehen würde. Erst da wir dargelegt hatten, daß
wir an den bestehenden Zusammenstellungen nichts ändern würden, daß
keine Verzierung an einen andern Platz komme, daß kein Standbild an
seinem Angesichte, seinen Händen oder den Faltungen seines Gewandes
umgestaltet werde, sondern daß wir nur das Vorhandene in seiner
jetzigen Gestalt erhalten wollen, damit es nicht weiter zerfallen
könne, daß wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen
wollen, damit die Ganzheit desselben vorhanden sei, daß wir an Zutaten
nur die kleinsten Dinge anbringen würden, deren Gestalt vollkommen
durch die gleichartigen Stücke bekannt wäre und in gleichmäßiger
Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden könnte, ferner als wir
eine Zeichnung in Farben angefertigt hatten, die darstellte, wie der
gereinigte und wieder hergestellte Altar aussehen würde, und endlich
als wir Schnitzereien von geringem Umfange, einzelne Standbilder und
dergleichen in unserem Sinne wieder hergestellt und zur Anschauung
gebracht hatten, ließ man uns gewähren. Von Hindernissen, die nicht
von der Obrigkeit ausgingen, von Verdächtigungen und ähnlichen
Vorkommnissen rede ich nicht, sie sind auch wenig zu meiner Kenntnis
gekommen.«

»Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk
unternommen«, sagte ich.

»Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert«, erwiderte er, »und was die
Wichtigkeit anbelangt, so hat sich wohl niemand mehr den Zweifeln
hingegeben, ob wir die nötige Sachkenntnis besäßen, als wir selber.
Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der Wesenheit der Sache
vorgenommen. Selbst dort, wo es deutlich erwiesen war, daß Teile des
Altars in der Zeit in eine andere Gruppe gestellt worden waren, als
sie ursprünglich gewesen sein konnten, ließen wir das Vorgefundene
bestehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmutz und Übertünchung,
befestigten das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das
Mangelnde, wo, wie ich gesagt habe, dessen Gestalt vollkommen bekannt
war, füllten alles, was durch Holzwürmer zerstört war, mit Holz aus,
beugten durch ein erprobtes Mittel den künftigen Zerstörungen dieser
Tiere vor und überzogen endlich den ganzen Altar, da er fertig war,
mit einem sehr matten Firnisse. Es wird einmal eine Zeit kommen, in
welcher vom Staate aus vollkommen sachverständige Männer in ein Amt
werden vereinigt werden, das die Wiederherstellung alter Kunstwerke
einleiten, ihre Aufstellung in dem ursprünglichen Sinne bewirken
und ihre Verunstaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn so
gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Verunstaltung hätten
hervorbringen können, so gut wird man in Zukunft auch andere gewähren
lassen, die minder zweifelsüchtig sind oder im Eifer für das Schöne
nach ihrer Art verfahren und das Wesen des Überkommenen zerstören.«

»Und glaubt ihr, daß ein Gesetz, welches verbietet, an dem Wesen
eines vorgefundenen Kunstwerkes etwas zu ändern, dem Verfalle und der
Zerstörung desselben für alle Zeiten vorbeugen würde?« fragte ich.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er; »denn es können Zeiten so
geringen Kunstsinnes kommen, daß sie das Gesetz selber aufheben; aber
auf eine längere Dauer und auf eine bessere Weise wäre doch durch ein
solches Gesetz gesorgt, als wenn gar keines wäre. Den besten Schutz
für Kunstwerke der Vorzeit würde freilich eine fortschreitende und
nicht mehr erlahmende Kunstempfindung gewähren. Aber alle Mittel,
auch in ihrer größten Vollkommenheit angewendet, würden den endlichen
Untergang eines Kunstwerkes nicht aufhatten können; dies liegt in der
immerwährenden Tätigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menschen und
in der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was ist, wie groß und gut
es sei, besteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck und geht vorüber. Und
so wird auch einmal über alle Kunstwerke, die jetzt noch sind, ein
ewiger Schleier der Vergessenheit liegen, wie er jetzt über denen
liegt, die vor ihnen waren.«

»Ihr arbeitet an der Herstellung eines zweiten Altares«, sagte ich,
»da ihr einen schon vollendet habt; würdet ihr auch noch andere
herstellen, da ihr sagt, daß es mehrere in dem Lande gibt?«

»Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es tun«, erwiderte er, »ich
würde sogar, wenn ich reich genug wäre, angefangene mittelalterliche
Bauwerke vollenden lassen. Da steht in Grünau hart an der Grenze
unseres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Turm, welcher der schönste
unseres Landes ist und der höchste wäre, wenn er vollendet wäre;
aber er ist nur ungefähr bis zu zwei Drittteilen seiner Höhe fertig
geworden. Dieser altdeutsche Turm wäre das Erste, welches ich
vollenden ließe. Wenn ihr wieder kommt, so führe ich euch in eine
Kirche, in welcher auf Landeskosten ein geschnitzter Flügelaltar
wieder hergestellt worden ist, der zu den bedeutendsten Kunstwerken
gehört, welche in dieser Art vorhanden sind.«


Wir traten bei diesen Worten den Rückweg aus dem Trockenhause in die
Arbeitstube an. Mein Begleiter sagte auf diesem Wege: »Da Eustach
jetzt vorzugsweise damit beschäftigt ist, die im Laufe befindlichen
Werke auszufertigen, so hat er seinen Bruder, der herangewachsen ist,
unterrichtet, und dieser versieht jetzt hauptsächlich das Geschäft des
Zeichnens. Er ist eben daran, die Verzierungen, die in unserem Lande
an Bauwerken, Holzarbeiten oder sonstwo vorkommen und die wir in
unseren Blättern von größeren Werken noch nicht haben, zu zeichnen.
Wir erwarten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An diesen
Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls sie lernen will. Nicht
bloß aus dem Großen, wenn wir das Große betrachteten, was unsere
Voreltern gemacht haben und was die kunstsinnigsten vorchristlichen
Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wieder in edlen Gebäuden
wohnen oder von edlen Geräten umringt sein, wenigstens wie die
Griechen in schönen Tempeln beten; sondern wir könnten uns auch im
Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unserer Zimmer könnten schöner
sein, die gewöhnlichen Geräte, Krüge, Schalen, Lampen, Leuchter, Äxte
würden schöner werden, selbst die Zeichnungen auf den Stoffen zu
Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in schönen Steinen;
er würde die leichten Bildungen der Vergangenheit annehmen, statt daß
jetzt oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt.
Ihr werdet mir Recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen
von Kreuzen, Rosen, Sternen denkt, die ihr in unseren Blättern
mittelalterlicher Bauwerke gesehen habt.«

Ich bewunderte den Mann, der, da er so redete, in einem sonderbaren,
ja abgeschmackten Kleide neben mir ging.

»Wenigstens Achtung vor Leuten, die vor uns gelebt haben, könnte
man aus solchen Bestrebungen lernen«, fuhr er fort, »statt daß wir
jetzt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenüber der
Unwissenheit unserer Voreltern reden zu hören. Das große Preisen von
Dingen erinnert zu oft an Armut von Erfahrungen.«


Wir waren bei diesen Worten wieder in die Werkstube gekommen und
verabschiedeten uns von dem Meister. Ich reichte ihm die Hand, die
er annahm, und schüttelte die seinige herzlich. Da wir aus dem Hause
getreten waren und ich umschaute, sah ich durch das Fenster, wie er
eben seine grüne Schürze herab nahm und wieder umband. Auch hörten wir
das Hobeln und Sägen wieder, das bei unserem Besuche des Werkhauses
ein wenig verstummt war.

Wir betraten den Gebüschpfad und kamen wieder in die Nähe des
Wohnhauses.

»Ihr habt nun meine ganze Behausung gesehen«, sagte mein Gastfreund.

»Ich habe ja Küche und Keller und Gesindestuben nicht gesehen«,
erwiderte ich.

»Ihr sollt sie sehen, wenn ihr wollt«, sagte er.

Ich nahm mein mehr im Scherze gesprochenes Wort nicht zurück, und wir
gingen wieder in das Haus.

Ich sah hier eine große gewölbte Küche, eine große Speisekammer, drei
Stuben für Dienstleute, eine für eine Art Hausaufseher, dann die
Waschstube, den Backofen, den Keller und die Obstkammer. Wie ich
vermutet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig eingerichtet.
Ich sah Mägde beschäftigt, und wir trafen auch den Hausaufseher in
seinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Körbchen, aus welchem
mein Beherberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen
Mauernische neben der Tür, welche sein bestimmter Platz zu sein
schien.

Wir gingen von diesen Räumen in das Gewächshaus. Es enthielt sehr
viele Pflanzen, meistens solche, welche zur Zeit gebräuchlich waren.
Auf den Gestellen standen Camellien mit gut gepflegten grünen
Blättern, Rhododendren, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe,
die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr mannigfaltigen Arten und
besonders viele neuholländische Gewächse. Von Rosen war die Teerose
in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten eben. An das
Gewächshaus stieß ein kleines Glashaus mit Ananas. Auf dem Sandwege
vor beiden Häusern standen Citronen- und Orangenbäume in Kübeln. Der
alte Gärtner hatte noch weißere Haare als sein Herr. Er war ebenfalls
ungewöhnlich gekleidet, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht
finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an sich hatte,
welches im Vereine mit seiner weißen Schürze mich eher an einen Koch
als an einen Gärtner erinnerte.

Daß die schmale Seite des Gewächshauses von Außen mit Rosen bekleidet
sei, wie die Südseite des Wohnhauses, fiel mir wieder auf, aber es
berührte mich nicht unangenehm.

Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der Wohnung desselben fanden,
war ebenso weiß gekleidet wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung stießen
die Kammern der Gehilfen.

»Ihr habt ihr jetzt alles gesehen«, sagte mein Gastfreund, da wir aus
diesen Kammern traten, »außer den Gastzimmern, die ich euch zeigen
werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehsohnes, die
wir aber jetzt nicht betreten können, weil wir ihn in seinem Lernen
stören würden.«

»Wir wollen das auf eine spätere Stunde lassen, in der ich euch daran
erinnern werde«, sagte ich, »jetzt habe ich aber ein anderes Anliegen
an eure Güte, das mir näher am Herzen ist.«

»Und dieses nähere Anliegen?« fragte er.

»Daß ihr mir endlich sagt«, antwortete ich, »wie ihr zu einer so
entschiedenen Gewißheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid.«

»Der Wunsch ist ein sehr gerechter«, entgegnete er, »und um so
gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund gewesen ist,
weshalb ihr zu unserem Hause herauf gegangen seid, und als unser
Streit über das Gewitter der Grund gewesen ist, daß ihr länger da
geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und setzen wir
uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch auf dem Wege und
auf der Bank meine Sache erzählen.«


Wir schlugen einen breiten Sandpfad ein, der Anfangs von größeren
Obstbäumen und später von hohen, schattenden Linden begrenzt war.
Zwischen den Stämmen standen Ruhebänke, auf dem Sande liefen pickende
Vögel und in den Zweigen wurde heute wieder das Singen vollbracht,
welches ich gestern schon wahrgenommen hatte.

»Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung
gesehen«, fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin
gingen, »sie erklären schon einen Teil unserer Sache.«

»Ich habe sie gesehen«, antwortete ich, »besonders habe ich das
Barometer, Thermometer sowie einen Luftblau- und Feuchtigkeitsmesser
bemerkt; aber diese Dinge habe ich auch, und sie haben eher, da ich
sie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Niederschlag als auf
sein Gegenteil gedeutet.«

»Das Barometer ist gefallen«, erwiderte er, »und wies auf geringeren
Luftdruck hin, mit welchem sehr oft der Eintritt von Regen verbunden
ist.«

»Wohl«, sagte ich.

»Der Zeiger des Feuchtigkeitsmessers«, fuhr er fort, »rückte mehr
gegen den Punkt der größten Feuchtigkeit.«

»Ja, so ist es gewesen«, antwortete ich.

»Aber der Electricitätsmesser«, sagte er, »verkündigte wenig
Luftelectricität, daß also eine Entladung derselben, womit in unseren
Gegenden gerne Regen verbunden ist, nicht erwartet werden konnte.«

»Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht«, entgegnete
ich, »aber die electrische Spannung steht nicht so sehr im
Zusammenhange mit Wetterveränderungen und ist meistens nur ihre Folge.
Zudem hat sich gestern gegen Abend Electricität genug entwickelt, und
alle Anzeichen, von denen ihr redet, verkündeten einen Niederschlag.«

»Ja, sie verkündeten ihn und er ist erfolgt«, sagte mein Begleiter;
»denn es bildeten sich aus den unsichtbaren Wasserdünsten sichtbare
Wolken, die ja wohl sehr fein zerteiltes Wasser sind. Da ist der
Niederschlag. Auf die geringe electrische Spannung legte ich kein
Gewicht; ich wußte, daß, wenn einmal Wolken entständen, sich auch
hinlängliche Electricität einstellen würde. Die Anzeichen, von denen
wir geredet haben, beziehen sich aber nur auf den kleinen Raum, in dem
man sich eben befindet, man muß auch einen weiteren betrachten, die
Bläue der Luft und die Gestaltung der Wolken.«

»Die Luft hatte schon gestern Vormittags die tiefe und finstere
Bläue«, erwiderte ich, »welche dem Regen vorangeht, und die
Wolkenbildung begann bereits am Mittage und schritt sehr rasch
vorwärts.«

»Bis hieher habt ihr Recht«, sagte mein Begleiter, »und die Natur hat
euch auch Recht gegeben, indem sie eine ungewöhnliche Menge von Wolken
erzeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale als die wir bisher
besprochen haben, welche euch entgangen sind.

Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen
Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen
sie von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Oft vermag
die Wissenschaft recht wohl den Grund der langen Erfahrung anzugeben.
Ihr wißt, daß in Gegenden ein kleines Wölklein, an einer bestimmten
Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben
bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein
trüberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoß aus
einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und daß der
Regen immer kömmt. Solche Anzeichen hat auch diese Gegend, und es sind
gestern keine eingetreten, die auf Regen wiesen.«

»Merkmale, die nur dieser Gegend angehören«, erwiderte ich, »konnte
ich nicht beobachten; aber ich glaube, daß diese Merkmale allein euch
doch nicht bestimmen konnten, einen so entscheidenden Ausspruch zu
tun, wie ihr getan habt.«

»Sie bestimmten mich auch nicht«, antwortete er, »ich hatte auch noch
andere Gründe.«

»Nun?«

»Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher geredet haben, sind sehr
grobe«, sagte er, »und werden meistens von uns nur mittelst räumlicher
Veränderungen erkannt, die, wenn sie nicht eine gewisse Größe
erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden können. Der
Schauplatz, auf welchem sich die Witterungsverhältnisse gestalten, ist
sehr groß; dort, wohin wir nicht sehen und woher die Wirkungen auf
unsere wissenschaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mögen
vielleicht Ursachen und Gegenanzeigen sein, die, wenn sie uns bekannt
wären, unsere Vorhersage in ihr Gegenteil umstimmen würden. Die
Anzeichen können daher auch täuschen. Es sind aber noch viel feinere
Vorrichtungen vorhanden, deren Beschaffenheit uns ein Geheimnis ist,
die von Ursachen, die wir sonst gar nicht mehr messen können, noch
betroffen werden und deren Wirkung eine ganz gewisse ist.«

»Und diese Werkzeuge?«

»Sind die Nerven.«

»Also empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Regen kommen wird?«

»Durch meine Nerven empfinde ich das nicht«, antwortete er. »Der
Mensch stört leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die
Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht
mehr so deutlich, als sie sonst wohl könnten. Auch hat ihm die Natur
etwas viel Höheres zum Ersatze gegeben, den Verstand und die Vernunft,
wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag. Ich
meine die Nerven der Tiere.«

»Es wird wohl wahr sein, was ihr sagt«, antwortete ich. »Die Tiere
hängen mit der tiefer stehenden Natur noch viel unmittelbarer zusammen
als wir. Es wird nur darauf ankommen, daß diese Beziehungen ergründet
werden und dafür ein Ausdruck gefunden wird, besonders, was das
kommende Wetter betrifft.«

»Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergründet«, entgegnete er,
»noch weniger den Ausdruck dafür gefunden; beides dürfte in dieser
Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufällig einige
Beobachtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wiederholt und daraus
Erfahrungen gesammelt und Ergebnisse zusammen gestellt, die eine
Voraussage mit fast völliger Gewißheit möglich machen. Viele Tiere
sind von Regen und Sonnenschein so abhängig, ja bei einigen handelt es
sich geradezu um das Leben selber, je nachdem Sonne oder Regen ist,
daß ihnen Gott notwendig hat Werkzeuge geben müssen, diese Dinge
vorhinein empfinden zu können. Diese Empfindung als Empfindung kann
aber der Mensch nicht erkennen, er kann sie nicht betrachten, weil
sie sich den Sinnen entzieht; allein die Tiere machen in Folge dieser
Vorempfindung Anstalten für ihre Zukunft, und diese Anstalten kann der
Mensch betrachten und daraus Schlüsse ziehen. Es gibt einige, die ihre
Nahrung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem
Falle. Manche müssen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre
Brut in Sicherheit bringen. Viele müssen ihre für den Augenblick
aufgeschlagene Wohnung verlassen oder eine andere Arbeit suchen.
Da nun die Vorempfindung gewiß sein muß, wenn die daraus folgende
Handlung zur Sicherung führen soll, da die Nerven schon berührt
werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge
schweigen, so kann eine Voraussage über das Wetter, die auf eine
genaue Betrachtung der Handlungen der Tiere gegründet ist, mehr Anhalt
gewähren als die aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen
genommen.«

»Ihr eröffnet da eine neue Richtung.«

»Die Menschen haben darin schon Vieles erfahren. Die besten
Wetterkenner sind die Insekten und überhaupt die kleinen Tiere. Sie
sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies tun will,
nicht leicht zu finden sind und da man ihre Handlungen auch nicht
immer leicht versteht. Aber von kleineren Tieren hängen oft größere
ab, deren Speise jene sind, und die Handlungen kleinerer Tiere haben
Handlungen größerer zur Folge, welche der Mensch leichter überblickt.
Freilich steht da ein Schluß in der Mitte, der die Gefahr zu irren
größer macht, als sie bei der unmittelbaren Betrachtung und der
gleichsam redenden Tatsache ist. Warum, damit ich ein Beispiel
anführe, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum
fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser?
Die Gefahr, zu irren, wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der
Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das
Sicherste bleiben immer die Herden der kleinen Tiere. Das habt ihr
gewiß schon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger sind und daß die
Ameisen den Regen vorhersagen. Man muß das Leben dieser kleinen Dinge
betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen anschauen, oft zu ihnen
kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche
Grenzen ihre Gebiete haben, welche die Bedingungen ihres Glückes sind
und wie sie denselben nachkommen. Darum wissen Jäger, Holzhauer und
Menschen, welche einsam sind und zur Betrachtung dieses abgesonderten
Lebens aufgefordert werden, das Meiste von diesen Dingen und wie aus
dem Benehmen von Tieren das Wetter vorherzusagen ist. Es gehört aber
wie zu allem auch Liebe dazu.«

»Hier ist der Sitz«, unterbrach er sich, »von welchem ich früher
gesprochen habe. Hier ist die schönste Linde meines Gartens, ich habe
einen bessern Ruheplatz unter ihr anbringen lassen und gehe selten
vorüber, ohne mich eine Weile nieder zu setzen, um mich an dem Summen
in ihren Ästen zu ergötzen. Wollen wir uns setzen?«

Ich willigte ein, wir setzten uns, das Summen war wirklich über unsern
Häuptern zu hören, und ich fragte, »Habt ihr nun diese Beobachtungen
an den Tieren, wie ihr sagtet, gemacht?«

»Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht ausgegangen«, antwortete
er; »aber da ich lange in diesem Hause und in diesem Garten gelebt
habe, hat sich Manches zusammengefunden; aus dem Zusammengefundenen
haben sich Schlüsse gebaut, und ich bin durch diese Schlüsse umgekehrt
wieder zu Betrachtungen veranlaßt worden. Viele Menschen, welche
gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt
zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es
nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab
umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab
mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt
behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und
seines Treibens, ja sogar seiner Geschichte, nur ein anderer Zweig der
Naturwissenschaft sei, wenn er auch für uns Menschen wichtiger ist,
als er für Tiere wäre. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in
diesem Zweige Manches zu erfahren und mir Einiges zu merken. Doch ich
will zu meinem Gegenstande zurückkehren. Von dem, was die kleinen
Tiere tun, wenn Regen oder Sonnenschein kommen soll, oder wie ich
überhaupt aus ihren Handlungen Schlüsse ziehe, kann ich jetzt nicht
reden, weil es zu umständlich sein würde, obwohl es merkwürdig ist;
aber das kann ich sagen, daß nach meinen bisherigen Erfahrungen
gestern keines der Tierchen in meinem Garten ein Zeichen von Regen
gegeben hat.

Wir mögen von den Bienen anfangen, welche in diesen Zweigen summen,
und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines
Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der sich seine
Speise trocknet. Weil mich nun diese Tiere, wenn ich zu ihnen kam, nie
getäuscht haben, so folgerte ich, daß die Wasserbildung, welche unsere
gröberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht über die
Entstehung von Wolken hinausgehen würde, da es sonst die Tiere gewußt
hätten. Was aber mit den Wolken geschehen würde, erkannte ich nicht
genau, ich schloß nur, daß durch die Abkühlung, die ihr Schatten
erzeugen müßte, und durch die Luftströmungen, denen sie selber ihr
Dasein verdankten, ein Wind entstehen könnte, der in der Nacht den
Himmel wieder rein fegen würde.«

»Und so geschah es auch«, sagte ich.

»Ich konnte es um so sicherer voraussehen«, erwiderte er, »weil es
an unserem Himmel und in unserem Garten oft schon so gewesen ist wie
gestern und stets so geworden ist wie heute in der Nacht.«

»Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet«, sagte ich, »und da
steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand
gegenüber. Er beweist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man
oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen
soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren
zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken,
die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr
redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.«

»Diesen Glauben hege ich auch«, erwiderte er. »Euch Jüngeren wird es
in den Naturwissenschaften überhaupt leichter, als es den Älteren
geworden ist. Man schlägt jetzt mehr die Wege des Beobachtens
und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermutungen,
Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange
nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind.
Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man
als Hilfe zu fernern Erringungen.

Man wendet sich jetzt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige
zu, statt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es
wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstande eine
Aufmerksamkeit schenken wird, von dem wir jetzt gesprochen haben. Wenn
die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahrzehnte in der Naturwissenschaft
gewesen ist, durch Jahrhunderte anhält, so können wir gar nicht ahnen,
wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jetzt, daß das noch
unbebaute Feld unendlich größer ist als das bebaute.«

»Ich habe gestern einige Arbeiter bemerkt«, sagte ich, »welche, obwohl
der Himmel voll Wolken war, doch Wasser pumpten, ihre Gießkannen
füllten und die Gewächse begossen. Haben diese vielleicht auch
gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben sie bloß eure Befehle
vollzogen, wie die Mäher, die an dem Meierhofe Gras abmähten?«

»Das Letztere ist der Fall«, erwiderte er. »Diese Arbeiter glauben
jedes Mal, daß ich mich irre, wenn der äußere Anschein gegen mich ist,
wie oft sie auch durch den Erfolg belehrt worden sein mögen. Und so
werden sie gewiß auch gestern geglaubt haben, daß Regen komme. Sie
begossen die Gewächse, weil ich es angeordnet habe und weil es bei
uns eingeführt ist, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht
nachkömmt, des Dienstes entlassen wird. Es sind aber endlich auch noch
andere Dinge außer den Tieren, welche das Wetter vorhersagen, nehmlich
die Pflanzen.«

»Von den Pflanzen wußte ich es schon, und zwar besser, als von den
Tieren«, erwiderte ich.

»In meinem Garten und in meinem Gewächshause sind Pflanzen«, sagte er,
»welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen,
besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen
war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen
sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe. Mir kommen diese
Dinge so zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie
weit besser und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der
neuen Wissenschaftlichkeit wandelt und die Hilfsmittel benützt, die es
jetzt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne
Richtung einschlage, so werdet ihr in derselben ungewöhnlich große
Fortschritte machen.«

»Woher schließt ihr denn das?« fragte ich.

»Aus eurem Aussehen«, erwiderte er, »und schon aus der sehr bestimmten
Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt.«

»Diese Aussage war aber falsch«, antwortete ich, »und aus ihr hättet
ihr gerade das Gegenteil schließen können.«

»Nein, das nicht«, sagte er, »eure Äußerung zeigte, weil sie so
bestimmt war, daß ihr den Gegenstand genau beobachtet habt, und weil
sie so warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß
eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen
Umstand, der auf sie Einfluß hatte, nicht kanntet und ihn auch nicht
leicht kennen konntet; sonst würdet ihr anders geurteilt haben.«

»Ja, ihr redet wahr, ich würde anders geurteilt haben«, antwortete
ich, »und ich werde nicht wieder so voreilig urteilen.«


»Ihr habt gestern gesagt, daß ihr euch mit Naturdingen beschäftiget«,
fuhr er fort, »darf ich wohl fragen, ob ihr eine bestimmte Richtung
gewählt habt und welche.«

Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht und
antwortete: »Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender.
Ich besitze gerade so viel Vermögen, um unabhängig leben zu können,
und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem
alle Wissenschaften angefangen; aber davon bin ich zurückgekommen und
habe mir nur hauptsächlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung
zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu
ergänzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene
Landesteile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf und
verfertige Zeichnungen. Da die Werke vorzüglich von Gebirgen handeln,
so suche ich auch vorzüglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch
Vieles, das mir lieb ist.«

»Diese Wissenschaft ist eine sehr weite«, entgegnete mein Gastfreund,
»wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie
schließt manche Wissenschaften ein und setzt manche voraus. Die Berge
sind wohl jetzt, wo diese Wissenschaft noch jung ist und wo man ihre
ersten und greifbarsten Züge sammelt, von der größten Bedeutung; aber
es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre einfache und
schwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer
Wichtigkeit sein.«

»Sie wird gewiß wichtig sein«, antwortete ich. »Ich habe die Ebene und
ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich
meine jetzige Aufgabe betrieb und ehe ich die Gebirge kannte.«

»Ich glaube«, entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen
Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der
des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen,
das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer
voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der
Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns
in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie
auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht
gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wozu etwas da sein könne
und wozu es Gott bestellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz
hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle
selber in den Gebirgen gesammelt und habe ihren Bruch aus den Felsen,
ihr Absägen, ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit
hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum
diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe.«

»Habt ihr alle Arten unsers Gebirges?« fragte ich.

»Ich habe nicht alle«, antwortete er, »ich hätte sie vielleicht
nach und nach erhalten können, wenn ich meine Besuche stetig hätte
fortsetzen können. Aber seit ich alt werde, wird es mir immer
schwieriger. Wenn ich jetzt zu seltnen Zeiten einmal an den Rand des
Simmeises hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht mehr ist wie in der
Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare
Unmöglichkeit. Weil ich nun nicht mehr so große Strecken durchreisen
kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Blöcken aufzusuchen,
so wird die Ausbeute immer geringer; sie wird auch aus dem Grunde
geringer, weil ich bereits so viel habe und die Stellen also seltener
sind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor selber
gesammelt habe, so kann ich wohl auch kein Stück an meinem Hause
anbringen, das mir von fremder Hand käme.«

»Ihr habt also wahrscheinlich das Haus selber gebaut oder es sehr
umgestaltet?« fragte ich.

»Ich habe es selber gebaut«, antwortete er. »Das Wohnhaus, welches zu
den umliegenden Gründen gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr
gestern, da wir auf dem Bänkchen der Felderrast saßen, Leute Gras
mähen gesehen habt. Ich habe ihn von dem früheren Besitzer sammt allen
Ländereien, die dazu gehören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel
gebaut und habe den Meierhof zum Wirtschaftsgebäude bestimmt.«

»Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu angelegt haben?«

»Das ist eine eigene Entstehungsgeschichte«, erwiderte er. »Ich muß
sagen: ich habe ihn neu angelegt, und ich muß sagen: ich habe ihn
nicht neu angelegt.

Ich habe mir mein Wohnhaus für den Rest meiner Tage auf einen Platz
gebaut, der mir entsprechend schien. Der Meierhof stand in dem Tale,
wie meistens die Gebäude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man
häufig in den Wirtschaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich
wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da sie nun fertig war,
sollte der Garten, der an dem Meierhofe stand und nur mit vereinzelten
Bäumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden.
Die Linde, unter welcher wir jetzt sitzen, sowie ihre Kameraden, die
um sie herum stehen oder einen Gartenweg bilden, stehen da, wo sie
gestanden sind. Der große alte Kirschbaum auf der Anhöhe stand mitten
im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten, legte einen Weg zu
dem Kirschbaume hinauf an und baute um ihn ein Bänklein herum. Und
so ging es mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter sehr
bedeutende, daß man es nicht glauben sollte, haben wir übersetzt. Wir
haben sie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, sie mit
Anwendung von Seilen umgelegt, hierher geführt und mit Hilfe von
Hebeln und Balken in die vorgerichteten, gut zubereiteten Gruben
gesenkt. Waren die Zweige und Äste gehörig gekürzt, so schlugen sie im
Frühlinge desto kräftiger an, gleichsam als wären die Bäume zu neuem
Leben erwacht. Die Gesträuche und das Zwergobst ist alles neu gesetzt
worden. In kürzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die
Freude, zu sehen, daß der Garten so zusammengewachsen erschien, als
wäre er nie an einem andern Platze gewesen. In der Nähe des Meierhofes
habe ich manchen Rest von Bäumen fällen lassen, wenn er dem
Getreidebau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die
Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich
auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte.«

»Ihr habt da einen reizenden Sitz«, bemerkte ich.

»Nicht der Sitz allein, das ganze Land ist reizend«, erwiderte er,
»und es ist gut da wohnen, wenn man von den Menschen kömmt, wo sie ein
wenig zu dicht an einander sind, und wenn man für die Kräfte seines
Wesens Tätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man auch einen Blick in sich
selbst tun. Doch soll man nicht stetig mit sich allein auch in dem
schönsten Lande sein; man muß zu Zeiten wieder zu seiner Gesellschaft
zurückkehren, wäre es auch nur, um sich an manche glänzende
Menschentrümmer, die aus unsrer Jugend noch übrig sind, zu erquicken,
oder an manchem festen Turm von einem Menschen empor zu schauen, der
sich gerettet hat. Nach solchen Zeiten geht das Landleben wieder wie
lindes Öl in das geöffnete Gemüt. Man muß aber weit von der Stadt weg
und von ihr unberührt sein. In der Stadt kommen die Veränderungen,
welche die Künste und die Gewerbe bewirkt haben, zur Erscheinung:
auf dem Lande die, welche naheliegendes Bedürfnis oder Einwirken der
Naturgegenstände auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen
sich nicht, und hat man das Erste hinter sich, so erscheint das Zweite
fast wie ein Bleibendes, und dann ruht vor dem Sinne ein schönes
Bestehendes und zeigt sich dem Nachdenken ein schönes Vergangenes, das
sich in menschlichen Wandlungen und in Wandlungen von Naturdingen in
eine Unendlichkeit zurückzieht.«

Ich antwortete nichts auf diese Rede, und wir schwiegen eine Weile.

Endlich sagte er wieder: »Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der
Nacht bei uns?«

»Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin«, antwortete ich, »ist
es ein angenehmes Gefühl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu
dürfen.«

»So ist es gut«, erwiderte er, »ihr müßt aber auch erlauben, daß ich
euch einen Teil des Vormittags allein lasse, weil die Stunde naht, in
der ich zu Gustav gehen und ihm in seinem Lernen beistehen muß.«

»Tut euch nur keinen Zwang an«, entgegnete ich.

»So werde ich euch verlassen«, antwortete er, »geht indessen ein wenig
in dem Garten herum, oder seht das Feld an, oder besucht das Haus.«

»Ich wünsche für den Augenblick noch eine Weile unter diesem Baume
sitzen bleiben zu dürfen«, erwiderte ich.

»Tut, wie es euch gefällt«, antwortete er, »nur erinnert euch, daß
ich gestern gesagt habe, daß in diesem Hause um zwölf Uhr zu Mittag
gegessen wird.«

»Ich erinnere mich«, sagte ich, »und werde keine Unordnung machen.«

Eine kleine Weile nach diesen Worten stand er auf, strich sich mit
seiner Hand die Tierchen und sonstigen Körperchen, die von dem Baume
auf ihn herabgefallen waren, aus den Haaren, empfahl sich und ging in
der Richtung gegen das Haus zu.



Der Abschied

Ich saß noch eine geraume Zeit unter dem Baume und legte mir zurecht,
was ich gesehen und vernommen. Die Bienen summten in dem Baume, und
die Vögel sangen in dem Garten. Das Haus, in welches der alte Mann
gegangen war, blickte mit einzelnen Teilen, sei es von der weißen
Wand, sei es von dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume herüber,
und zu meiner Rechten ging jenseits der Gebüsche, in der Gegend, in
welcher ich das Schreinerhaus vermutete, ein dünner Rauch in die
Luft empor. Das Singen der Vögel und das Summen der Bienen war mir
beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an solche
andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch
einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herrührten,
entweder daß man das Quieken einer Pumpe hörte, mit der man Wasser
pumpte, und mittelst Rinnen in eine Tonne leitete, um es abends zum
Begießen zu verwenden, oder daß eine menschliche Rede ferner oder
näher erscholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die
verschiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Grün der Bäume
hereinsahen, waren ganz blau und zeigten, wie sehr mein Gastfreund mit
seiner Voraussage des schönen Wetters Recht gehabt hatte.

Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken und ging in dem Garten empor.

Ich ging zu dem großen Kirschbaume. Ich suchte das Freie, weil ich in
dem Garten wegen der beschränkten Aussicht doch nicht einen genauen
Überblick in Hinsicht der Witterungsverhältnisse machen konnte. Hier
oben stand der Himmel als eine große, ausgedehnte Glocke über mir,
und in der ganzen Glocke war kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge,
welches wir gestern nicht hatten sehen können, stand heute in seiner
ganzen Klarheit an der Länge des südlichen Himmels dahin. Vor ihm
waren die Vorlande mit manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern,
näher zu mir zeigte sich mancher Turm von einer Ortschaft, die ich
kannte, und unter meinen Füßen ruhten der Garten und das Haus,
in welchem ich gestern so freundlich aufgenommen worden war. Die
Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens
standen, und die gestern ganz ruhig gewesen waren, befanden sich heute
in einem zwar schwachen, aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken, daß
das Wetter nicht nur jetzt so schön sei, sondern daß es noch lange so
schön bleiben werde.

Von dem großen Kirschbaume ging ich wieder in den Garten zurück und
betrachtete verschiedene Gegenstände.

Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus. Ich konnte nun manches
genauer ansehen, als es mir früher möglich gewesen war, da ich mit
meinem Begleiter das Haus gleichsam nur durchschritten hatte. Der
weiße Gärtner gesellte sich zu mir, erläuterte mir manches, gab mir
über Verschiedenes Auskunft und beantwortete bereitwillig alle meine
Fragen, wie weit seine Kenntnisse und seine Übersicht es zuließen.
Als ich das Gebäude verlassen wollte, sagte er mir, er wolle mir noch
etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergessen habe. Er führte
mich auf einen Platz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten
der Sonne zugänglich und doch durch Bäume und Gebüsche, die ihn in
einer gewissen Entfernung umgaben, vor heftigen Winden geschützt war.
Mitten auf dem Platze stand ein kleines gläsernes Haus, welches zum
Teile in der Erde steckte. Dieser Umstand und dann der, daß es von
Bäumen umringt war, machten, daß ich es früher nicht wahrgenommen
hatte. Als wir näher kamen, sah ich, daß es ganz von Glas sei und nur
so viel Gerippe habe, als sich zur Festigkeit der Tafeln notwendig
zeige. Es war auch mit einem starken eisernen Gitter, wahrscheinlich
des Hagels wegen, umspannt. Als wir die einigen Stufen von der Fläche
des Gartens in das Innere hinabgestiegen waren, sah ich, daß sich
Pflanzen in dem Hause befanden, und zwar nur eine einzige Gattung,
nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten standen in Tausenden
von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden standen frei, die
langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden
neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die
Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln über unseren
Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum
durchdringen konnte und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht
beirrt war. Die Töpfe standen in Reihen auf hölzernen Gestellen,
die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so daß man in allen
Richtungen herum gehen und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte
mich herum und zeigte mir die Abteilungen und Unterabteilungen, in
welchen die Gewächse beisammenstanden.

Ich sagte, daß ich mich freue, daß mein Gastfreund auf die Familie
dieser Pflanzen eine solche Sorgfalt wende, da sie gewiß besonders und
merkwürdig wären.

»Wenn man sie länger betrachtet und länger mit ihnen umgeht, werden
sie immer merkwürdiger«, antwortete mein Nachbar. »Die Stellung
ihrer Bildungen ist so mannigfaltig, die Stacheln können zu einer
wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blüten sind
verwunderlich wie Märchen. In einem Monate würdet ihr sehr schöne
sehen, jetzt sind sie noch zu wenig entwickelt.«

Ich sagte ihm, daß ich schon Blüten gesehen habe, nicht bloß solche,
die, wie schön sie seien, doch überall wachsen, sondern auch andere,
die selten sind, und solche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft
vereinen. Ich sagte ihm, daß ich in früheren Zeiten Pflanzenkunde
getrieben habe, zwar nicht in Bezug auf Gartenpflege, sondern zu
meiner Belehrung und Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Letzte
gewesen wären, dem ich eine Aufmerksamkeit geschenkt habe.

»Wenn der Herr alte Sachen sammelt«, sagte er, »so wäre es wohl auch
recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen täte. Im Inghofe ist in
dem Gewächshause ein Cereus, der stärker als ein Mannesarm sammt
seiner Bekleidung ist. Er geht an der Wand empor, biegt sich um
und wächst an der Decke des Hauses hin, an welcher er mit Bändern
befestigt ist. Der untere Teil ist schon Holz geworden, daß man Namen
eingeschnitten hat. Ich glaube, es ist ein Cereus peruvianus. Sie
schätzen ihn nicht so hoch, und der Herr sollte den Cereus kaufen,
wenn man auch wegen seiner Länge drei Wägen aneinander binden müßte,
um ihn herüber bringen zu können. Er ist gewiß schon zweihundert Jahre
alt.«

Ich antwortete auf diese Rede nicht, um ihm seine Zeitrechnung in
Hinsicht der Cactuspflege in Europa nicht zu stören.

Ich dankte ihm, da ich endlich alles gesehen hatte, für seine Mühe und
verließ das kleine Haus. Er verabschiedete sieh sehr freundlich und
mit vielen Verbeugungen.

Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch welches mein Gastfreund mich
gestern hereingelassen hatte, weil ich auch außerhalb des Gartens ein
wenig herumsehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe beschäftigt
war, öffnete mir die Tür, weil ich die Einrichtung des Schlosses nicht
kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels,
auf welcher ich gestern heraufgekommen war, in mehreren Richtungen
herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im
Allgemeinen sehr wohl kannte, so hatte ich mich doch nie so lange in
ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu können. Ich sah
jetzt, daß es ein sehr fruchtbarer, schöner Teil sei, der mich
aufgenommen hatte, daß sich anmutige Stellen zwischen die Krümmungen
der Hügel hineinziehen und daß ein dichtes Bewohntsein der Gegend
etwas sehr Heiteres erteile. Der Tag wurde nach und nach immer wärmer,
ohne heiß zu sein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Rosenblüte
weit mehr als zu einer anderen auf den Feldern ist. In dieser Zeit
sind alle Feldgewächse grün, sie sind im Wachsen begriffen, und wenn
nicht viele Wiesen in der Gegend sind, auf welchen zu jener Zeit die
Heuernte vorkömmt, so haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern und
lassen sie allein unter der befruchtenden Sonne.

Die Stille war wie in dem Hochgebirge; aber sie war nicht so einsam,
weil man überall von der Geselligkeit der Nährpflanzen umgeben war.



Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog,
erinnerte mich daran, daß es Mittag sei.

Ich ging dem Hause zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der
Glockenstange geöffnet, und ich ging in das Speisezimmer. Dort fand
ich meinen Gastfreund und Gustav, und wir setzten uns zu Tische. Wir
drei waren allein bei dem Mahle.

Während des Essens sagte mein Gastfreund: »Ihr werdet euch wundern,
daß wir so allein unsere Speisen verzehren. Es ist in der Tat sehr zu
bedauern, daß die alte Sitte abgekommen ist, daß der Herr des Hauses
zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sitzt. Die
Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft
lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein angenehmes
gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der
Menschlichkeit gut ist, von der Familie kömmt, so werden sie nicht
bloß gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch
gute Menschen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hause wie an einer
unverrückbaren Kirche hängen und denen der Herr ein zuverlässiger
Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, für die Arbeit
bezahlt werden und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehören sie
nicht zu ihm, nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke, widerstreben
ihm, verlassen ihn leicht und fallen, da sie familienlos und ohne
Bildung sind, leicht dem Laster anheim. Die Kluft zwischen den
sogenannten Gebildeten und Ungebildeten wird immer größer; wenn noch
erst auch der Landmann seine Speisen in seinem abgesonderten Stübchen
verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unterscheidung, wo eine
natürliche nicht vorhanden gewesen wäre.«

»Ich habe«, fuhr er nach einer Weile fort, »diese Sitte in unserem
hiesigen Hause einführen wollen; allein die Leute waren auf eine
andere Weise herangewachsen, waren in sich selber hineingewachsen,
konnten sich an ein Fremdes nicht anschließen und hätten nur die
Freiheit ihres Wesens verloren. Es ist kein Zweifel, daß sie sich
nach und nach in das Verhältnis würden eingelebt haben, besonders die
Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin so alt,
daß das Unternehmen weit über den Rest meiner Jahre hinausgeht.
Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und jüngere
Nachfolger mögen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung
teilen.«

Mir fiel bei dieser Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohltuend
ist, daß wenigstens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem
Mittagstische essen.

Die Zeit nach dem Mittagsessen ward dazu bestimmt, den Meierhof zu
besuchen, und Gustav durfte uns begleiten.

Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen Kirschbaume vorüber
und auf der Höhe der Felder dahin führt. Dieser Weg, sagte mein
Gastfreund, sei mir schon bekannt; sondern wir gingen in der Nähe der
Bienenhütte durch ein Pförtchen in das Freie und gingen auf einem
Pfade über den sanften Abhang hinab, der noch mit hohen Obstbäumen,
die die besseren Arten des Landes trugen und von dem Meierhofgarten
übrig geblieben waren, bedeckt war. Die Wiesen, über die wir
wandelten, waren so gut, wie ich sie selten angetroffen habe.

Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, sah ich, daß es ein weitläufiges
Viereck war wie die größeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und
da daran gebessert und daß man es durch Zubauten erweitert hatte. Der
Hofraum war an den Gebäuden herum mit breiten Steinen gepflastert, der
übrige Teil desselben war mit grobem Quarzsande bedeckt, der öfter
umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche diesen Raum umgaben,
enthielten die Ställe, Scheunen, Wagengewölbe und Wohnungen. Das
Vorratshaus stand weiter entfernt in dem Garten. Wir besahen die
Tiere, welche eben zu Hause waren, von den Pferden und Rindern
angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die
Rinder war hinter dem Hause ein schöner Platz eingefangen, auf welchem
sie in freie Luft gelassen werden konnten. Es strömte frisches Wasser
in einer tiefen Steinrinne durch den Platz, von welchem sie trinken
konnten. Ich hatte diese Einrichtung nie gesehen, und sie gefiel mir
sehr.

Ein ähnlicher Platz war für das Federvieh eingefangen, und nicht weit
davon war ein Anger, auf welchem sich die Füllen tummeln konnten. Wir
besuchten auch die Wohnungen der Leute. Hier fielen mir die großen,
schönen Steinrahmen auf, die an den Fenstern gesetzt waren, auch
konnte man leicht die bedeutende Vergrößerung der Fenster sehen. In
der Wagenhalle waren nicht bloß die Wägen und anderen Fahrzeuge,
sondern auch die übrigen Landwirtschaftsgeräte in Vorrate
vorhanden. Die Düngerstätte, welche auch hier wie in den meisten
Wirtschaftshäusern unseres Landes in dem Hofe gewesen war, ist auf
einen Platz hinter dem Hause verwiesen worden, den ringsum hohe
Gebüsche umfingen.

»Es ist hier noch Vieles im Entstehen und Werden begriffen«, sagte
mein Gastfreund, »aber es geht langsam vorwärts. Man muß die
Vorurteile der Leute schonen, die unter anderen Umgebungen
herangewachsen und sie gewohnt sind, damit sie nicht durch das Neue
beirrt werden und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir müssen uns
beruhigen, daß schon so Vieles geschehen ist, und auf das Weitere
hoffen.«

Die Leute, welche dieses Haus bewohnten, waren damit beschäftigt, das
Heu, welches gestern gemäht worden war, einzubringen oder, wo es not
tat, vollkommen zu trocknen. Mein Gastfreund redete mit Manchem und
fragte um Verschiedenes, das sich auf die täglichen Geschäfte bezog.

Als wir von der entgegengesetzten Seite des Hauses fortgingen, sahen
wir auch den Garten, in welchem die Gemüse und andere Dinge für den
Gebrauch des Hofes gezogen wurden.

Auf dem Rückwege schlugen wir eine andere Richtung ein, als auf
der wir gekommen waren. Hatten wir auf unserem Herwege den großen
Kirschbaum nördlich gelassen, so ließen wir ihn jetzt südlich, so daß
es schien, daß wir den ganzen Garten des Hauses umgehen würden. Wir
stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern
gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei und
daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg
führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen
Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war,
entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter:
»Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Hügel herab gezeigt
habe und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe
und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte.
Ihr seht, daß die Stellen an dem Bache versumpft sind und saures Gras
tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen und das mildeste Gras zu erzielen,
wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er schneller abflösse,
die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen
mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jetzt den Grund zeigen,
weshalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches
Erlenschößlinge wachsen. Wenn ihr näher herzutretet, so werdet ihr
sehen, daß diese Schößlinge aus dicken Blöcken, gleichsam aus Knollen
und Höckern von Holz hervorwachsen, welches Holz teils über der Erde
ist, teils in dem feuchten Boden derselben steckt.«

Wir waren bei diesen Worten zu dem Bache hinzugegangen, und ich sah,
daß es so war.

»Diese ungestalteten Anhäufungen von Holz«, fuhr er fort, »aus denen
die dünnen Ruten oder krüppelhafte Äste hervorragen, bilden sich hier
in sumpfigem Boden, sie entstehen aber auch im Sande oder in Steinen
und sind ein Aftererzeugnis des sonst recht schön emporwachsenden
Erlenbaumes. In dem vielteiligen Streben des Holzes, eine Menge
Ruten oder zwieträchtige Äste anzusetzen und sich selber dabei zu
vergrößern, entsteht ein solches Verwinden und Drehen der Fasern und
Rinden, daß, wenn man einen solchen Block auseinandersägt und die
Sägefläche glättet, sich die schönste Gestaltung von Farbe und
Zeichnung in Ringen, Flammen und allerlei Schlangenzügen darstellt,
so daß diese Gattung Erlenholz sehr gesucht für Schreinerarbeiten und
sehr kostbar ist. Als ich das Anwesen hier gekauft, die Wiese besehen
und die Erlenblöcke entdeckt hatte, ließ ich einen ausgraben,
auseinandersägen und untersuchte ihn dann. Da fand ich, der ich damals
im Erkennen des Holzes schon mehrere Übung hatte, daß diese Blöcke zu
den schönsten gehören, die bestehen, und daß die feurige Farbe und der
weiche, seidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man besonders
das Augenmerk richtet, kaum ihresgleichen haben dürften. Ich ließ
mehrere Blöcke ausgraben und Blätter aus ihnen schneiden. Ihr werdet
die Verwendung derselben in unserer Nachbarschaft sehen, wenn ihr uns
wieder besuchen wollt und uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo
sie sind. Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen Schatz,
der da bleiben und sich vermehren sollte. Nur wenn einer derselben
nicht mehr zu treiben, sondern vielmehr abzusterben beginnt, wird er
herausgenommen und wird zu Blättern geschnitten, welche ich dann zu
künftigen Arbeiten aufbewahre oder verkaufe. An seiner Stelle bildet
sich dann leicht ein anderer. Zu dem Entschlusse, diesen Anwuchs zu
pflegen, kam ich, nachdem ich einerseits vorher nach und nach die
Gegend um unser Haus immer näher kennen gelernt, alle Talmulden und
Bachrinnen erforscht und nirgends auch nur annähernd so brauchbares
Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderseits auch das, was mir auf
mein Verlangen aus mehreren Orten eingesendet worden war, sich dem
unseren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb
des Erlenwuchses einen Wasserbau aufführen, um die Pflanzung
vor Überschwemmung und Überkiesung zu sichern und das zu sehr
anschwellende Wasser in ein anderes Rinnsal zu leiten.

Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei
derselben legten sogar in öden Gründen, die nicht zu entwässern waren,
solche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Erfolge dies geschah, läßt
sich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung sind.«

Wir betrachteten die Reihen dieser Gewächse und gingen dann weiter.

Wir gingen die Wiese entlang, streiften an einem Gehölze hin,
überschritten den Wasserbau, von dem mein Gastfreund gesprochen hatte,
und begannen nicht nur den Garten, sondern den ganzen Getreidehügel,
auf dem das Haus steht, zu umgehen.

Da die Sonne immer wärmer, wenn auch nicht gar heiß schien, wunderte
ich mich, daß keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem
Haupte trug. Sie waren ohne einer solchen von dem Hause fortgegangen.
Der alte Mann breitete dem Glanz der Sonne die Fülle seiner weißen
Haare unter, und der Zögling trug auf seinem Scheitel die dichten,
glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht, kamen mir die beiden ohne
Kopfbedeckung sonderbar vor oder ich neben ihnen mit meinem Reisehute
auf dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigstens den Vorteil, daß ihm die
Sonne die Wangen noch mehr rötete und noch schöner färbte, als sie
sonst waren.

Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein
heiterer Frühlingstag gegen den zwar auch noch kräftigen, aber
bestimmten und abgemessenen Schritt seines Begleiters, seine schlanke
Gestalt war der fröhliche Anfang, die seines Erziehers das Hinneigen
zum Ende. Was sein Benehmen anbelangt, so war er zurückgezogen und
bescheiden und mischte sich nicht in die Gespräche, außer wenn er
gefragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn und fragte ihn um
verschiedene Dinge, besonders um solche, die die Gegend umher betrafen
und deren Kenntnis ich bei ihm voraussetzen mußte. Er antwortete
sicher und mit einer gewissen Ehrerbietung gegen mich, obwohl ich ihm
an Jahren nicht so ferne stand als sein Erzieher. Er ging meistens,
auch wenn der Weg breit genug gewesen wäre, hinter uns.


Als wir den Hügel vollends umgangen hatten und an mehreren ländlichen
Wohnungen vorbeigekommen waren, stiegen wir auf der nehmlichen Seite
und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich
gestern gegen dasselbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten,
traten uns die Rosen entgegen, wie sie mir gestern entgegengetreten
waren. Ich nahm von diesem Anblicke Gelegenheit, meinen Gastfreund der
Rosen wegen zu fragen, da ich überhaupt gesonnen war, dieser Blumen
willen einmal eine Frage zu tun. Ich bat ihn, ob wir denn zu besserer
Betrachtung nicht näher auf den großen Sandplatz treten wollten. Wir
taten es und standen vor der ganzen Wand von Blumen, die den unteren
Teil des weißen Hauses deckte.

Ich sagte, er müsse ein besonderer Freund dieser Blumen sein, da er so
viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu
sehen seien wie sonst nirgends.

»Ich liebe diese Blume allerdings sehr«, antwortete er, »halte sie
auch für die schönste und weiß wirklich nicht mehr, welche von diesen
beiden Empfindungen aus der andern hervorgegangen ist.«

»Ich wäre auch geneigt«, sagte ich, »die Rose für die schönste Blume
zu halten. Die Camellia steht ihr nahe, dieselbe ist zart, klar und
rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer für uns etwas
Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen Anstande da: das
Weiche, ich möchte den Ausdruck gebrauchen, das Süße der Rose hat sie
nicht. Wir wollen von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der
gehört nicht hieher.«

»Nein«, sagte er, »der gehört nicht hieher, wenn wir von der Schönheit
sprechen; aber gehen wir über die Schönheit hinaus und sprechen wir
von dem Geruche, so dürfte keiner sein, der dem Rosengeruche an
Lieblichkeit gleichkommt.«

»Darüber könnte nach einzelner Vorliebe gestritten werden«, antwortete
ich, »aber gewiß wird die Rose weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie
wird sowohl jetzt geehrt, als sie in der Vergangenheit geehrt wurde.
Ihr Bild ist zu Vergleichen das gebräuchlichste, mit ihrer Farbe wird
die Jugend und Schönheit geschmückt, man umringt Wohnungen mit ihr,
ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten und als etwas Köstliches
versendet, und es hat Völker gegeben, die die Rosenpflege besonders
schätzten, wie ja die waffenkundigen Römer sich mit Rosen kränzten.
Besonders liebenswert ist sie, wenn sie so zur Anschauung gebracht
wird wie hier, wenn sie durch eigentümliche Mannigfaltigkeit und
Zusammenstellung erhöht und ihr gleichsam geschmeichelt wird. Erstens
ist hier eine wahre Gewalt von Rosen, dann sind sie an der großen
weißen Fläche des Hauses verteilt, von der sie sich abheben; vor ihnen
ist die weiße Fläche des Sandes, und diese wird wieder durch das grüne
Rasenband und die Hecke, wie durch ein grünes Samtband und eine grüne
Verzierung, von dem Getreidefelde getrennt.«

»Ich habe auf diesen Umstand nicht eigens gedacht«, sagte er, »als ich
sie pflanzte, obwohl ich darauf sah, daß sie sich auch so schön als
möglich darstellten.«

»Aber ich begreife nicht, wie sie hier so gut gedeihen können«,
entgegnete ich. »Sie haben hier eigentlich die ungünstigsten
Bedingungen. Da ist das hölzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden
sind, die weiße Wand, an der sich die brennenden Sonnenstrahlen
fangen, das Überdach, welches dem Regen, Taue und dem Einwirken des
Himmelsgewölbes hinderlich ist, und endlich hält das Haus ja selber
den freien Luftzug ab.«

»Wir haben dieses Gedeihen nur nach und nach hervorrufen können«,
antwortete er, »und es sind viele Fehlgriffe getan worden. Wir lernten
aber und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die
Erde, welche die Rosen vorzüglich lieben, teils von anderen Orten
verschrieben, teils nach Angabe von Büchern, die ich hiezu anschaffte,
im Garten bereitet.

Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch
vorher schon Rosen gezogen und habe hier meine Erfahrungen angewendet.
Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer, breiter Graben vor dem
Hause gemacht und mit der Erde gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne
Gitter, welches reichlich mit Ölfarbe bestrichen war, daß es von
Wasser nicht in Fäulnis gesetzt werden konnte, aufgerichtet, und eines
Frühlings wurden die Rosenpflanzen, die ich entweder selbst gezogen
oder von Blumenzüchtern eingesendet erhalten hatte, in die lockere
Erde gesetzt. Da sie wuchsen, wurden sie angebunden, im Laufe der
Jahre versetzt, verwechselt, beschnitten und dergleichen, bis sich die
Wand allgemach erfüllte. In dem Garten sind die Vorratsbeete angelegt
worden, gleichsam die Schule, in welcher die gezogen werden, die
einmal hieher kommen sollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle
Leinwand unter dem Dache anbringen lassen, die durch einige leichte
Züge mit Schnüren in ein Dach über die Rosen verwandelt werden kann,
das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der
zu heißen Sommersonne und die Blumen vor derjenigen Sonne geschützt,
die ihnen schaden könnte. Die heutige ist ihnen nicht zu heiß, ihr
seht, daß sie sie fröhlich aushalten. Was ihr von Tau und Regen sagt,
so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, daß die Einflüsse des
freien Himmels ganz abgehalten werden. Tau sammelt sich auf den Rosen
und selbst Regen träufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch
nachhelfen und zu jener Zeit Wasser geben können, wo es der Himmel
versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit
äußerst feinen Löchern versehen ist und aus Tonnen, die unter dem
Dache stehen, mit Wasser gefüllt werden kann. Durch einen leichten
Druck werden die Löcher geöffnet, und das Wasser fällt wie Tau auf die
Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie
in Zeiten hoher Not das Wasser von Blättern und Zweigen rieselt und
dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft
gebricht, wie ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist
auf diesem Hügel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vorhanden und
streicht an der Wand des Hauses. Sollten aber die Blumen an ganz
stillen Tagen doch einer Luft bedürfen, so werden alle Fenster des
Erdgeschosses geöffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der
entgegengesetzten. Da nun die entgegengesetzte Seite die nördliche ist
und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, so strömt sie bei
jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr könnt da an
den windstillsten Tagen ein sanftes Fächeln der Blätter sehen.«

»Das sind bedeutende Anstalten«, erwiderte ich, »und beweisen eure
Liebe zu diesen Blumen; aber aus ihnen allein erklärt sich doch noch
nicht die besondere Vollkommenheit dieser Gewächse, die ich nirgends
gesehen habe, so daß keine unvollkommene Blume, kein dürrer Zweig,
kein unregelmäßiges Blatt vorkommt.«

»Zum Teile erklärt sich die Tatsache doch wohl aus diesen Anstalten«,
sagte er. »Luft, Sonne und Regen sind durch die südliche Lage des
Standortes und die Vorrichtungen so weit verbessert, als sie hier
verbessert werden können. Noch mehr ist an der Erde getan worden.
Da wir nicht wissen, welches denn der letzte Grund des Gedeihens
lebendiger Wesen überhaupt ist, so schloß ich, daß den Rosen am
meisten gut tun müsse, was von Rosen kömmt. Wir ließen daher seit
jeher alle Rosenabfälle sammeln, besonders die Blätter und selbst die
Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden.
Diese Abfälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Teile unseres
Gartens zusammengetan, den Einflüssen von Luft und Regen ausgesetzt,
und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Hügel sich keine
Spur mehr von Pflanzentum zeigt und nichts als milde Erde vor die
Augen tritt, so wird diese den Rosen gegeben. Die Pflanzen, welche
neu gesetzt werden, erhalten in ihrem Graben gleich so viel Erde, daß
sie auf mehrere Jahre versorgt sind. Ältere Rosen, welche von ihrem
Standboden längere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung
beteilt. Entweder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln weggetan und
ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben und ihr Standpunkt
durchaus mit frischer Erde erfüllt. Es ist auffällig sichtbar, wie
sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen. Aber trotz der Erde und
der Luft und der Sonne und der Feuchtigkeit würdet ihr die Rosen hier
nicht so schön sehen, als ihr sie seht, wenn nicht noch andre Sorgfalt
angewendet würde; denn immer entstehen manche Übel aus Ursachen, die
wir nicht ergründen können oder die, wenn sie auch ergründet sind,
wir nicht zu vereiteln vermögen. Endlich trifft ja die Gewächse wie
alles Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns
sogleich ausgehoben, in den Garten, gleichsam in das Rosenhospital
getan und durch andere aus der Schule ersetzt. Abgestorbene Bäumchen
kommen hier nicht leicht vor, weil sie schon in der Zeit des
Absterbens weggetan werden. Tötet aber eine Ursache eines schnell,
so wird es ohne Verzug entfernt. Eben so werden Teile, die erkranken
oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beste Zeit ist der
Frühling, wo die Zweige bloß liegen. Da werden Winkelleitern, die uns
den Zugang zu allen Teilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze
Gitter untersucht.

Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knüpft die
Zweige an und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer
entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollständige
Blume. Es haben nach und nach alle im Hause eine Neigung zu den Rosen
bekommen, sehen gerne nach und zeigen es sogleich an, wenn sich etwas
Unrechtes bemerken läßt. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an
diesen Blumen gefunden, man setzt sie in Gärten und pflegt sie, ich
schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten und
unterrichte sie in der Behandlung. Zwei Wegestunden von hier ist ein
Bauer, der wie ich eine ganze Wand seines Hauses mit Rosen bepflanzt
hat.«

»Je mehr es mir wichtig erscheint, wie ihr mit euren Rosen umgeht«,
antwortete ich, »und für je wichtiger ihr sie selbst betrachtet, desto
mehr muß ich doch die Frage tun, warum ihr denn gerade vorzugsweise an
dieser Wand eures Hauses die Rosen zieht, wo ihr Standort doch nicht
so ersprießlich ist, und wo man solche Anstalten machen muß, um ihr
völliges Gedeihen zu sichern. Es ist zwar sehr schön, wie sie sich
hier ausbreiten und darstellen; aber sollte man sie denn im Garten
nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen können, die eben so schön
oder schöner wären als diese hier, und noch den Vorteil hätten, daß
ihre Pflege viel leichter wäre?«

»Ich habe die Rosen an die Wand des Hauses gesetzt«, erwiderte er,
»weil sich eine Jugenderinnerung an diese Blume knüpft und mir die
Art, sie so zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig darum
die Rose so schön erscheint und daß ich darum die große Mühe für diese
Art ihrer Pflege verwende.«

»Ihr habt nichts von Ungeziefer gesagt«, entgegnete ich. »Nun weiß ich
aber aus Erfahrung, daß kaum eine Pflanzengattung, etwa die Pappel
ausgenommen, so gerne von Ungeziefer heimgesucht wird als die Rose,
die in verschiedenen Arten und Geschlechtern von demselben bewohnt und
entstellt wird. Hier sehe ich von dieser Plage gar nichts, als wäre
sie nicht vorhanden oder als würde die Rose von ihr durch irgendein
künstliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht so wie jedes kranke
Blatt auch jeden Blattwickler, jede Spinne, jede Blattlaus abnehmen
lassen?

Dieses bringt mich sogar noch auf einen weiteren Umstand, über den ich
mir eine Frage an euch zu tun vorgenommen habe, welche ich gewiß noch
vor meiner Abreise bei einer schicklichen Gelegenheit getan hätte,
welche ich mir aber jetzt erlaube, da ihr mit solcher Güte und
Bereitwilligkeit mir die Einsicht in die Dinge dieses Landsitzes
gestattet habt. Bei meiner Wanderung durch das flache Land hatte ich
mehrfach Gelegenheit zu bemerken, daß Obstbäume häufig kahle Äste
haben oder daß überhaupt das Laub zerstört oder verunstaltet war, was
von Raupenfraß herrührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich
sie von Jugend an zu sehen gewohnt war und da sie sich nicht in einem
ungewöhnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, daß so wie an
diesen Rosen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu sehen
ist, kein dürres Reis, kein kahles Zweiglein, kein Stengel eines
abgefressenen Blattes, ja nicht einmal ein verletztes Blatt des
Kohles, dem doch sonst der Weißling so gerne Schaden tut. Im
Angesichte dieses Wohlbefindens kamen mir die Zerstörungen wieder zu
Sinne, die ich in dem Lande gesehen hatte, und ich beschloß, in dieser
Hinsicht eine Frage an euch zu tun, ob ihr denn da eigentümliche
Vorkehrungen habt; denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich
ja überall als unzulänglich gezeigt.«

»Wir würden allerdings durch Ablesen des Ungeziefers weder unsere
Rosen noch die Bäume und Gesträuche im Garten vor Verunglimpfung
frei halten können«, antwortete er. »Wir haben nun in der Tat andere
Einrichtungen dagegen. Ich muß euch sagen, daß es mich freut, daß ihr
in meinem Garten die Abwesenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und
ich werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und besonders
darum, daß es sich auch ausbreiten könne. Die Beantwortung eurer
Frage kann aber am besten in dem Garten geschehen, weil ich euch zur
Bekräftigung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Beweise dartun
kann. Wenn es euch genehm ist, so gehen wir in den Garten, in welchem
auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange von dem
Meierhofe herauf nicht unangenehm sein wird.«

»Einen Augenblick laßt mich noch diese Rosen betrachten«, sagte ich.

»Tut nach eurem Gefallen«, antwortete er.

Ich trat zuerst näher an das Gitter, um Einzelnes zu betrachten. Ich
sah nun wirklich die reinliche Erde, in welcher die Stämmchen standen
und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachsen war. Ich sah das
gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden und an
welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß sich keine leere Stelle an
der Wand des Hauses zeigte. An jedem Stämmchen hing der Name der Blume
auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülse hernieder. Diese
gläsernen Hülsen waren gegen den Regen geschützt, indem sie oben
geschlossen, unten umgestülpt und mit einer kleinen Abflußrinne
versehen waren. Nach dieser Betrachtung in der Nähe trat ich wieder
zurück und besah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere
Augenblicke. Nachdem ich dieses getan hatte, sagte ich, daß wir jetzt
in den Garten gehen könnten.

Wir näherten uns dem Torgitter, der alte Mann tat einen Druck wie
gestern, da er mich eingelassen hatte, das Tor öffnete sich und wir
gingen in den Garten.

Dort näherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittägigem
Schatten stand. Als wir uns auf ihr niedergesetzt hatten, sagte mein
Gastfreund: »Unsere Mittel, die Bäume, Gesträuche und kleineren
Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach und in der Natur
gegründet, daß es eine Schande wäre, sie aufzuzählen, wenn es
andererseits nicht auch wahr wäre, daß sie nicht überall angewendet
werden, besonders das letzte. Was nun das Kahlwerden von Bäumen und
Ästen anlangt, so entsteht es nicht immer durch Raupen, sondern oft
auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und
also Entlaubtwerden des ganzen Baumes gibt es so wenig ein Mittel als
gegen den Tod des Menschen; aber so weit darf man es bei einem Baume
im Garten nicht kommen lassen, daß er tot in demselben dasteht,
sondern wenn man ihm durch Zurückschneiden seiner Äste öfter
Verjüngungskräfte gegeben hat; wenn aber nach und nach dieses Mittel
anfängt, seine Wirkung nicht mehr zu bewähren, so tut man dem Baume
und dem Garten eine Wohltat, wenn man beide trennt. Ein solcher Baum
steht also in einem nur einiger Maßen gut besorgten Garten oder auf
anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Teile eines Baumes
kahl dastehen, haben wir mehrere Mittel. Sie bestehen aber darin, dem
Baume zu geben, was ihm not tut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet.
Darum gilt als Oberstes, daß man nie einen Baum an eine Stelle setze,
auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen überhaupt das
Leben versagen, setzt wohl kein vernünftiger Mensch einen. Aber
es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht
bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten
Gewächse notwendig ist. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben
wir, ehe wir einen Baum setzten, eine so tiefe Grube gegraben und mit
gelockerter Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden konnte,
ehe er genötigt war, seine Wurzeln in unbearbeiteten Boden zu treiben.
Selbst alte Stämme, die ich hier gefunden hatte und deren Zustand mir
nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen, Lockern ihres Standortes
und Wiedereinsetzen zu vortrefflichem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir
die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieselbe gesetzt haben,
haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher herauszubringen gesucht,
was ihm auch nebst der Erde noch not tue und welchen Platz er haben
müsse. Für welchen Baum ein geeigneter Platz im Garten nicht ist, der
soll auch im Garten gar nicht sein. Welche Bäume viele Luft brauchen,
setzten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die
den Schatten, in den Schatten. In den Schutz der größeren oder
windwiderstandsfähigeren setzten wir diejenigen, welche des Schutzes
bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Wänden oder warmen
Orten. Und auf diese Weise gedeihen nun alle durch ihre Lebenskraft
und natürliche Nahrung. Im Frühlinge wird jeder Stamm und seine
stärkeren Äste durch eine Bürste und gutes Seifenwasser gewaschen und
gereinigt. Durch die Bürste werden die fremden Stoffe, die dem Baume
schaden könnten, entfernt, und das Waschen ist ein nützliches Bad für
die Rinde, die wie die Haut der Tiere von dem höchsten Belange für das
Leben ist, und endlich werden die Stämme dadurch auch schön. Unsere
Bäume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbäumen
fast so fein wie graue Seide.«


Ich hatte wohl gesehen, daß alle Bäume eine sehr gesunde Rinde haben;
aber ich hatte dieses mit ihren schönen Blättern und mit ihrem guten
Gedeihen überhaupt als eine notwendige Folge in Zusammenhang gebracht.

»Wenn nun trotz aller Vorsichten doch einzelne Teile der Bäume durch
Winde, Kälte oder dergleichen kahl werden«, fuhr mein Gastfreund
fort, »so werden dieselben bei dem Beschneiden der Bäume im Frühlinge
entfernt. Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, daß keine
Nässe in das Holz dringen und in dem noch gesunden Teile eine
Krankheit erzeugen kann. Und so würde in einem Garten nie eine
Kahlheit zu erblicken sein, wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine
solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel, Wolkenbrüche
und ähnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie
schaden aber auch nicht so sehr. In unseren Gegenden sind sie selten,
und ihre Wirkungen können auch leicht durch schnelles Beseitigen des
Zerstörten, durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht
werden. Aber gefährlichere Gegner sind die Insekten, diese können die
Güte eines Gartens zerstören, können seine Schönheit entstellen und
ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies ist
der Umstand, von dem ich sagte, daß ich seiner zuletzt Erwähnung tun
werde. Ihr seht, daß unser Garten von der Insektenplage, die ihr,
wie ihr sagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen bemerkt habt, in
diesem Jahre frei ist.«

»Ich habe Äpfelbäume an warmen und stillen Orten fast ganz entlaubt
gesehen«, antwortete ich. »Es sind mir mehrere Fälle dieser Art
vorgekommen. Aber daß einzelne Äste entlaubt waren, daß das Laub von
ganzen Bäumen entstellt war, habe ich oft gesehen. Allein ich habe
es für kein großes Übel gehalten, und habe auf kein schlechtes Jahr
geschlossen, weil ich wußte, daß diese Zerstörungen immer vorkommen
und daß ihr Schaden, wenn sie nicht im Übermaße auftreten, nicht
erheblich ist. Ich betrachtete die Erscheinung als ein Ding, das so
sein muß.«

»Daran möchtet ihr Unrecht getan haben«, sagte mein Gastfreund, »einen
Schaden bringt diese Erscheinung immer, und wenn man ihn nach ganzen
Länderstrichen berechnete, so könnte er ein sehr beträchtlicher sein,
zu dem noch der andere kömmt, daß man den entlaubten Baum anschauen
muß. Auch ist das Ding keine Erscheinung, die so sein muß. Es gibt ein
Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das außer seiner Wirksamkeit auch
noch sehr schön ist und also zum Nutzen einen Genuß beschert, durch
den uns die Natur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber
dennoch, wie ich früher sagte, wird dieses Mittel unter allen am
wenigsten gebraucht, ja man beeifert sich sogar an vielen Orten, es zu
zerstören. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben.«

Ich sah ihn fragend an.

»Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehört, das euch besonders
auffallend war?« fragte er.

»Den Vogelsang«, sagte ich plötzlich.

»Ihr habt richtig bemerkt«, erwiderte er. »Die Vögel sind in diesem
Garten unser Mittel gegen Raupen und schädliches Ungeziefer. Diese
sind es, welche die Bäume, Gesträuche, die kleinen Pflanzen und
natürlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhände
oder was immer für Mittel zu bewerkstelligen im Stande wären. Seit
diese angenehmen Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm
Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfraß
eingefunden, der nur im Geringsten bemerkbar gewesen wäre.«

»Aber Vögel sind ja an allen Orten«, entgegnete ich. »Sollten sie in
eurem Garten mehr sein, um ihn mehr schützen zu können?«

»Sie sind auch mehr in unserem Garten«, erwiderte er, »weit mehr als
an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Länder.«

»Und wie ist denn diese Mehrheit hieher gebracht worden?« fragte ich.

»Es ist so, wie ich früher von den Bäumen gesagt habe, man muß ihnen
die Bedingungen ihres Gedeihens geben, wenn man sie an einem Orte
haben will; nur daß man die Tiere nicht erst an den Ort setzen muß
wie die Bäume, sie kommen selber, besonders die Vögel, denen das
Übersiedeln so leicht ist.«

»Und welche sind denn die Bedingungen ihres Gedeihens?« fragte ich.

»Hauptsächlich Schutz und Nahrung«, erwiderte er.

»Wie kann man denn einen Vogel schützen?« fragte ich.

»Ihn kann man nicht schützen«, sagte mein Gastfreund, »er schützt
sich selber; aber die Gelegenheit zum Schutze kann man ihm geben. Die
Singvögel, welche sich nicht mit Waffen verteidigen können, suchen
gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäumen, Felsen, Mauern oder
dergleichen auf, die so enge sind, daß ihnen ihr meistens größerer
Feind in dieselben nicht folgen kann, und so tief, daß er auch nicht
mit einem Schnabel oder einer Tatze bis auf den Grund zu langen vermag
- einige, wie die Spechte, machen sich selber die Höhlungen in die
Bäume -, oder sie gehen in solche Dickichte, daß Raubvögel, Wiesel und
ähnliche Verfolger nicht durchzudringen vermögen. Hiebei ist es ihnen
noch mehr um den Schutz ihrer Jungen, die sie in solchen Orten haben,
als um ihren eigenen zu tun. Erst, wenn so gesicherte Stellen nicht zu
finden sind und die Zeit drängt, begnügt sich der Singvogel zum Wohnen
und Brüten mit schlechteren Plätzen. Hat eine Gegend häufige solche
Zufluchtsorte, so darf man sicher schließen, daß sie auch, wenn die
andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat. Denkt nur an ein
altes löcheriges Turmdach, wie ist es von Dohlen und Mauerschwalben
umschwärmt. Will man Vögel in eine Gegend ziehen, so muß man solche
Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als möglich. Wir können,
wie ihr seht, nicht Felsen und Baumstämme aushöhlen, aber aus Holz
gemachte Höhlungen können wir überall auf die Bäume aufhängen. Und
dies tun wir auch. Wir machen diese Höhlungen tief genug, richten das
Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag und machen
es gerade so weit, daß der Vogel, für den es bestimmt ist, ein und aus
kann.

Ihr müßt ja derlei in den Bäumen unseres Gartens gesehen haben?«

»Ich habe sie gesehen«, erwiderte ich, »habe dunkel vermutet, wozu sie
dienen könnten, habe aber die Vorstellung in Folge anderer Eindrücke
wieder aus dem Haupte verloren.«

»Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn«, sagte
mein Gastfreund, »so werden wir mehrere solche Vogelbehälter sehen.
Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen
und Dornästen in unsere Büsche, daß man meinen sollte, es könne kaum
eine Hummel ein- und ausschlüpfen; aber der Vogel findet doch einen
Eingang und baut sich sein Nest. Solcher Nester könnt ihr mehrere
sehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, daß man diese
Federfamilien in ihrem Haushalte sieht, was bei den Höhlennistern
nicht angeht. Auf diese Weise schützen wir die kleineren Vögel, die
wir in unserem Garten brauchen. Die großen, welche sich mit Schnabel,
Krallen und Flügeln verteidigen können, sind bei uns eher Feinde als
Freunde und werden nicht geduldet.«

»Außer dem Schutze«, fuhr er nach einer Weile fort, »brauchen
die Vögel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte und
unterscheiden sich hierdurch von den Menschen, welche zuweilen große
Strecken weit gerade dahin wandern, wo sie ihren Unterhalt nicht
finden. Die Vögel, die für unseren Garten passen, ernähren sich
meistens von Gewürmen und Insekten; aber wenn an einem Platze, der zum
Nisten geeignet ist, die Zahl der Vögel so groß wird, daß sie ihre
Nahrung nicht mehr finden, so wandert ein Teil aus und sucht den
Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine so
große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen sicher ist,
daß sie auch in den ungezieferreichsten Jahren hinlänglich sind,
um Schaden zu verhüten, so muß man ihnen außer ihrer von der Natur
gegebenen Nahrung auch künstliche mit den eigenen Händen spenden. Tut
man das, so kann man so viele Vögel an einem Platze erziehen, als man
will. Es kömmt nur darauf an, daß man, um seinen Zweck nicht aus den
Augen zu verlieren, nur so viel Almosen gibt, als notwendig ist,
einen Nahrungsmangel zu verhindern. Es ist wohl in dieser Hinsicht im
allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künstlichen Nahrung ein
Übermaß eintrete, da den Tieren ohnehin die Insekten am liebsten sind.
Nur wenn diese Nahrung gar zu reizend für sie gemacht würde, könnte
ein solches Übermaß erfolgen, was leicht an der Vermehrung des
Ungeziefers erkannt werden würde. Einige Erfahrung läßt einen schon
den rechten Weg einhalten. Im Winter, in welchem einige Arten
dableiben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Kost ganz mangelt, muß
man sie vollständig ernähren, um sie an den Platz zu fesseln. Durch
unsere Anstalten sind Vögel, die im Frühlinge nach Plätzen suchten,
wo sie sich anbauen könnten, in unserem Garten geblieben, sie sind,
da sie die Bequemlichkeit sahen und Nahrung wußten, im nächsten
Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervögel waren, gar nicht
fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimatsgefühl haben und
gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so
erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte.
Zu den vorhandenen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwanderer, und
so vermehrt sich die Zahl der Vögel in dem Garten und sogar in der
nächsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Vögel, die sonst
nicht gewöhnlich in Gärten sind, sondern mehr in Wäldern und
abgelegenen Gebüschen, sind gelegentlich gekommen, und da es ihnen
gefiel, dageblieben, wenn ihnen auch manche Dinge, die sonst der Wald
und die Einsamkeit gewähren, hier abgehen mochten. Zur Nahrung rechnen
wir auch Licht, Luft und Wärme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf
dadurch, daß wir die Bauplätze zu den Nestern an den verschiedensten
Stellen des Gartens anbringen, damit sich die Paare die wärmeren oder
kühleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen können. Für welche
keine taugliche Stelle möglich ist, die sind nicht hier. Es sind das
nur solche Vögel, für welche die hiesigen Landstriche überhaupt nicht
passen, und diese Vögel sind dann auch für unsere Landstriche nicht
nötig. Zu den geeigneten Zeiten besuchen uns auch Wanderer und
Durchzügler, die auf der Jahresreise begriffen sind.

Sie hätten eigentlich keinen Anspruch auf eine Gabe, allein da sie
sich unter die Einwohner mischen, so essen sie auch an ihrer Schüssel
und gehen dann weiter.«

»Auf welche Weise gebt ihr denn den Tieren die nötige Nahrung?« fragte
ich.

»Dazu haben wir verschiedene Einrichtungen«, sagte er. »Manche von den
Vögeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Füßen, wie die
Spechte, die an den Bäumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf
der platten Erde suchen; andere, besonders die Waldvögel, lieben das
Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben diesen
Zweigen suchen. Für die ersten streut man das Futter auf was immer für
Plätze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man
Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen, in kleine Tröge gefüllt
oder auf Stifte gesteckt, die Speise ist. Sie fliegen herzu und
wiegen sich essend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach
zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und
es tummeln sich Festfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die
neben dem Gewächshause ist, wo ihr mich heute morgen gesehen habt.«

»Ich habe das von heute morgen mehr für zufällig als absichtlich
gehalten«, sagte ich.

»Ich tue es gerne, wenn ich anwesend bin«, erwiderte er, »obwohl es
auch andere tun können. Für die ganz schüchternen, wie meistens die
neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvögel sind,
haben wir abgelegene Plätze, an die wir ihnen die Nahrung tun. Für die
vertraulicheren und umgänglicheren bin ich sogar auf eine sehr bequeme
und annehmliche Verfahrungsweise gekommen. Ich habe in dem Hause ein
Zimmer, vor dessen Fenster Brettchen befestigt sind, auf welche ich
das Futter gebe. Die Federgäste kommen schon herzu und speisen vor
meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer
eingerichtet und bewahre dort in Kästen, deren kleine Fächer mit
Aufschriften versehen sind, dasjenige Futter, das entweder in
Sämereien besteht oder dem schnellen Verderben nicht ausgesetzt ist.«

»Das ist das Eckzimmer«, sagte ich, »das ich nicht begriff, und dessen
Brettchen ich für Blumenbrettchen ansah und doch für solche nicht
zweckmäßig fand.«

»Warum habt ihr denn nicht gefragt?« erwiderte er.

»Ich nahm es mir vor und habe wieder darauf vergessen«, antwortete
ich.

»Da die meisten Sänger von lebendigen Tierchen leben«, setzte er seine
Erzählung fort, »so ist es nicht ganz leicht, die Nahrung für alle
zu bereiten. Da aber doch ein großer Teil nebst dem Ungeziefer
auch Sämereien nicht verschmäht, so sind in der Speisekammer alle
Sämereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Wäldern reifen und
werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersetzt. Für
solche, welche die Körner nicht lieben, wird der Abgang durch Teile
unseres Mahles, zartes Fleisch, Obst, Eierstückchen, Gemüse und
dergleichen, ersetzt, was unter die Körner gemischt wird. Die
Kohlmeise erhält sehr gerne, wenn sie tätig ist, und besonders,
wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stückchen Speck zur
Belohnung, den sie außerordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen
gestreut. Für den Trank ist im Garten reichlich gesorgt. In jede
Wassertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an welchem sie zu
dem Wasser hinabklettern können. In den Gebüschen sind Steinnäpfe, in
die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte an der Abendseite des
Gartens ist ein kleines Quellchen, das wir mit steinernen Rändern
eingefaßt haben.«

»Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit diesen Gartenbewohnern«.
sagte ich.

»Es übt sich leicht ein«, antwortete er, »und der Lohn dafür ist sehr
groß. Es ist kaum glaublich, zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn
man durch mehrere Jahre diese gefiederten Tiere hegt und gelegentlich
die Augen auf ihre Geschäftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die
Menschen ersonnen haben, um die Gewächse vor Ungeziefer zu bewahren,
so trefflich sie auch sein mögen, so fleißig sie auch angewendet
werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegründet
ist. Wie viele Hände von Menschen müßten tätig sein, um die
unzählbaren Stellen, an deren sich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken
und die Mittel auf sie anzuwenden. Ja, die ganz gereinigten Stellen
geben auf die Dauer keine Sicherheit und müssen stets von neuem
untersucht worden. In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet
entwickeln sich die Insekten auf Stengeln, Blättern, Blüten, unter der
Rinde und breiten sich unversehens und schnell aus. Wie könnte man da
die Keime entdecken und vor ihrer Entwicklung vernichten? Oft sind die
schädlichen Tierchen so klein, daß wir sie mit unseren Augen kaum zu
entdecken vermögen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugänglich
sind, zum Beispiele in den äußersten Spitzen der feinsten Zweige der
Bäume. Oft ist der Schaden in größter Schnelligkeit entstanden, wenn
man auch glaubt, daß man seine Augen an allen Stellen des Gartens
gehabt, daß man keine unbeachtet gelassen und daß man seine Leute
zur genauesten Untersuchung angeeifert hat. Zu dieser Arbeit ist von
Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und insbesondere das der
kleinen und singenden, und zu dieser Arbeit reicht auch nur das
Vogelgeschlecht vollkommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten,
von denen ich gesprochen habe, ihre Menge, ihre Kleinheit, ihre
Verborgenheit und endlich ihre schnelle und plötzliche Entwicklung
schützen sie gegen die Vögel nicht. Sprechen wir von der Menge. Alle
Singvögel, wenn sie auch später Sämereien fressen, nähren doch ihre
Jungen von Raupen, Insekten, Würmern, und da diese Jungen so schnell
wachsen und so zu sagen unaufhörlich essen, so bringt ein einziges
Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen
Tierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn, vierzehn,
zwanzig Tagen! So lange brauchen ungefähr die Jungen zum Flüggewerden.
Und alle Stellen, wie zahlreich sie auch sein können, werden von den
geschäftigen Eltern durchsucht. Sprechen wir von der Kleinheit der
Tierchen. Sie oder ihre Larven und Eier mögen noch so klein sein, von
den scharfen, spähenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja
manche Vögel, wie das Goldhähnchen, der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen
nur die kleinsten Nahrungsstückchen bringen, weil dieselben, wenn sie
dem Ei entschlüpft sind, selber kaum so groß wie eine Fliege oder
eine kleine Spinne sind. Gehen wir endlich auf die Abgelegenheit und
Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Insekten über, so sind sie
dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geschützt, wenn sie für
ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht
unzugänglich? In die höchsten Zweige schwingt er sich empor, an der
Rinde hält er sich und bohrt in sie, durch die dichtesten Hecken
dringt er, auf der Erde läuft er, und selbst unter Blöcke und
Steingerölle dringt er. Ja, einmal sah ich einen Buntspecht im Winter,
da die Äste zu Stein gefroren schienen, auf einen solchen mit Gewalt
loshämmeren und sich aus dessen Innern die Nahrung holen. Die Spechte
zeigen auf diese Weise - ich sage es hier nebenbei - auch die Äste
an, die morsch und vom Gewürme ergriffen sind, und daher weggeschafft
werden müssen.

Was zuletzt den unvorhergesehenen und plötzlichen Raupenfraß anlangt,
den der Mensch zu spät entdeckt, so kann er sich nicht einstellen, da
die Vögel überall nachsehen und bei Zeiten abhelfen.«

»Wie sehr diese Tiere für das Ungeziefer geschaffen sind«, sagte er
nach einer Weile, »zeigt sich aus der Beobachtung, daß sie die Arbeit
unter sich teilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut
der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußersten Spitzen
der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie, sich
an die Zweige hängend, dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht
fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf
Stamm ab und holt die versteckten Eier hervor, der Finke, der gerne in
den Nadelbäumen nistet, weshalb auch solche Bäume in dem Garten sind,
geht gleichwohl gerne von ihnen herab und läuft den Gängen der Käfer
und der gleichen nach, und ihn unterstützen oder übertreffen vielmehr
die Ammerlinge, die Grasmücken, die Rotkehlchen, die auf der Erde
unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie
beirren sich wechselseitig nicht und lassen in ihrer unglaublichen
Tätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander
anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn
man mehrere Jahre unter den Tieren lebt, so gibt sich die Betrachtung
von selber.«

»Auch einen eigentümlichen Gedanken«, fuhr er fort, »hat das Walten
dieser Tiere in mir erweckt oder vielmehr bestärkt; denn ich hatte
ihn schon längst. Allen Tatsachen, die wichtig sind, hat Gott
außer unserem Bewußtsein ihres Wertes auch noch einen Reiz für uns
beigesellt, der sie annehmlich in unser Wesen gehen läßt.

Diesen Tierchen nun, die so nützlich sind, hat er, ich möchte sagen,
die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhärtetste Mensch nicht
verhärtet genug ist. Ich habe in unserem Garten mehr Vergnügen gehabt
als manchmal in Sälen, in denen die kunstreichste Musik aufgeführt
wurde, die selten zu hören ist. Zwar singt ein Vogel in einem Käfige
auch; denn der Vogel ist leichtsinnig, er erschrickt zwar heftig, er
fürchtet sich; aber bald ist der Schrecken und die Furcht vergessen,
er hüpft auf einen Halt für seine Füße und trällert dort das Lied, das
er gelernt hat und das er immer wiederholt. Wenn er jung und sogar
auch alt gefangen wird, vergißt er sich und sein Leid, wird ein Hin-
und Widerhüpfer in kleinem Raume, da er sonst einen großen brauchte,
und singt seine Weise; aber dieser Gesang ist ein Gesang der
Gewohnheit, nicht der Lust. Wir haben an unserm Garten einen
ungeheueren Käfig ohne Draht, Stangen und Vogeltürchen, in welchem der
Vogel vor außerordentlicher Freude, der er sich so leicht hingibt,
singt, in welchem wir das Zusammentönen vieler Stimmen hören können,
das in einem Zimmer beisammen nur ein Geschrei wäre, und in welchem
wir endlich die häusliche Wirtschaft der Vögel und ihre Gebärden
sehen können, die so verschieden sind und oft dem tiefsten Ernste ein
Lächeln abgewinnen können. Man hat uns in diesem Hegen von Vögeln in
einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute sind nicht verhärtet gegen
die Schönheit des Vogels und gegen seinen Gesang, ja diese beiden
Eigenschaften sind das Unglück des Vogels. Sie wollen dieselben
genießen, sie wollen sie recht nahe genießen, und da sie keinen Käfig
mit unsichtbaren Drähten und Stangen machen können wie wir, in dem sie
das eigentliche Wesen des Vogels wahrnehmen könnten, so machen sie
einen mit sichtbaren, in welchem der Vogel eingesperrt ist und
seinem zu frühen Tode entgegen singt. Sie sind auf diese Weise nicht
unfühlsam für die Stimme des Vogels, aber sie sind unfühlsam für
sein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des
Menschen, besonders der Kinder, angenehm ist, eines Vogels, der durch
seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche
menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn durch Witz und
Geschicklichkeit in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten
Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen gewesen, besonders für junge Leute;
aber wir müssen sagen, daß es ein sehr rohes Vergnügen ist, das man
eigentlich verachten sollte. Freilich ist es noch schlechter und
muß ohne weiteres verabscheut werden, wenn man Singvögel nicht des
Gesanges wegen fängt, sondern sie fängt und tötet, um sie zu essen.
Die unschuldigsten und mitunter schönsten Tiere, die durch ihren
einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Benehmen ohnehin unser
Vergnügen sind, die uns nichts anders tun als lauter Wohltaten, werden
wie Verbrecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe
der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden
Hunger stillen wollen, erhängt. Und dies geschieht nicht, um ein
unabweisliches Bedürfnis zu erfüllen, sondern einer Lust und Laune
willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel
an Nachdenken oder aus Gewohnheit so geschieht. Aber das zeigt eben,
wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind. Darum haben
weise Menschen bei wilden Völkern und bei solchen, die ihre Gierde
nicht zu zähmen wußten oder einen höheren Gebrauch von ihren Kräften
noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel
seiner Schönheit oder Nützlichkeit willen zu retten. So ist die
Schwalbe ein heiliger Vogel geworden, der dem Hause Segen bringt,
das er besucht, und den zu töten Sünde ist. Und selten dürfte es ein
Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die so wunderschön ist und so
unberechenbaren Nutzen bringt. So ist der Storch unter göttlichen
Schutz gestellt, und den Staren hängen wir hölzerne Häuser in unsere
Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unseren Nachbarn die Augen über den Erfolg
und den Nutzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, sie vielleicht auch
dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nutzen
sind sie am empfänglichsten. Ich glaube aber auch, daß unsere
Obrigkeiten das Ding nicht gering achten sollten, daß ein strenges
Gesetz gegen das Fangen und Töten der Singvögel zu geben wäre und
daß das Gesetz auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden
sollte. Dann würde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes
Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch
schöne Gärten gehen, und die wirklichen Gärten würden erquickend
dastehen, in keinem Jahre leiden und in besonders unglücklichen nicht
den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen.
Wollt ihr nicht auch ein wenig unsere gefiederten Freunde ansehen?«

»Sehr gerne«, sagte ich.


Wir standen von dem Sitze auf und gingen mehr in die Tiefe den Gartens
zurück.

Das vielstimmige Vogelgezwitscher durch den Garten und das helle
Singen in unserer Nähe, welches mir gestern nachmittags da ich es in
das Zimmer hinein gehört hatte, seltsam gewesen war, erschien mir nun
sehr lieblich, ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum
huschen sah oder über einen Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit
einer Gattung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies
mit dem Finger hinein und sagte: »Seht!«

Ich antwortete, daß ich nichts sähe.

»Schaut nur genauer«, sagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die
Richtung wies.

Ich sah nun unter einem äußerst dichten Dornengeflechte, welches
in die Hecke gemacht worden war, ein Nest. In dem Neste saß ein
Rotkehlchen, wenigstens dem Rücken nach zu urteilen. Es flog nicht
auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns und sah mit
den schwarzen, glänzenden Augen unerschrocken und vertraulich zu uns
herauf.

»Dieses Rotkehlchen sitzt auf seinen Eiern«, sagte mein Begleiter,
»es ist eine Spätehe, wie sie öfter vorkommen. Ich besuche es schon
mehrere Tage und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das
weiß der Schelm, darum frägt er mich schon darnach und fürchtet den
Fremden nicht, der bei mir ist.«

In der Tat, das Tierchen blieb ruhig in seinem Neste und ließ sich
durch unser Reden und durch unsere Augen nicht beirren.

»Man muß eigentlich ehrlich gegen sie sein«, sagte mein Gastfreund;
»aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Gustav,
gehe in das Haus und hole mir eine.«

Der Jüngling wendete sich schnell um und eilte in das Haus.

Indessen führte mich mein Begleiter eine Strecke vorwärts und zeigte
mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Nest, in welchem eine
Ammer saß.

»Diese sitzt auf ihren Jungen, die noch kaum die ersten Härchen haben,
und erwärmt sie«, sagte mein Begleiter. »Sie kann nicht viel von ihnen
weg, darum bringt den meisten Teil der Nahrung der Vater herbei. Nach
einigen Tagen aber werden sie schon so stark, daß sie der Mutter
überall hervor sehen, wenn sie sich auch zeitweilig auf sie setzt.«

Auch die Ammer flog bei unserer Annäherung nicht auf, sondern sah uns
ruhig an.

So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Nester, in denen Junge
waren, die, wenn sie sich allein befanden, auf das Geräusch unserer
Annäherung die gelben Schnäbel aufsperrten und Nahrung erwarteten. In
zwei anderen waren Mütter, die bei unserem Herannahen nicht aufflogen.
Da wir im Vorbeigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern ätzten,
ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flogen herzu und
nährten in unserer Gegenwart die Kinder.

»Ich habe euch jetzt Nester gezeigt, die noch bevölkert sind«, sagte
mein Gastfreund, »die meisten sind schon leer, die Jugend flattert
bereits in dem Garten herum und übt sich zur Herbstreise. Die Nester
sind zahlreicher als man vermutet, wir besuchen nur die, die uns bei
der Hand sind.«

Indessen war Gustav mit der verlangten Larve gekommen und gab sie dem
alten Manne in die Hand. Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest
des Rotkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum
hatte er sich entfernt und war zu uns getreten, die wir in der Nähe
standen, so schlüpfte das Rotkehlchen unter den untersten Ästen der
Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie und lief wieder in die
Hecke zurück.

Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei diesem Vorfalle überkam.
Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem
niedreren Geschöpfe herabläßt.

Auch der Jüngling Gustav war sehr heiter und zeigte Freude, wenn er
in die Büsche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein
Beweis, daß das Zerstören der Vogelnester durch Wegnahme der Eier
oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht
angeboren ist, sondern daß dieser Zerstörungstrieb, wenn er da ist,
von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn geleitet
wurde, und daß er durch eine bessere Erziehung sein Gegenteil wird.

Wir schritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des
Gartens stand, zeigten sie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem
Stamme in das Geflechte teils hervorgewachsener, teils künstlich
eingefugter Äste und Zweige gebaut war. An anderen Bäumen sahen wir
auch in die aufgehängten Behälter Vögel aus- und einschlüpfen. Mein
Begleiter sagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir selbst die
Sitten der Vögel verständlicher werden würden.

Ich erwiderte, daß ich schon Mehreres aus meinen Reisen im Gebirge und
aus meinen früheren Beschäftigungen in den Naturwissenschaften kenne.

»Das ist doch immer weniger«, sagte mein Gastfreund, »als was man
durch das lebendige Beisammenleben inne wird.«

Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruten geflochtenen Seilen an
Bäumen befestigt waren und von denen man wußte, daß sie nicht mehr
bewohnt seien, herabgenommen und auseinander gelegt, damit ich ihre
Einrichtung sähe. Es war nur eine einfache Höhlung, die aus zwei
halbhohlen Stücken bestand, die man mittelst Ringen, die enger zu
schrauben waren, aneinanderpressen konnte.

»Kein Singvogel«, sagte mein Begleiter, »geht in ein fertiges Nest,
es mag nun dasselbe in einer früheren Zeit von ihm selber oder einem
anderen Vogel gebaut worden sein, sondern er verfertigt sich sein
Nest in jedem Frühlinge neu. Deshalb haben wir die Behälter aus zwei
Teilen machen lassen, daß wir sie leicht auseinander nehmen und die
veralteten Nester heraustun können. Auch zum Reinigen der Behälter ist
diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt
allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen, und der Vogel
scheut Unrat und verdorbene Luft und würde eine unreine Höhlung nicht
besuchen. Im letzten Teile des Winters, wenn der Frühling schon in
Aussicht steht, werden alle diese Behälter herabgenommen, auf das
Sorgfältigste gescheuert und in Stand gesetzt. Im Winter sind sie
darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist,
Schutz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen
den Frühling ihre Bestandteile mit neuen vermehrt in dem Garten
ausgestreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuser finden.«

Ich sah im Vorübergehen auch die Kletterstäbchen in den Wassertonnen,
und im Gebüsche fanden wir das kleine rieselnde Wässerlein.


Als wir uns auf dem Rückwege zum Hause befanden, sagte mein Begleiter:
»Ich habe noch eine Art Gäste, die ich füttere, nicht daß sie mir
nützen, sondern daß sie mir nicht schaden. Gleich in der ersten Zeit
meines Hierseins, da ich eine sogenannte Baumschule anlegte, nehmlich
ein Gärtchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Stämmchen
gezogen wurden, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im Winter
die Rinde an Stämmchen abgefressen wurde, und gerade die beste und
zarteste Rinde an den besten Stämmchen. Die Übeltäter wiesen sich
teils durch ihre Spuren im Schnee, teils, weil sie auch auf frischer
Tat ertappt wurden, als Hasen aus. Das Verjagen half nicht, weil sie
wieder kamen und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumschule
Wache stehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe fressen die Rinde
nur, weil sie nichts Besseres haben, hätten sie es, so ließen sie die
Rinde stehen. Ich sammelte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen
Pflanzen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte
sie im Keller auf und legte sie bei Frost und hohem Schnee teilweise
auf die Felder außerhalb des Gartens. Meine Absicht wurde belohnt:
die Hasen fraßen von den Dingen und ließen unsere Baumschule in
Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäste immer mehr, da sie die
wohleingerichtete Tafel entdeckten; aber weil sie mit dem
Schlechtesten, selbst mit den dicken Strünken des Kohles, zufrieden
waren und ich mir solche von unseren Feldern und von Nachbarn leicht
erwerben konnte, so fragte ich nichts darnach und fütterte. Ich
sah ihnen oft aus dem Dachfenster mit dem Fernrohre zu. Es ist
possierlich, wenn sie von der Ferne herzulaufen, dem bequem
daliegenden Fraße mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber sich
doch nicht helfen können, herzustürzen und von dem Zeuge hastig
fressen, das sie im Sommer nicht anschauen würden. Manche Leute legten
Schlingen, da sie wußten, daß hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir
sehr sorgfältig nachspürten und die Schlingen wegnehmen ließen, da
ich auch verbot, über unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen
zur Verantwortung zog, verlor sich die Sache wieder. Auch den Vögeln
legten Buben in unserer Nähe Schlingen; aber das half sehr wenig, da
die Vögel in unserem Garten sehr gute Kost hatten und nach der fremden
Lockspeise nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln war daher nie groß,
und mit einiger Aufsicht und Wachsamkeit, die wir in den ersten Jahren
einleiteten, geschah es, daß dieser Unfug auch bald wieder aufhörte.«

Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen und die
Fütterungskammer anzusehen.

Auf dem Wege dahin sagte er: »Unter die Feinde der Sänger gehören auch
die Katzen, Hunde, Iltisse, Wiesel, Raubvögel. Gegen letzte schützen
die Dornen und die Nestbehälter, und Hunde und Katzen werden in unserm
Hause so erzogen, daß sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden
ganz von dem Hause entfernt.«


Wir waren indessen in das Haus gekommen und gingen in das Eckzimmer,
in welchem ich die vielen Fächer gesehen hatte. Mein Begleiter zeigte
mir die Vorräte, indem er die Fächer herauszog und mir die Sämereien
wies. Die Speisen, welche eben nicht in Sämereien bestehen, wie Eier,
Brot, Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses
genommen.

»Meine Nachbaren äußerten schon«, sagte mein Begleiter, »daß außer der
Mühe, die das Erhalten der Singvögel macht, auch die Kosten zu ihrer
Ernährung in keinem Verhältnisse zu ihrem Nutzen stehen. Aber das ist
unrichtig. Die Mühe ist ein Vergnügen, das wird der, welcher einmal
anfängt, bald inne werden; so wie der Blumenfreund keine Mühe, sondern
nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Tätigkeit in
Anspruch nimmt als das Ziehen der Gesangvögel im Freien; die Kosten
aber sind in der Tat nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die
edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen
der Vögel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der
Kaufschilling die Nahrungskosten der Sänger ganz und gar. Freilich ist
der Nutzen desto größer, je edler das Obst ist, welches in dem Garten
gezogen wird, und dazu, daß sie edles Obst in dieser Gegend ziehen,
sind sie schwer zu bewegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir müssen
ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weisen und
zu kosten geben, und wir müssen ihnen zeigen, daß es nützt, indem wir
ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft
haben. Von den Stämmchen, die in unserer Obstschule wachsen, geben wir
ihnen ab und unterrichten sie, wie und auf welchen Platz sie gesetzt
werden sollen.«

»Wenn wieder einmal ein Jahr kommen sollte wie das, welches wir vor
fünf Jahren hatten«, fuhr er fort, »es war ein schlimmes Jahr, heiß
mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg, in
Regau, in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Höhe, und
die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwürdigten Ästen
herab. Unser Garten war unverletzt und dunkelgrün, sogar jedes Blatt
hatte seine natürliche Ränderung und Ausspitzung. Wenn noch einmal
ein solches Jahr käme, was Gott verhüte, so würden sie wieder ein
Stückchen Erfahrung machen, das sie das erste Mal nicht gemacht
haben.«

Ich sah unterdessen die Sämereien und die Anstalten an, fragte manches
und ließ mir manches erklären.

Wir verließen hierauf das Zimmer, und da wir auf dem Gange waren und
gegen Gustavs Zimmer gingen, sagte er: »Daß auch unnütze Glieder
herbeikommen, Müßiggänger, Störefriede, das begreift sich. Ein großer
Händelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt
sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Sämereien und
Kirschen. Wenn die Gesellschaft nicht groß ist, lasse ich sie gelten
und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel
werden, so hilft die Windbüchse, und sie werden in den Meierhof
hinabgescheucht. Als einen bösen Feind zeigte sich der Rotschwanz.
Er flog zu dem Bienenhause und schnappte die Tierchen weg. Da half
nichts, als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu töten. Wir ließen
beinahe in Ordnung Wache halten und die Verfolgung fortsetzen, bis
dieses Geschlecht ausblieb. Sie waren so klug, zu wissen, wo Gefahr
ist, und gingen in die Scheunen, in die Holzhütte des Meierhofes und
die Ziegelhütte, wo die großen Wespennester unter dem Dache sind. Wir
lassen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die
grauen Kugeln solcher Nester, die sich unter den Latten und Sparren
der Dächer oder Dachvorsprünge ansiedeln, nicht zerstören, damit sie
diese Vögel hinziehen.«


Während dieses Gespräches waren wir in dem Gange der Gastzimmer zu der
Tür gekommen, die in Gustavs Wohnung führte. Mein Gastfreund fragte,
ob ich diese Wohnung nicht jetzt besehen wollte, und wir traten ein,

Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem
Schlafzimmer. Beide waren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall
ist, sehr in Ordnung. Sonst war ihr Geräte sehr einfach. Bücherkästen,
Schreib- und Zeichnungsgeräte, ein Tisch, Schreine für die Kleider,
Stühle und das Bett. Der Jüngling stand fast errötend da, da ein
Fremder in seiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der
Bewohner machte uns die leichte, feine Verbeugung, die ich gestern
schon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten, sondern
in den Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Arbeit zu
verrichten hatte.

»Ihr könnt nun auch die Gastzimmer besuchen«, sagte mein Begleiter,
»dann habt ihr alle Räume unseres Hauses gesehen.«

Ich willigte ein. Er nahm ein kleines silbernes Glöcklein aus seiner
Tasche und läutete.

Es erschien in kurzem eine Magd, von welcher er die Schlüssel der
Zimmer verlangte. Sie holte dieselben und brachte sie an einem Ringe,
von welchem einzelne los zu lösen waren. Jeder trug die Zahl seines
Zimmers auf sich eingegraben. Nachdem mein Beherberger die Magd
verabschiedet hatte, schloß er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren
einander vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte zwei
Fenster, und jedes hatte ähnliche Geräte wie das meine.

»Ihr seht«, sagte er, »daß wir in unserem Hause nicht so ungesellig
sind und bei dessen Anlegung schon auf Gäste gerechnet haben. Es
können im äußersten Notfalle noch mehr untergebracht werden als die
Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach tun und noch andere
Zimmer, namentlich die im Erdgeschosse, in Anspruch nehmen. Es ist
aber in der Zeit, seit welcher dieses Haus besteht, der Notfall noch
nicht eingetreten.«

Als wir an die östliche Seite des Hauses gekommen waren, an die Seite,
die seiner Wohnung gerade entgegengesetzt lag, öffnete er eine Tür,
und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher, sondern in drei, welche
sehr schön eingerichtet waren und zu lieblichem Wohnen einluden. Das
erste war ein Zimmer für einen Diener oder eigentlich eine Dienerin;
denn es sah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen meiner
Mutter wohnten. Es standen große Kleiderkästen da, mit grünem Zitz
verhängte Betten, und es lagen Dinge herum wie in dem Mädchenzimmer
meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten zwar nicht solche
Dinge, im Gegenteile, sie waren in der musterhaftesten Ordnung; aber
sie wiesen doch eine solche Gestalt, daß man schließen mußte, daß sie
zu Wohnungen für Frauen bestimmt sind. Die Geräte des ersten waren
von Mahagoniholz, die des zweiten von Cedern. Überall standen
weichgepolsterte Sitze und schöne Tische herum. Auf dem Fußboden lagen
weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, außerdem stand in
jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleidespiegel, an den Fenstern
waren Arbeitstischchen, und in der Ecke jedes Zimmers stand, von
weißen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben, ein Bett. Jedes
Gemach hatte ein Blumentischchen, und an den Wänden hingen einige
Gemälde.

Als ich diese Zimmer eine Weile betrachtet hatte, öffnete mein
Begleiter im dritten Zimmer mittelst eines Drückers eine Tapetentür,
die sich den Blicken nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein
viertes, kleines Zimmer mit einem einzigen Fenster. Das Zimmerchen war
sehr schön. Es war ganz in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen,
welche Zeichnungen in derselben, nur etwas dunkleren Farbe hatte. An
dieser schwach rosenroten Seide lief eine Polsterbank von lichtgrauer
Seide hin, die mit mattgrünen Bändern gerändert war. Sessel von
gleicher Art standen herum. Die Seide, grau in Grau gezeichnet, hob
sich licht und lieblich von dem Rot der Wände ab, es machte fast einen
Eindruck, wie wenn weiße Rosen neben roten sind. Die grünen Streifen
erinnerten an das grüne Laubblatt der Rosen. In einer der hinteren
Ecken des Zimmers war ein Kamin von ebenfalls grauer, nur dunklerer
Farbe mit grünen Streifen in den Simsen und sehr schmalen Goldleisten.
Vor der Polsterbank und den Sesseln stand ein Tisch, dessen Platte
grauer Marmor von derselben Farbe wie der Kamin war. Die Füße des
Tisches und der Sessel so wie die Fassungen an der Polsterbank und den
anderen Dingen waren von dem schönen veilchenblauen Amarantholze; aber
so leicht gearbeitet, daß dieses Holz nirgends herrschte. An dem mit
grauen Seidenvorhängen gesäumten Fenster, welches zwischen grünen
Baumwölbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah, stand ein
Tischchen von demselben Holze und ein reichgepolsterter Sessel und
Schemel, wie wenn hier der Platz für eine Frau zum Ruhen wäre. An
den Wänden hingen nur vier kleine, an Größe und Rahmen vollkommen
gleiche Ölgemälde. Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche
überspannt, dessen einfache Farbe sich nur ein wenig von dem Grün der
Bänder abhob. Es war gleichsam der Rasenteppich, über dem die Farben
der Rosen schwebten. Die Schürzange und die anderen Geräte an dem
Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tische stand ein goldenes
Glöcklein.

Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß es bewohnt sei. Kein Geräte
war verrückt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte und an den
Fenstervorhängen keine Verknitterung.

Als ich eine Zeit diese Dinge mit Staunen betrachtet hatte, öffnete
mein Begleiter wieder die Tapetentür, die man auch im Innern dieses
Zimmers nicht sehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte in dem
Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht. Als
wir durch die anderen Zimmer gegangen waren und er sie hinter uns
zugeschlossen hatte, sagte er mir ebenfalls über den Zweck dieser
Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum fragen.

Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, sagte er: »Nun habt ihr
mein ganzes Haus gesehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft
vorüberkommt oder euch gar in der Ferne desselben erinnert, so könnt
ihr euch gleich vorstellen, wie es im Inneren aussieht.«

Bei diesen Worten nestelte er den Ring mit den Schlüsseln in irgend
eine Tasche seines seltsamen Obergewandes.

»Es ist ein Bild«, erwiderte ich auf seine Rede, »das sich mir tief
eingeprägt hat und das ich nicht so bald vergessen werde.«

»Ich habe mir das beinahe gedacht«, antwortete er.

Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen waren, verabschiedete er
sich, indem er sagte, daß er nun einen großen Teil meiner Zeit in
Anspruch genommen habe und daß er, um mich nicht noch mehr einzuengen,
mir nichts weiter davon entziehen wolle.

Ich dankte ihm für seine Gefälligkeit und Freundlichkeit, mit welcher
er mir einen Teil des Tages gewidmet und mir seine Häuslichkeit
gezeigt habe, und wir trennten uns. Ich nahm den Schlüssel aus meiner
Tasche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hörte ich die
Treppe hinabgehen.

Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gastgemache, teils weil ich
ermüdet war und wirklich einige Ruhe nötig hatte, teils weil ich
meinem Gastfreunde nicht weiter lästig sein wollte.

Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Felder außerhalb des
Gartens hinaus und kam erst zur Speisestunde zurück. Ich hatte bei
dieser Gelegenheit gelernt, mir selber das Gitter zu öffnen und zu
schließen.

Es war kein Gast da, und beim Abendessen wie beim Mittagessen waren
nur mein Gastfreund, Gustav und ich. Die Gespräche waren über
verschiedene gleichgültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte
mich auf mein Zimmer, las noch, schrieb, entkleidete mich endlich,
löschte das Licht und begab mich zur Ruhe.


Der nächste Morgen war wieder herrlich und heiter. Ich öffnete
die Fenster, ließ Duft und Luft hereinströmen, kleidete mich an,
erfrischte mich mit reichlichem Wasser zum Waschen, und ehe die Sonne
nur einen einzigen Tautropfen hatte aufsaugen können, stand ich
schon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken und mit meinem Hute und dem
Schwarzdornstocke in der Hand im Speisezimmer. Der alte Mann und
Gustav warteten meiner bereits.

Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war, wobei ich trotz der
Forderung mein Ränzlein nicht abgelegt hatte, dankte ich noch einmal
für die große Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier
aufgenommen worden war, verabschiedete mich und begab mich auf meinen
Weg.


Der alte Mann und Gustav begleiteten mich bis zum Gittertore des
Gartens. Der Alte öffnete, um mich hinauszulassen, so wie er
vorgestern geöffnet hatte, um mir den Eingang zu gestatten. Beide
gingen mit mir durch das geöffnete Tor hinaus. Als wir auf dem
Sandplatze vor dem Hause, angeweht von dem Dufte der Rosen, standen,
sagte mein Beherberger: »Nun lebt wohl und geht glücklich eures Weges.
Wir kehren durch unser Gitter wieder in unseren Landaufenthalt und zu
unseren Beschäftigungen zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder
in die Nähe kommt und es euch gefällt, uns zu besuchen, so werdet ihr
mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne daß
euch euer Weg hier vorüberführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu
besuchen, so wird es uns besonders freuen. Es ist keine Redensart,
wenn ich sage, daß es uns freuen würde, ich gebrauche diese
Redensarten nicht, sondern es ist wirklich so. Wenn ihr das einmal
wollt, so lebt in diesem Hause, so lange es euch zusagt, und lebt so
ungebunden als ihr wollt, so wie auch wir so ungebunden leben werden
als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Boten
wissen machen könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft,
doch manchmal abwesend sind.«

»Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder
komme«, antwortete ich, »weil ihr es sagt und euer Wesen mir so
erscheint, daß ihr nicht eine unwahre Höflichkeit aussprechen würdet.
Ich begreife zwar den Grund nicht, weshalb ihr mich einladet, aber da
ihr es tut, nehme ich es mit vieler Freude an und sage euch, daß ich
im nächsten Sommer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht hieher
führt, freiwillig in diese Gegend und in dieses Haus kommen werde, um
eine kleine Zeit da zu bleiben.«

»Tut es, und ihr werdet sehen, daß ihr nicht unwillkommen seid«, sagte
er, »wenn ihr auch die Zeit ausdehnt.«

»Ich werde vielleicht das Letztere tun«, antwortete ich, »und so lebet
wohl.«

»Lebt wohl.«

Bei diesen Worten reichte er mir die Hand und drückte sie.

Ich reichte meine Hand, da er sie losgelassen hatte, auch an den
Knaben Gustav, welcher sie annahm, aber nichts sprach, sondern mich
bloß mit seinen Augen freundlich ansah.

Hierauf schieden wir, indem sie durch das Gitter zurückgingen, ich
aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei
Tagen heraufgegangen war.

Ich fragte mich nun, bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Nächte
zugebracht habe. Er hat um meinen Namen nicht gefragt und hat mir den
seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort
geben.


Und so ging ich denn nun weiter. Die grünen Ähren gaben jetzt in der
Morgensonne feurige Strahlen, während sie bei meinem Heraufgehen im
Schatten des herandrohenden Gewitters gestanden waren.

Ich sah mich noch einmal um, da ich zwischen den Feldern hinabging,
und sah das weiße Haus im Sonnenscheine stehen, wie ich es schon öfter
hatte stehen gesehen, ich konnte noch den Rosenschimmer unterscheiden
und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Vögel im Garten vernehmen
zu können.

Hierauf wendete ich mich wieder um und ging abwärts, bis ich zu der
Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgestern
von der Straße abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch
einmal umzusehen. Das Haus stand jetzt nur mehr weiß da, wie ich es
öfter bei meinen Wanderungen gesehen hatte.

Ich ging nun auf der Landstraße in meiner Richtung vorwärts.

Den ersten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weiße Haus
auf dem Hügel gehöre und wie es hieße.

»Es ist der Aspermeier, dem es gehört«, antwortete der Mann, »ihr seid
ja gestern selber in dem Asperhofe gewesen und seid mit dem Aspermeier
herumgegangen.«

»Aber der Besitzer jenes Hauses ist doch unmöglich ein Meier?« fragte
ich; denn mir war wohlbekannt, daß man in der Gegend jeden größeren
Bauern einen Meier nannte.

»Er ist anfangs nicht der Aspermeier gewesen«, antwortete der Mann,
»aber er hat von dem alten Aspermeier den Asperhof gekauft, und das
Haus hat er gebaut, welches in dem Garten steht und zu dem Asperhof
gehört, und jetzt ist er der Aspermeier; denn der alte ist längst
gestorben.«

»Hat er denn nicht auch einen andern Namen?« fragte ich.

»Nein, wir heißen ihn den Aspermeier«, antwortete er.

Ich sah, daß der Mann nichts Weiteres von meinem Gastfreunde wisse und
sich nicht um denselben gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes
weitere Forschen auf.

Es begegneten mir noch mehrere Menschen, von denen ich dieselbe
Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhältnis um und sagten, das Haus
im Garten gehöre zu dem Asperhofe. Ich beschloß daher, vorläufig jedes
Forschen zu unterlassen, bis ich zu einem Menschen gekommen sein
würde, von dem ich berechtigt war, eine bessere Auskunft zu erwarten.

Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte
ich das Haus, in welchem ein solcher Rosendienst getrieben wurde, in
meinem Haupte vorläufig daß Rosenhaus.

Es begegnete mir aber niemand, den ich noch einmal hätte fragen
können.

Ich ließ, da ich so meines Weges weiter wandelte, die Dinge des
letzten Tages in mir vorübergehen. Mich freute es, daß ich in dem
Hause eine so große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie
ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte. Ich
wiederholte, was der alte Mann mir gezeigt und gesagt hatte, und es
fiel mir ein, wie ich mich viel besser hätte benehmen können, wie ich
auf manche Reden bessere Antworten geben und überhaupt viel bessere
Dinge hätte sagen können.


In diesen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefähr
eine Stunde auf dem Wege gewandert war, kam ich an die Ecke des
Buchenwaldes, von dem wir vorgestern abends gesprochen hatten, der zu
den Besitzungen meines Gastfreundes gehört und in welchem ich einmal
eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas
steiler hinan und biegt um die Ecke desselben herum. Da ich bis zu
der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit
eingelegtem Radschuhe langsam die Straße herabfuhr. Er mochte darum
langsamer als gewöhnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm
saßen, Vorsicht zum Gesetze gemacht haben konnten. Es saßen nehmlich
in dem offenen und des schönen Wetters willen ganz zurückgelegten
Wagen zwei Frauengestalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten
Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die
ältere hatte den Schleier über das Angesicht gezogen, welches aber
doch, da der Schleier weiß war, ein wenig gesehen werden konnte. Die
jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurückgetan
und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an und
zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten
freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen
immer tiefer über den Berg hinabging, ob denn nicht eigentlich das
menschliche Angesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre.

Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges
unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und
aufwärts.

Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel, von welchem ich in die
Gegend zurücksehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich sah mit
meinem Fernrohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte, deutlich
den weißen Punkt des Hauses, in welchem ich die letzten zwei Nächte
zugebracht hatte, und hinter dem Hause sah ich die duftigen Berge. Wie
war nun der Punkt so klein in der großen Welt.

Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends
angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen gesonnen war, obwohl
die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen
hatte.

Ich fragte in dem Orte wieder um den Besitzer des weißen Hauses und
beschrieb dasselbe und seine Lage, so gut ich konnte. Man nannte mir
einen Mann, der einmal in hohen Staatsämtern gestanden war; man nannte
mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Risach und einen Herrn Morgan.
Ich war nun wieder ungewiß wie vorher.

Am andern Tage morgens kam ich in den Gebirgszug, welcher das Ziel
meiner Wanderung war und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge
durch einen Teil des flachen Landes überzusiedeln beschlossen hatte.
Am Mittage kam ich in dem Gasthofe an, den ich mir zur Wohnung
ausgewählt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man sagte mir,
daß man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ursache meiner
verspäteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir
bestellt hatte, ein und begab mich an die Geschäfte, welche in diesem
Gebirgsteile zu betreiben ich mir vorgesetzt hatte.



Der Besuch

Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufenthaltsorte. Es
entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues und hielt
mich fest. Ich drang später noch tiefer in das Gebirgstal ein
und begann Dinge, die ich mir für diesen Sommer gar nicht einmal
vorgenommen hatte.

Im späten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zurück. Es erging mir auf
dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das
Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Birken und
Eschen nicht nur schon längst abgefallen, sondern sie hatten auch
bereits ihre schöne gelbe Farbe verloren und waren schmutzig schwarz
geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie
im Sommer gewesen waren, sondern auf die befruchtende Erde, die sie
im Winter für den neuen Nachwuchs werden sollten; die Bewohner der
Bergtäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit
Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen,
um sich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den
Bergwiesen und hatte bereits das Grün der Farrenkräuter in ein dürres
Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war und die
Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen,
und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu unserer Hauptstadt
hinabfuhr, umfächelten mich so weiche und warme Lüfte, daß ich meinte,
ich hätte die Berge zu früh verlassen. Es war aber nur der Unterschied
der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten
Niederungen. Als ich das Schiff verlassen hatte und an den Toren
meiner Heimatstadt angekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub,
warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungsmauern und auf die
Häuser, und schöngekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden
des Nachmittages. Die liebliche rötliche und dunkelblaue Farbe
der Weintrauben, die man an dem Tore und auf dem Platze innerhalb
desselben feil bot, brachte mir manchen freundlichen und fröhlichen
Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung.

Ich ging die gerade Gasse entlang, ich bog in ein paar Nebenstraßen
und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten.

Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die
Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und
Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im besten Stande, die
Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt,
gereinigt und an seinem Platze, als hätte man mich gerade an diesem
Tage erwartet.

Nach einem kurzen Gespräche mit der Mutter und der Schwester kleidete
ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelassenen
Kleidern auf städtische Weise an, um in die Stadt zu gehen und den
Vater zu begrüßen, der noch auf seiner Handelsstube war. Das Gewimmel
der Leute in den Gassen, das Herumgehen geputzter Menschen in den
Baumgängen des grünen Platzes zwischen der Stadt und den Vorstädten,
das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln
gepflasterten Straßen und endlich, als ich in die Stadt kam, die
schönen Warenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und
beengten mich beinahe als ein Gegensatz zu meinem Landaufenthalte;
aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich
als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu
meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in
die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen
gewohnt war und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem
Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische und grüßte ihn ehrerbietig
und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer
Unterredung über Wohlbefinden und andere allgemeine Dinge sagte er,
daß ich nach Hause gehen möchte, er habe noch Einiges zu tun, werde
aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den
Abend zuzubringen.

Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang
durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der
mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch
eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in
alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräten,
den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor.


Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in
welchem die alten Waffen hingen und um welches der Epheu rankte, zum
Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die
Fenster offen lassen können. Da während meines Ganges in die Stadt
mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte
ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das
Stübchen schaffen lassen: für die Mutter einige seltsame Töpfe und
Geschirre, für den Vater ein Amonshorn von besonderer Größe und
Schönheit, andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem siebenzehnten
Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweiß,
getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertüchlein und silberne
Brustkettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges trägt. Auch
was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein:
von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine
Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämtliche Arten guter
Bleifedern, nach den Abstufungen der Härte in einem Fache geordnet,
besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein
Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung getan und den
er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und
empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir
heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner
Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch geworden
war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter
vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit
und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie
findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl.


Als die ersten Besprechungen über alles, was zunächst die Angehörigen
betraf und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren,
als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit
auseinandergesetzt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen.
Ich erklärte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei und was ich
getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes und
erzählte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen
worden sei und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung
aus, daß er, seiner Sprache nach zu urteilen, aus unserer Stadt sein
könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf
keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. Die
Stadt ist groß, meinte er, es könnten da viele Leute gelebt haben,
ohne daß er sie hätte kennen lernen können. Die Schwester meinte,
vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zufolge, in welcher ich ihn
gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen
und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich
entgegnete, daß ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen hätte
und was so deutlich sei, daß ich es, wenn ich mit Farben besser
umzugehen wüßte, sogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die
Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Besuch eingeladen
habe und ich gewiß nicht anstehen werde, denselben abzustatten. Daß
ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle
meine Angehörigen, da er weit mehr getan, nehmlich mich aufgenommen
und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu
forschen.

Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespräches genauer nach manchen
Gegenständen in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwähnung getan
hatte, besonders fragte er nach den Marmoren, nach den alten Geräten,
nach den Schnitzarbeiten, nach den Bildsäulen, nach den Gemälden und
den Büchern.

Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschreiben, die alten
Geräte beinahe auch. Der Vater geriet über die Beschreibung in
Bewunderung und sagte, es würde für ihn eine große Freude sein, einmal
solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu können. Über Schnitzarbeiten
konnte ich schon weniger sagen, über die Bücher auch nicht viel, und
das wenigste, beinahe gar nichts, über Bildsäulen und Gemälde. Der
Vater drang auch nicht darauf und verweilte nicht lange bei diesen
letzteren Gegenständen - die Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn
er sich einmal aufmachte, eine Reise in das Oberland unternähme und
die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe. Er sitze jetzt immer
wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in letzter Zeit auch
alle Nachmittage dahin und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine
Reise würde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der
den Sohn so freundlich aufgenommen habe, würde ihn gewiß herzlich
empfangen und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber
zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieser Reise
das eine oder andere Stück für seine Altertumszimmer erwerben könnte.
Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschäfte vorüber wären
und bis er sich mehr auf die jüngeren Leute in seiner Arbeitsstube
verlassen könne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschäfte seien
immer dringend, und sein Mißtrauen in die Kräfte der jüngeren Leute
wachse immer mehr, je älter er werde und je mehr er selber alle Sachen
allein verrichten wolle.

Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen,
sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand setzen und keine
Handelsgeschäfte weiter vornehmen.

Die Mutter erwiderte, daß dies sehr gut sein und daß ihr dieser Tag
wie ein zweiter Brauttag erscheinen werde.

Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus
denen die verschiedenen Geräte in dem Rosenhause eingelegt seien,
aus denen die Fußböden bestanden, und endlich aus welchen geschnitzt
würde. Ich tat es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung
dieser Dinge an meinen Vater gedacht und hatte, mir mehr gemerkt, als
sonst der Fall gewesen sein würde. Ich mußte ihm auch beschreiben, in
welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten
sie bildeten und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben
ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den
Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und
mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattungen an
einander grenzten und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig
ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen,
was ich gesehen hätte. Er tat auch weitere Fragen, und durch ihre
zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir
gemerkt zu haben glaubte.

Als es schon spät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir
trennten uns von dem Waffenhäuschen und begaben uns zu Bette.

Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten.
Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise
mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf
und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschäftigung
nahm mehrere Tage in Anspruch.


Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl.
Alle Leute von dem Handelsgeschäfte meines Vaters waren besonders
eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein
auf den Tisch gesetzt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln
Stadthause unsere Wohnungsnachbarn gewesen waren, sind zu diesem Mahle
geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten und weil die Frau
gesagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Diese
Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute
waren jedesmal Gäste dabei.

Als ich mit dem Hauptsächlichsten in der Anordnung meiner Zimmer
fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt und brachte
wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein
lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt
ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne
wußte, in einem Märchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause
kam und in die Zimmer mit den altertümlichen Gegenständen und mit
den Bildern ging, so war er wieder wirklich und paßte hieher als
Vergleichsgegenstand.

Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reise in
einer Wohnung immer unzertrennlich verbunden sind, namentlich wenn man
von dieser Reise viele Gegenstände mitgebracht hat, welche geordnet
werden müssen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher
standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und
Zeichnungsgerätschaften waren in der Ordnung, wie ich sie für den
Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die
letzten schönen Spätherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Teil
werden, waren vorüber, und die neblige, nasse und kalte Zeit hatte
sich eingestellt.

In unserem Hause war während meiner Abwesenheit eine Veränderung
eingetreten. Meine Schwester Klotilde, welche bisher immer ein Kind
gewesen war, war in diesem Sommer plötzlich ein erwachsenes Mädchen
geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rückkehr sehr darüber
verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor.

Diese Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine
Veränderung in unser Haus. Unser Leben war für die Hauptstadt eines
großen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches
gewesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir verkehrten, hatte keine
große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkünfte
mehr auf gelegentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten
beschränkt. Jetzt wurde es anders. Zu Klotilden kamen Freundinnen,
mit deren Eltern wir in Verbindung gewesen waren, diese hatten wieder
Verwandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen
gerieten. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen,
wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und
ähnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhältnisse übten aber auf unser
Haus keinen so wesentlichen Einfluß aus, daß sie dasselbe umgestaltet
hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich schon hatte und an
deren Art und Weise ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten
meistens ganz andere Bestrebungen als ich und schienen mir in den
meisten Dingen überlegen zu sein. Sie hielten mich auch für besonders,
und zwar zuerst darum, weil die Art der Erziehung in unserem Hause
eine andere gewesen war als in anderen Häusern, und dann, weil ich
mich mit anderen Dingen beschäftigte als auf die sie ihre Wünsche
und Begierden richteten. Ich vermutete, daß sie mich wegen meiner
Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst.

Sie erwiesen meiner Schwester große Aufmerksamkeiten und suchten ihr
zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften,
waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen waren, die wir
auch besuchten und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine
Schwester wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen sollten, und sie
achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir einfiel,
daß meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den
nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann sein könne als der so
wäre wie der Vater.

Auch mich zogen diese jungen Männer und andere, die nicht eben der
Schwester willen in das Haus kamen, öfter in ihre Gespräche; sie
erzählten mir von ihren Ansichten, Bestrebungen, Unterhaltungen und
manche vertrauten mir Dinge, welche sie in ihrem geheimen Inneren
dachten. So sagte mir einmal einer namens Preborn, welcher der Sohn
eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete und öfter
in unser Haus kam, die junge Tarona sei die größte Schönheit der
Stadt, sie habe einen Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million
der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend jemand gehabt habe,
und wie ihn keine Künstler alter und neuer Zeit darstellen könnten.
Augen habe sie, welche Kiesel in Wachs verwandeln und Diamanten
schmelzen könnten. Er liebe sie mit solcher Heftigkeit, daß er manche
Nacht ohne Schlaf auf seinem Lager liege oder in seiner Stube herum
wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde
sie mir zeigen, und ich müsse ihm als Freund in seiner Lage beistehen.

Ich dachte, daß vieles in diesen Worten nicht Ernst sein könne. Wenn
er das Mädchen so sehr liebe, so hätte er es mir oder einem andern gar
nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen wären. Freunde waren
wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt,
wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweise von
Leuten nennt, die einander sehr bekannt sind und mit einander öfter
umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beistand von mir erwarten,
der ich in der Art mit Menschen umzugehen nicht sehr bewandert war und
in dieser Hinsicht weit unter ihm selber stand.

Ich besuchte zuweilen auch den einen oder den anderen dieser jungen
Leute außer der Zeit, in der wir in Begleitung unserer Eltern
zusammenkamen, und da war ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie
sagten, wie sie diese oder jene lieben, sich vergeblich nach ihr
sehnen oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten hätten. Ich
dachte, das sollten sie nicht sagen; und wenn sie eine mutwillige
Bemerkung über die Gestalt oder das Benehmen eines Mädchens
ausdrückten, so errötete ich, und es war mir, als wäre meine Schwester
beleidigt worden.

Ich ging nun öfter in die Stadt und betrachtete aufmerksamer den alten
Bau unseres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem
Rosenhause so genau und in solcher Menge angesehen hatte, waren mir
die Bauwerke nicht mehr so fremd wie früher. Ich sah sie gerne an, ob
sie irgend etwas Ähnliches mit den Gegenständen hätten, die ich in den
Zeichnungen gesehen hatte. Auf meiner Reise von dem Rosenhause in das
Gebirgstal, in welchem ich mich später aufgehalten hatte, und von
diesem Gebirgstale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreise
aufnehmen sollte, war mir nichts besonders Betrachtenswertes
vorgekommen. Nur einige Wegsäulen sehr alter Art erinnerten an die
reinen und anspruchlosen Gestalten, wie ich sie bei dem Meister auf
dem reinen Papier mit reinen Linien gesehen hatte. Aber in der Nische
der einen Wegsäule war statt des Standbildes, das einst darinnen
gewesen war und auf welches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde
mit bunten Farben getan worden, in der anderen fehlte jede Gestalt.
Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorüber,
die der Beachtung wert sein mochten, aber mein Zweck führte mich in
dem Schiffe weiter. An dem Erzdome sah ich beinahe alle Gestalten von
Verzierungen, Simsen, Bögen, Säulen und größeren Teilwerken, wie ich
sie auf dem Papier im Rosenhause gesehen hatte. Es ergötzte mich, in
meiner Erinnerung diese Gestalten mit den gesehenen zu vergleichen und
sie gegenseitig abzuschätzen.


Auch in Beziehung der Edelsteine fiel mir das ein, was der alte Mann
in dem Rosenhause über die Fassung derselben gesagt hatte. Es gab
Gelegenheit genug, gefaßte Edelsteine zu sehen. In unzähligen
Schaufenstern der Stadt liegen Schmuckwerke zur Ansicht und zur
Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrachtete sie überall, wo sie mir auf
meinem Wege aufstießen, und ich mußte denken, daß der alte Mann recht
habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen, Rosen, Sternen,
Nischen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenständen,
wie ich sie im Rosenhause gesehen hatte, vergegenwärtigte, so waren
sie viel leichter, zarter und, ich möchte den Ausdruck gebrauchen,
inniger als diese Sachen hier, und waren doch nur Teile von Bauwerken,
während diese Schmuck sein sollten. Mir kam wirklich vor, daß sie, wie
er gesagt hatte, unbeholfen in Gold und unbeholfen in den Edelsteinen
seien. Nur bei einigen Vorkaufsorten, die als die vorzüglichsten
galten, fand ich eine Ausnahme. Ich sah, daß dort die Fassungen sehr
einfach waren, ja daß man, wenn die Edelsteine einmal eine größere
Gestalt und einen höheren Wert annahmen, schier gar keine Fassung
mehr machte, sondern nur so viel von Gold oder kleinen Diamanten
anwendete, als unumgänglich nötig schien, die Dinge nehmen und an dem
menschlichen Körper befestigen zu können. Mir schien dieses schon
besser, weil hier die Edelsteine allein den Wert und die Schönheit
darstellen sollten. Ich dachte aber in meinem Herzen, daß die
Edelsteine, wie schön sie auch seien, doch nur Stoffe wären, und daß
es viel vorzüglicher sein müßte, wenn man sie, ohne daß ihre Schönheit
einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Gestalt umgäbe, welche
außer der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geist des Menschen sehen
ließe, der hier tätig war und an dem man Freude haben könnte. Ich nahm
mir vor, wenn ich wieder zu meinem alten Gastfreunde käme, mit ihm
über die Sache zu reden. Ich sah, daß ich in dem Rosenhause etwas
Ersprießliches gelernt hatte.

Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem Sohne eines
Schmuckhändlers bekannt, welcher als der vorzüglichste in der Stadt
galt. Er zeigte mir öfter die wertvolleren Gegenstände, die sie in dem
Verkaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufenster lagen, er
erklärte mir dieselben und machte mich auf die Merkmale aufmerksam, an
denen man die Schönheit der Edelsteine erkennen könne. Ich getraute
mir nie, meine Ansichten über die Fassung derselben darzulegen. Er
versprach mir, mich näher in die Kenntnis der Edelsteine einführen,
und ich nahm es recht gerne an.

Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewöhnt war,
so ging ich alle Tage entweder durch Teile der Stadt herum, oder ich
machte einen Weg in den Umgebungen derselben. Das Zuträgliche der
starken Gebirgsluft ersetzte nur hier die Herbstluft, die immer rauher
wurde, und ich ging ihr sehr gerne entgegen, wenn sie mit Nebeln
gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die gegen Westen die
Umgebungen unserer Stadt säumten.

Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zuweilen zu besuchen.
Der Vater hatte, so lange wir Kinder waren, nie erlaubt, daß wir
ein Schauspiel zu sehen bekämen. Er sagte, es würde dadurch die
Einbildungskraft der Kinder überreizt und überstürzt, sie behingen
sich mit allerlei willkürlichen Gefühlen und gerieten dann in
Begierden oder gar Leidenschaften. Da wir mehr herangewachsen waren,
was bei mir schon seit längerer Zeit, bei der Schwester aber kaum
seit einem Jahre der Fall war, durften wir zu seltenen Zeiten das
Hoftheater besuchen. Der Vater wählte zu diesen Besuchen jene Stücke
aus, von denen er glaubte, daß sie uns angemessen wären und unser
Wesen förderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir
nie gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen.
Wir sahen auch die Aufführung eines Schauspiels nie anders als in
Gesellschaft unserer Eltern. Seit ich selbstständig gestellt war,
hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauspielhäuser
zu besuchen. Da ich mich aber mit wissenschaftlichen Arbeiten
beschäftigte, hatte ich nach dieser Richtung hin keinen mächtigen Zug.
Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stücken,
die ich schon mit den Eltern gesehen hatte. In diesem Herbste wurde es
anders. Ich wählte zuweilen selber ein Stück aus, dessen Aufführung im
Hoftheater ich sehen wollte.

Es lebte damals an der Hofbühne ein Künstler, von dem der Ruf sagte,
daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare das Höchste
leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande
sei. Die Hofbühne stand auch in dem Rufe der Musteranstalt für ganz
Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf
keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Darstellung gleich käme,
und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem
Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf unserer
Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen
könnte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren
Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit
unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist.

Ich beschloß daher, da ich diese Umstände erfahren hatte, der nächsten
Vorstellung des König Lear auf unserer Hofbühne beizuwohnen.


Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich zu dem Frühmahle
des Vaters kamen, für die Hofbühne die Aufführung des König Lear
angekündigt und als Darsteller des Lear der Mann genannt, von dem ich
gesprochen habe und der jetzt schon dem Greisenalter entgegen geht.
Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerückt. Ich
richtete meine Geschäfte so ein, daß ich in der Abendzeit den Weg
zu dem Hoftheater einschlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der
Stadt ansehen wollte, wie ich auf meinen Reisen die Dinge im Gebirge
untersuchte, ging ich früher fort, um langsam den Weg zwischen der
Vorstadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte einen einfachen
Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergängen hatte, und eine
Kappe genommen, die ich bei meinen Reisen trug. Es fiel ein feiner
Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der
Regen war mir nicht unangenehm, sondern eher willkommen, wenn er mir
auch auf meinen Anzug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich
schritt seinem Rieseln mit Gemessenheit entgegen. Der Weg zwischen den
Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches
sich bildete, gleichsam mit Glas überzogen, und die Leute, welche vor
und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an schwierige Wege
gewöhnt und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort.
Die Zweige der Bäume glänzten in der Nachbarschaft der brennenden
Laternen, sonst war es überall finstere Nacht, und der ganze Raum und
die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von
dem Gehwege in die Fahrstraße einbog, rasselten viele Wägen an mir
vorüber, und die Pferde zerstampften und die Räder zerschnitten die
sich bildende Eisdecke. Die meisten von ihnen, wenn auch nicht alle,
fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe sonderbar vor, daß sie und
ich selber in diesem unfreundlichen Wetter einem Raume zustrebten, in
welchem eine erlogene Geschichte vorgespiegelt wird. So kam ich in die
erleuchtete Überwölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich
von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, steckte meine Kappe in die
Tasche meines Überrocks, gab diesen in das Kleiderzimmer und trat in
den hellen ebenerdigen Raum des Darstellungssaales. - Ich hatte von
meinem Vater die Gewohnheit angenommen, nie von oben herab oder
von großer Entfernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen,
weil man den Menschen, welche die Handlung darstellen, in ihrer
gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder
ihrer Schultern sehen soll und weil man ihre Mienen und Geberden
soll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des ersten
Drittteiles der Länge des Raumes stehen und wartete, bis sich der Saal
füllen würde und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte.

Sowohl die gewöhnlichen Sitze als auch die Logen füllten sich sehr
stark mit geputzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von
dem Rufe des Stückes und des Schauspielers angezogen strömte heute
eine weit größere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke
erkennen konnte, in diese Räume. Männer, die neben mir standen,
sprachen dieses aus, und in der Tat war in der Versammlung manche
Gestalt zu sehen, die von den entferntesten Teilen der Vorstädte
gekommen sein mußte. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt
war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne.

Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jetzt auch noch
nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menschen, die Kleider, den
Putz, die Lichter, die Angesichter und dergleichen zu betrachten.
Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der
Vorhang hob und das Stück den Anfang nahm.

Der König trat ein und war, wie er später von sich sagte, jeder Zoll
ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger
Tor. Regan, Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ihrem Gemüte
reden mußten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der
König empfing die Reden, wie er nach seinem heftigen, leichtsinnigen
und doch liebenswürdigen Gemüte ebenfalls mußte. Er verbannte die
einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmücken konnte, der er
desto heftiger zürnte, da sie früher sein Liebling gewesen war, und
gab sein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Goneril, die
ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit übertriebenen
Ausdrücken schmeichelten und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung
fähig gewesen wäre, schon die Unechtheit ihrer Liebe dartaten, was
auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfüllte, daß sie auf die
Frage, wie _sie_ den Vater liebe, weniger zu antworten wußte, als sie
vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete,
gesagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia verteidigen wollte, wütete er
und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und
kindischen Gemütsart des Königs üblen Dingen entgegen.

Ich kannte dieses Schauspiel nicht und war bald von dem Gange der
Handlung eingenommen.

Der König wohnt nun mit seinen hundert Rittern im ersten Monate bei
der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein und
so abwechselnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser
schwachen Maßregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause
Glosters empört sich ein unehelicher Sohn gegen den Vater und den
rechtmäßigen Bruder und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch
in des Königs Hause unnatürliche und unzweckmäßige Dinge geschahen. In
dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten
zweiten Hofhaltung des Königs und seiner hundert Ritter entstehen
Anstände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das
Tun des Königs und seines Gefolges sind sehr begreiflich, aber fast
unheimlich. Beinahe herzzerreißend ist nun die treuherzige, fast blöde
Zuversicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit schnöden
Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der
anderen, sanfteren zu gehen, die ihn mit noch härterem Urteile
abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber
findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die
andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muß, man rät dem König,
zu der verlassenen Tochter zurückzukehren und sich ihren Maßregeln zu
fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter,
Übereilung im Urteile gegen Cordelia, Leichtsinn in Vergebung der
Würden: jetzt entsteht Reue, Scham, Wut und Raserei. Er will nicht
zu der Tochter zurückkehren, eher geht er in den Sturm und in das
Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wüten dürfen, denen er
ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wüste bei Nacht, Sturm und
Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da
er auf der Haide vorschreitet, von niemandem begleitet als von dem
Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdrücken
erschöpft hat, weiß er nichts mehr als die Worte - Lear! Lear! Lear!
aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte
und liegen seine ganzen gegenwärtigen Gefühle. Er wirft sich später
dem Narren an die Brust und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde
rasend - ich möchte nicht rasend werden - nur nicht toll! Da er die
drei letzten Worte milder sagte, gleichsam bittend, so flossen mir
die Tränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum und
glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand und sah unverwandt
auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt sich in den
Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den Hügeln und
Haiden und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen
schon Botschaft an seine Tochter Cordelia getan worden, daß Regan
und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war mit Heeresmacht
gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und
er liegt nun im Zelte Cordelias und schläft. Während der letzten Zeit
ist er in sich zusammengesunken, er ist, während wir ihn so vor uns
sahen, immer älter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange
geschlafen, der Arzt glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur
in der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war und daß sich
sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder
stimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat
nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen,
und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte
diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der
Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem
Bette herab und bittet knieend und händefaltend sein eigenes Kind
stumm um Vergebung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam
zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte
ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon längst keine Rede
mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige
Ausgang, welchen man den Aufführungen dieses Stückes in jener Zeit
gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu
mildern, tat auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, daß das
nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und
um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, tat ich fast
scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam um mich zu überzeugen,
ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle Angesichter auf die
Bühne blickten und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den
Schauplatz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe
bei mir saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung merkte,
sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschäftigt. Sie
kam mir unbeschreiblich schön vor. Das Angesicht war von Tränen
übergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die
bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor
der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht und wendete die
Augen weg.

Das Stück war indessen aus geworden, und um mich entstand die Unruhe,
die immer mit dem Fortgehen aus einem Schauspielhause verbunden ist.
Ich nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne und die Augen
ab und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer,
holte mir meinen Überrock und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam,
war dort ein sehr starres Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte,
wogten die Menschen vielfach hin und her. Ich gab mich einem größeren
Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmündete. Plötzlich war
es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet
waren, ganz nahe etwas zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog sie zurück,
und in der Tat hatte ich zwei große, schöne Augen den meinigen
gegenüber, und das Angesicht des Mädchens aus der ebenerdigen Loge war
ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir,
als ob sie mich freundlich ansähe und mir lieblich zulächelte. Aber in
dem Augenblicke war sie vorüber. Sie war mit einem Menschenstrome aus
dem Logengange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug gekreuzt und
strebte bei einem Seitenausgange hinaus. Ich sah sie nur noch von
rückwärts und sah, daß sie in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt
war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinaus, kommen. Dort
zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Überrockes, setzte sie auf
und blieb noch einen Augenblick stehen und sah den abfahrenden Wägen
nach, die ihre roten Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen.
Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug
den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen,
ich gelangte aus dem größeren Strome der Menschen und bog in den
vereinsamteren Weg ein, der im Freien durch die Reihen der Bäume der
Vorstadt zuführte. Ich schritt neben den düsteren Laternen vorbei, kam
wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie und war endlich in
dem Hause meiner Eltern.

Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei
solchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, besonders auf die Gesundheit
der Ihrigen bedacht zu sein, war noch angekleidet und wartete meiner
im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte,
sagte mir dieses und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein
Abendessen für mich in Bereitschaft und wollte, daß ich es einnehme.
Ich sagte ihr aber, daß ich noch zu sehr mit dem Schauspiele
beschäftigt sei und nichts essen könne. Sie wurde besorgt und sprach
von Arznei. Ich erwiderte ihr, daß ich sehr wohl sei und daß mir gar
nichts als Ruhe not tue.

»Nun, wenn dir Ruhe not tut, so ruhe«, sagte sie, »ich will dich nicht
zwingen, ich habe es gut gemeint.«

»Gut gemeint wie immer, teure Mutter«, antwortete ich, »darum danke
ich auch.«

Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Wir wünschten uns gegenseitig
eine gute Nacht, nahmen Lichter und begaben uns auf unsere Zimmer.

Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löschte die Lichter
aus und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war
schon beinahe gegen Morgen, als ich einschlief.

Das erste, was ich am andern Tage tat, war, daß ich den Vater um die
Werke Shakespeares aus seiner Büchersammlung bat und sie, da ich sie
hatte, in meinem Zimmer zur Lesung für diesen Winter zurecht legte.
Ich übte mich wieder im Englischen, damit ich sie nicht in einer
Übersetzung lesen müsse.

Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gastfreunde Abschied
genommen hatte und an dem Saume seines Waldes auf der Landstraße dahin
ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals
hatte ich gedacht, daß das menschliche Angesicht der beste Gegenstand
für das Zeichnen sein dürfte. Dieser Gedanke fiel mir wieder ein, und
ich suchte mir Kenntnisse über das menschliche Antlitz zu verschaffen.
Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung und betrachtete dort alle
schönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin und
betrachtete die Köpfe. Aber auch von lebenden Mädchen, mit denen ich
zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen
Wintertagen auf öffentliche Spaziergänge und sah die Angesichter der
Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen, sowohl den gemalten
als auch den wirklichen, war kein einziger, der ein Angesicht
gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte
vergleichen können, welches ich an dem Mädchen in der Loge gesehen
hatte. Dieses eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich
gar nicht mehr vorstellen konnte und obwohl ich es, wenn ich es
wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer
Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhigen Leben mußte es gewiß ganz
anders sein.

Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein lesendes Kind gemalt war.
Es hatte eine so einfache Miene, nichts war in derselben als die
Aufmerksamkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des
Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich versuchte das Angesicht
zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge,
von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid
beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich
durfte mir das Bild herabnehmen, ich durfte ihm eine Stellung geben,
wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht,
wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer
Gegenstände bereits hatte, darauf anwendete.

Der Vater sagte mir endlich, daß die Wirkung dieses Bildes vorzüglich
in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich sei,
dieselbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt,
da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben
bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und
zu üben.

Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester
zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den
Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in meinen Augen
nach dem des Mädchens in der Loge das schönste auf der Welt war. Ich
hatte nie den Mut dazu. Oft kam mir auch jetzt noch der Gedanke, so
schön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde sein;
aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die
Ihrigen zu beruhigen gestrebt hatten und von dem ich mir einbildete,
daß es mich im Vorsaale des Theaters freundlich angeblickt habe, und
ich mußte sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen;
aber es schwebte mir ein unbestimmtes, dunkles Bild von Schönheit vor
der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder andere Mädchen, mit
denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe, angenehme
Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie und dachte mir,
wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte sie ebenfalls
nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes, vor mir
befindliches Angesicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in
der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich
auch darauf aufmerksam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war
beschämt und begann später Männer, Greise, Frauen, ja auch andere
Teile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder
Gipsabgüssen bekommen konnte.

Trotz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsatze unseres Hauses
kein Hindernis in den Weg gelegt wurde, vernachlässigte ich meine
Hauptbeschäftigung doch nicht. Es tat mir sehr wohl, zu Hause unter
meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des
alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensatze zu den Festen,
zu denen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen und
Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde,
bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre
Fenster auf Gärten und wenig geräuschvolle Gegenden hinausgingen.


Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer größer, je näher der Winter
seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in
anderer mehr Ursache und Pflicht, zu dieser oder jener Familie einen
Gang zu tun.

Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der
mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am
meisten beschäftigte.

Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in
der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten
Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein
bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem
Tode auch ein Hoffräulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg
wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer
Gesandtschaft. Wenn das Fräulein nicht eben im Dienste war, wurde
zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas
vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas
älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an
solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein
Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden,
länger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deshalb
ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich zu überbringen und
mich zu entschuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplatze durch das
hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben
aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg
kreuzten und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen
noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Wägen
bedeuteten.

»Es sind Glückwünsche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung
von großen Herren abgestattet worden sind und welche er eben
angenommen hatte«, sagte ein Mann neben mir.

Der letzte der Wägen war mit zwei Rappen bespannt, und in ihm saß ein
einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen und trug die weißen
Haare frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen,
und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir
vorüberfuhr, sah ich deutlich, daß mein alter Gastfreund, der mich in
dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben sitze.
Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Wägen dieser Art Sitte ist, und
schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Tore aus der
Burg, an welchem die zwei Riesen als Simsträger angebracht sind. Ich
wollte jemand von meinen Nachbaren fragen, wer der Mann sei; aber da
von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der seinige
der letzte gewesen und der Weg sodann frei war, so waren alle
Nachbaren bereits ihrer Wege gegangen, und diejenigen, welche jetzt
neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe gesehen.

Ich ging daher über den Hof und stieg, über die sogenannte
Reichskanzleitreppe empor.

Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch und sagte meine
Entschuldigungen.

Im Verlaufe des Gespräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem
Wagen gesehen hatte und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie
wußte von gar nichts.

»Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut«, sagte sie, »es geht
Vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar
nicht gewußt, daß bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war
vorgestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir
immer die Aussicht auf den großen Platz der Hofburg gehabt, und wie
bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die
nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar
nicht mehr zu und hat herinnen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn
draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören sind, oder
Wagen rollen.«

»Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser
wegfuhren, in dem letzten Wagen gesessen, Henriette?« fragte sie ihre
eben eintretende Tochter, das Hoffräulein.

»Das ist der alte Risach gewesen«, antwortete diese, »er ist eigens
hereingekommen, um sich Seiner Majestät vorzustellen und seine Freude
über dessen Wiedergenesung auszudrücken.«


Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Risach nennen gehört,
allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen
Namen ich hörte, tue, daß ich jetzt gar nicht wußte, wer dieser Risach
sei, Ich fragte daher mit jener Rücksicht, die man bei solchen Fragen
immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Risach zwar nicht
die höchsten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wichtigen
und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch alternden Kaisers in den
belangreichsten Dingen tätig gewesen sei, daß er mit den Männern,
welche die Angelegenheiten Europas leiteten, an der Schlichtung
dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrschern
geschätzt worden sei, daß man gemeint habe, er werde einmal an die
Spitze gelangen, daß er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens
auf dem Lande, komme aber öfter herein und besuche diesen oder jenen
seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es dürfte noch jetzt
vorkommen, daß hie und da nach seinem Rate gefragt werde. Er soll
reich geheiratet, aber seine Frau wieder verloren haben. Überhaupt
wisse man diese Verhältnisse nicht genau.

Alles dieses hatte mir das Hoffräulein gesagt.

»Siehst du, meine liebe Henriette«, sprach die alte Frau, »wie sich
die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch
jung bist und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch,
das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein
Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus
gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den
er hatte, und der dunkelgrün und schwarz angestrichen war, spazieren
fahren ließ, ist er nicht einmal, sondern oft auf dem Kutschbocke
gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren und uns die Leute
nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der
Wagen des Vaters hat ein Dienerbrett gehabt. Wir waren kaum anders
als Kinder, er war ein junger Student, der wenig Bekanntschaft hatte,
dessen Herkunft man nicht wußte und um den man auch nicht fragte. Wenn
wir in dem Garten auf dem Landhause waren, sprang er mit den Brüdern
auf den hölzernen Esel, oder sie jagten die Runde in das Wasser oder
setzten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen
Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer schöner
gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach
weniger gesehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und
ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder
waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich tot, von
Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater
begann seine Tätigkeit hauptsächlich erst dann, als Risach schon
ausgetreten war. Da sitze ich jetzt nun wieder, aber in einem anderen
Teile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen müssen, du bist
nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen, gütigen Herrin, und
da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre
vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat.«

Ich fragte, ob nicht Risach eine Besitzung im Oberlande habe.

Man sagte mir, daß er dort eine habe.

Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner
Einkehr in diesem Sommer machen zu müssen.

Als ich aber nach Hause gekommen war, erzählte ich die heutige
Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagessen. Der Vater kannte den
Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male
mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jetzt schon lange nicht
gesehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Rosenhause der
Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, daß ich ihn, wenn mich nicht
in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlichkeit getäuscht hat,
selber gesehen habe, daß er im Oberlande eine Besitzung hat, daß er
wohlhabend sei, was mein Beherberger sein müsse, und daß er hohe
Geistesgaben besitze, die mein Beherberger auch zu haben scheine.
Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein
Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die
Dinge so zu belassen, wie sie seien.

Außer diesen zwei Begebenheiten, die wenigstens für mich von Bedeutung
waren, ereignete sich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerksamkeit
besonders in Anspruch genommen hätte. Ich war viel beschäftigt, mußte
oft Stunden der Nacht zu Hilfe nehmen, und so ging mir der Winter weit
schneller vorüber, als es in früheren Jahren der Fall gewesen war. Im
allgemeinen aber befriedigten mich besonders die Hilfsmittel, die eine
große Stadt zur Ausbildung gibt und die man sonst nicht leicht findet.

Als die Tage schon länger wurden, als die eigentliche Stadtlust schon
aufgehört hatte und die stillen Wochen der Fastenzeit liefen, fragte
ich eines Tages Preborn, weshalb er mir denn die Gräfin Tarona nicht
gezeigt habe, die er so liebe, die so schön sein soll, und zu deren
Gewinnung er meinen Beistand angerufen habe.

»Erstens ist sie keine Gräfin«, antwortete er mir, »ich weiß nicht
genau ihren Stand, ihr Vater ist tot, und sie lebt in der Gesellschaft
einer reichen Mutter; aber das weiß ich, daß sie nicht von Adel ist,
was mir sehr zusagt, da ich es auch nicht bin - und zweitens ist sie
und ihre Mutter in diesem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das
ist die Ursache, daß ich sie dir nicht zeigen konnte und daß du
Gelegenheit fandest, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt sie
aber vorerst sehen. Alle, denen heuer Schönheiten gesagt worden sind,
alle, die man gerühmt hat, alle, die geblendet haben, sind nichts, ja
sie sind noch weniger als nichts gegen sie.«

Ich antwortete ihm, daß ich nicht spotten, sondern die Sache einfach
habe sagen wollen.


Wie sich der Frühling immer mehr näherte, rüstete ich mich zu meiner
Reise. Ich wollte heuer früher reisen, weil ich mir vorgenommen hatte,
ehe ich in die Berge ginge, einen Besuch in dem Rosenhause zu machen.
Mit jedem Jahre wurden meine Zurüstungen weitläufiger, weil ich
in jedem Jahre mehr Erfahrungen hatte und meine Entwürfe weiter
hinaus gingen. Heuer hatte ich auch beschlossen, umfassendere
Zeichnungswerkzeuge und sogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder
Gewohnheit ist, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbste
nach der Häuslichkeit zurück sehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie
einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren muß, die er in dem
Herbste verlassen hatte.

Als sich im März in der Stadt schon recht liebliche Tage einstellten,
welche die Menschen in das Freie und auf die Wälle lockten, war ich
mit meinen Vorbereitungen fertig, und nachdem ich von den Meinigen den
gewöhnlichen herzlichen Abschied genommen hatte, reisete ich eines
Morgens ab.

Mir war damals, so wie jetzt noch, jedes Fortfahren von den
Angehörigen in der Nacht sowie das Antreten irgend einer Reise in der
Nacht sehr zuwider. Die Post ging aber damals in das Oberland erst
abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Mietwagen. Die Landhäuser
außer der Stadt, welche reichen Bewohnern derselben gehörten, waren
noch im Winterschlafe. Sie waren teilweise in ihren Umhüllungen mit
Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen Gegensatz zu dem
heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche schon überall
sangen. Ich fuhr nur durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel
gelangte, verließ ich den Wagen und setzte meinen Weg nach meiner
gewöhnlichen Art in kurzen Fußreisen fort.

Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo sie mir als
betrachtenswert aufstießen. Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß der
Mensch leichter und klarer zur Kenntnis und zur Liebe der Gegenstände
gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen sieht, als wenn er
sie selber betrachtet, weil ihm die Beschränktheit der Zeichnung alles
kleiner und vereinzelter zusammen faßt, was er in der Wirklichkeit
groß und mit Genossen vereint erblickt. Bei mir schien sich dieser
Ausspruch zu bestätigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Rosenhause
gesehen hatte, faßte ich Bauwerke leichter auf, beurteilte sie
leichter, und ich begriff nicht, warum ich früher auf sie nicht so
aufmerksam gewesen war.

Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt
verlassen hatte. Als ich eines Morgens an der Ecke des Buchenwaldes
meines Gastfreundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger fällt,
war noch manches Wässerchen mit einer Eisrinde bedeckt. Da ich das
Rosenhaus erblickte, machte es einen ganz anderen Eindruck als damals,
da ich es als weiße Stelle in dem gesättigten und dunkeln Grün der
Felder und Bäume unter einem schwülen und heißen Himmel gesehen
hatte. Die Felder hatten noch, mit Ausnahme der grünen Streifen der
Wintersaat, die braunen Schollen der nackten Erde, die Bäume hatten
noch kein Knöspchen, und das Weiß des Hauses sah zu mir herüber, als
sähe ich es auf einem schwach veilchenblauen Grunde.

Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohrberg vorüber und kam
endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr über den Hügel zu dem
Rosenhause hinaufführt. Ich ging zwischen den Zäunen und nackten
Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwischen den Feldern und stand
dann vor dem Gitter des Hauses. Wie anders war es jetzt. Die Bäume
ragten mit dem schwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die
dunkelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Gartengitter. Über die
Rosenbäumchen an dem Hause war eine schöngearbeitete Decke von Stroh
herabgelassen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erschien, der mich
kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn geführt, der sich eben
in dem Garten befand.

Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer, nur daß sie von wärmerem
Stoffe gemacht war. Die weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich
unbedeckt.

Er schien mir wieder so sehr ein Ganzes mit seiner Umgebung, wie er es
mir im vorigen Sommer geschienen hatte.

Man war damit beschäftigt, die Stämme der Obstbäume mit Wasser und
Seife zu reinigen. Auch sah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern
neben den Bäumen waren, um die abgestorbenen und überflüssigen Äste
abzuschneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte
mein Gastfreund gesagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine
Botschaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hause treffe. Er hatte
aber wahrscheinlich nicht bedacht, daß dieses Schwierigkeiten habe,
indem ich in der Regel selber nicht wissen kann, wie sich durch
Witterungsverhältnisse oder andere Umstände meine Vorhaben zu ändern
gezwungen sein dürften. Ich habe ihm also eine Botschaft nicht
geschickt und ihn auf meine Gefahr hin überrascht. Er aber nahm mich
so freundlich auf, da er mich auf sich zuschreiten sah, wie er mich
bei dem vorigjährigen Aufenthalte in seinem Hause freundlich behandelt
hat.

Ich sagte, er möge es sich selber zuschreiben, daß ich ihn schon so
früh im Jahre in seinem Hause überfalle; er habe mich so wohlwollend
eingeladen, und ich habe mir es nicht versagen können, hieher zu
kommen, ehe die Täler und die Fußwege in dem Gebirge so frei wären,
daß ich meine Beschäftigungen in ihnen anfangen könnte.

»Wir haben eine ganze Reihe von Gastzimmern, wie ihr wißt«, sagte er,
»wir sehen Gäste sehr gerne, und ihr seid gewiß kein unlieber unter
ihnen, wie ich euch schon im vergangenen Sommer gesagt habe.«

Er wollte mich in das Haus geleiten, ich sagte aber, daß ich heute
erst drei Stunden gegangen sei, daß meine Kräfte sich noch in sehr
gutem Zustande befänden und daß er erlauben möge, daß ich hier bei ihm
in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das einzige, daß er mein
Ränzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen lasse.

Er nahm das silberne Glöcklein, das er bei sich trug, aus der Tasche
und läutete. Der Klang war selbst im Freien sehr durchdringend, und
es erschien auf ihn eine Magd aus dem Hause, welcher er auftrug, mein
Ränzlein, das ich mittlerweile abgenommen hatte, und meinen Stock, den
ich ihr darreichte, in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner
einige Weisungen, was in dem Zimmer zu geschehen habe.


Ich fragte nach Gustav, ich fragte nach dem Zeichner in dem
Schreinerhause, und ich fragte sogar nach dem weißen alten Gärtner
und seiner Frau. Gustav sei gesund, erhielt ich zur Antwort, er
vervollkommne sich an Geist und Körper. Er sei eben in seiner
Arbeitsstube beschäftigt, er werde sich gewiß sehr freuen, mich zu
sehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und sei sehr eifrig, und
was die Gärtnersleute anbelange, so verändern sich diese schon seit
mehreren Jahren gar nicht mehr und seien heuer wie ich sie im vorigen
Sommer gesehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Gesinde,
den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie seien alle ganz
wohl, wurde geantwortet, es sei seit meinem vorjährigen Besuche kein
Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch keines der Leute eine
gründliche Ursache zur Unzufriedenheit gegeben.

Nach mehreren gleichgültigen Gesprächen namentlich über die
Beschaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und über
das Vorrücken der Wintersaaten auf den Feldern wendete er sich wieder
mehr der Arbeit, die vor ihm geschah, zu, und auch ich richtete meine
Aufmerksamkeit auf dieselbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte,
daß er die Baumstämme waschen lasse, die Sache sehr umständlich
gedacht. Ich sah aber jetzt, daß sie mittelst Doppelleitern und
Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Bürsten
konnte man in die höchsten Zweige emporfahren, und da die Leute
von der Zweckmäßigkeit der Maßregel fest überzeugt waren und emsig
arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten
Schnelligkeit vor. In der Tat, wenn man einen gewaschenen und
gebürsteten Stamm ansah, wie er rein und glatt in der Luft stand,
während sein Nachbar noch rauh und schmutzig war, so meinte man, daß
dem einen sehr wohl sein müsse und daß der andere verdrossen aussehe.
Mir fiel die stolze Äußerung ein, die mein Gastfreund im vergangenen
Sommer zu mir getan hatte, daß ich mir den Stamm jenes Kirschbaumes
ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussähe wie feine graue Seide. Sie
war wirklich wie Seide und mußte es gerade immer mehr werden, da sie
in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde.

Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurückgingen, sah ich
auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet,
das Dornenreisig zu den Nestern der Vögel unter ihnen hergerichtet,
die Wege von den Schäden des Winters ausgebessert, unter den
Zwergbäumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert und
bei den schwächeren, welche Stäbe hatten, nachgesehen, ob diese
festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wurden
losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Gemüsegarten umgegraben,
Fenster an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen
ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen und endlich hie und da ein
Behältnis für die Vögel gereinigt und befestigt.

Ich verabschiedete mich von meinem Gastfreunde, da er sehr mit der
Leitung der Arbeiten beschäftigt war, und ging allein in dem Garten
herum, in Teilen, in die ich wollte. Die Vögel waren schon zahlreich
da, sie schlüpften durch die laublosen Zweige der Bäume, und es begann
schon hie und da ein Laut oder ein Zwitschern. Besonders lieblich und
hell schallte der Gesang der aufsteigenden Lerchen von den den Garten
umgebenden Feldern herein. Die Vorrichtungen zur Ernährung und
Tränkung der Vögel waren wegen der Blattlosigkeit der Bäume und
Gesträuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei
meiner ersten Ankunft, da ich jetzt bereits von ihnen wußte. Ich sah
mehrere zum Aufstecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein
Gastfreund erzählt hatte.

Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blätter und der
Blüten waren schon sehr geschwollen und harrten der Zeit, in welcher
sie aufbrechen würden.

Ich stieg bis zu dem großen Kirschbaume empor und sah über den Garten,
über das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft
war über alles ausgegossen. Dieser schöne Tag, deren es in der
frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen
Gastfreund bewog, so viele Arbeiten in dem Garten zu veranlassen.
Unter der heiteren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde.
Ich wollte auch zu der Felderrast hinüber gehen; allein der Weg,
der am Morgen gefroren gewesen sein mochte, war jetzt weich und
tief durchfeuchtet, daß das Gehen auf ihm sehr unangenehm und
verunreinigend gewesen wäre. Ich sah die dunkeln Wintersaaten und die
nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an und
ging dann wieder hinab.

Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein
Gastfreund gesagt hatte, daß sie sich nicht verändert hätten. Der Mann
schien mir noch weißer geworden zu sein. Seine Haare unterschieden
sich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unverändert. Sie
mußte von einer sehr reinlichkeitliebenden Familie stammen, weil sie
das Häuschen so nett hielt und den alten Mann so fleckenlos und knapp
heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen
Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen
Beschäftigung angehörte.

Da ich von dem Gewächshause gegen die Fütterungstenne ging, begegnete
mir Gustav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu und grüßte mich.

Der Knabe hatte sich in kurzer Zeit sehr geändert. Er stand sehr schön
neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub,
kein Gras, keinen Stengel, keine Blume getrieben hatte, sondern der
Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen, die braunen Stämme und die
nackten Zweige zeigte, war er noch schöner; wie ich oft beim Zeichnen
bemerkt hatte, daß zum Beispiele Augen der Tiere in struppigen Köpfen
noch glänzender erschienen und daß feine Kinderangesichtchen, wenn sie
von Pelzwerk umgeben sind, noch feiner aussehen. Ein sanftes Rot war
auf seinen Wangen, braune Haarfülle um die Stirne, und die großen
schwarzen Augen waren wie bei einem Mädchen. Es war, obwohl er sehr
heiter war, fast etwas Trauerndes in ihnen.

Wir gingen dem Platze zu, auf welchem sein Ziehvater beschäftigt war.
Ich erzählte ihm auf dem Wege von meinen Angehörigen; von meiner
Mutter, von meinem Vater und von meiner lieblichen Schwester. Auch
erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was sie für
Vergnügungen biete, was sie für Unannehmlichkeiten habe und wie ich in
ihr meine Zeit hinbringe.

Er sagte mir, daß er jetzt schon in die Naturlehre eingerückt sei, daß
ihm der Vater Versuche zeige und daß ihn die Sache sehr freue.

Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gustav zeigte mir allerlei
und machte mich bald auf diese, bald auf jene Veränderung aufmerksam,
welche sich seit meiner früheren Anwesenheit ergeben habe.

Der Mittag vereinigte uns in dem Hause.

Da ich so, da die Speisen erschienen, meinem alten Gastfreunde
gegenüber saß, fiel mir plötzlich auf, was der Mann für schöne Zähne
habe. Sehr dicht, weiß, klein und mit einem feinen Schmelze überzogen
saßen sie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten
durch den vielen Aufenthalt in der freien Luft ein gutes und gesundes
Rot, nur seine Haare schienen mir wie bei dem Gärtner noch weißer
geworden zu sein.

Nach dem Essen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war
sehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein
erwärmendes Feuer.

Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus. Eustach begrüßte mich aus
seiner Stelle tretend sehr heiter, und ich erwiderte seinen Gruß auf
das herzlichste. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, daß sie
mich noch kannten. Ich besah zuerst die Dinge nur flüchtig und im
allgemeinen. Der schöne Tisch war sehr weit vorgerückt; aber er war
noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen
gemacht worden. Man zeigte sie mir und machte mich darauf aufmerksam,
was aus ihnen werden könne. Auch Plane zu selbstständigen Arbeiten
waren wieder gemacht worden, und man legte mir in kurzem die
Grundansichten auseinander. Ich bat Eustach, daß er erlaube, daß ich
ihn während meiner Anwesenheit ein paar Male besuche. Er gestand es
sehr gerne zu.

Nach diesem Besuche machten wir trotz der sehr schlechten Wege einen
weiten Spaziergang. Da ich davon sprach, daß ich schon die Vögel in
dem Garten bemerkt habe, sagte mein Gastfreund: »Wenn ihr länger bei
uns wäret, so würdet ihr jetzt eine ganze Lebensgeschichte dieser
Tiere erfahren. Die Zurückgebliebenen fangen schon an, sich zu
erheitern, die fortgezogen sind, treffen bereits allmählich ein und
werden mit Geschrei empfangen. Sie drängen sich sehr an die Tafel und
sputen sich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungssorgen verwunden
sind; denn dort werden sie schwerlich einen Brotvater finden, der
ihnen gibt. Von da an werden sie immer inniger und singen täglich
schöner. Dann wird ein Gekose in den Zweigen, und sie jagen sich.
Hieran schließt sich die Häuslichkeit. Sie sorgen für die Zukunft und
schleppen sich mit närrischen Lappen zu dem Nesterbau. Ich lasse ihnen
dann allerlei Fäden zupfen, sie nehmen sie aber nicht immer, sondern
ich sehe manchmal einen, wie er an einem kotigen Halme zerrt. Nun
kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Männerjahren. Da werden
die leichtsinnigen Vögel ernsthaft, sie sind rastlos beschäftigt,
ihre Nachkommen zu füttern, sie zu erziehen und zu unterrichten, daß
sie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, namentlich zu der großen
bevorstehenden Reise. Gegen den Herbst kömmt wieder eine freiere Zeit.
Da haben sie gleichsam einen Nachsommer und spielen eine Weile, ehe
sie fort gehen.«

Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt waren und es Abend wurde,
versammelten wir uns an dem Kamine des Speisezimmers, in welchem ein
lustiges Feuer brannte. Auch Eustach wurde herüber geholt, und der
weiße Gärtner mußte kommen und sagen, welche Fortschritte die Pflanzen
in den Winterbeeten und in den Gewächshäusern gemacht hatten. Die
Haushälterin Katharina setzte hie und da ein warmes Getränke auf ein
Tischchen.


Am andern Tage morgens ging ich zu meinem Gastfreunde in das
Fütterungszimmer, um zuzusehen. Er suchte sich alle Gattungen Nahrung
aus den Fächern zurecht, öffnete dann die Fenster und tat das Futter
auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen und ich bei ihm.
Trotzdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen.
Ihn fürchteten sie nicht, weil sie ihn als den Nährvater kannten,
und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie drängten sich, pickten,
zwitscherten und balgten sich sogar mitunter.

»Ich gebe im späteren Frühlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne
noch eine leckere Draufgabe«, sagte er, »weil manches Mal eine
bedrängte Mutter unter ihnen sein kann. Die so hastig und zugleich so
erschreckt fressen, sind Fremde. Sie würden um keinen Preis zu einem
Menschen herzu gehen, wenn sie nicht der bitterste Hunger nötigte. Ich
habe in harten Wintern schon die seltensten Vögel auf diesen Brettern
gesehen.«

Als alles vorüber war und sich keine Gäste mehr einfanden, schloß er
die Fenster.

Ich stieg von da auf den Dachboden des Hauses empor, weil er gesagt
hatte, daß jetzt auch den Hasen außerhalb des Gartens Futter gestreut
würde und daß man sie von da sehen könnte. Sie haben noch nichts als
die karge Wintersaat und Nadelreiser, weshalb man noch nachhelfen
müsse. Da die Magd die Blätter ausgestreut und sich entfernt hatte,
kamen schon Hasen herzu. Ich schraubte ein Fernrohr an einen Balken,
und es war lächerlich anzusehen, worauf mich Gustav aufmerksam machte,
wenn ein riesiger Hase in dem Fernrohre saß, mit schreckhaften Augen
auf das verdächtige Mahl sah und schnell die Lippen bewegte, als fräße
er schon. Da ich auch dies gesehen hatte, stieg ich wieder herunter
und ging mit Gustav in das Zimmer, in welchem die Geräte zur
Naturlehre standen.

Es sollte nun erst das Frühmahl eingenommen werden. Dasselbe wurde
zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwissenschaftlichen
Gerätschaften genommen, weil man, da man einen Teil des Vormittages
in seinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speisezimmer
hinabsteigen wollte und weil in derselben Zeit in den andern
Wohngemächern des alten Mannes, im Arbeitszimmer und Schlafzimmer,
eben aufgeräumt und gelüftet wurde.

Mein Gastfreund erwartete mich und Gustav schon, denn er war nicht mit
uns auf den Dachboden hinauf gestiegen. Das Gemach war sanft erwärmt,
und in der Nähe des Ofens stand ein Tisch, der gedeckt und mit
allen Geräten versehen war, ein angenehmes Frühmahl zu bereiten. Er
stand auf einem freien Raume, um den herum sich die Werkzeuge der
Wissenschaft befanden.

Da wir nach dem Frühmahle nun so saßen, da eine anmutige Wärme das
Zimmer erfüllte, da von dem Widerscheine der ganz schief die Fenster
treffenden Morgensonne das Messing, das Glas und das Holz der
verschiedenartigen Werkzeuge erglänzte, sagte ich zu meinem alten
Gastfreunde: »Es ist seltsam, da ich von eurer Besitzung in die Stadt
und ihre Bestrebungen kam, lag mir euer Wesen hier wie ein Märchen in
der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe,
ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen.
Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.«

»Es gehört wohl Beides und Alles zu dem Ganzen, daß sich das Leben
erfülle und beglücke«, antwortete er. »Weil die Menschen nur ein
Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in
das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in
uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den
Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und
Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an und vermögen
nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir
sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und
unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es
doch oft umgekehrt sein kann.«

Ich verstand dieses Wort damals noch nicht so ganz genau, ich war noch
zu jung und hörte selber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die
Dinge um mich.


Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Rosenhaus
bestellt hatte. Ich packte ihn aus und zeigte Gustav, der mich
besuchte, manche Bücher, Zeichnungen und andere Dinge, die er
enthielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich ein.

So gingen nun mehrere Tage dahin.

In diesem Hause war jeder unabhängig und konnte seinem Ziele
zustreben. Nur durch die gemeinsame Hausordnung war man gewissermaßen
zu einem Bande verbunden. Selbst Gustav erschien völlig frei. Das
Gesetz, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es
war sehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem seinigen gemacht, er
hatte es dazu machen müssen, weil er verständig war, und so lebte er
darnach.

Gustav bat mich sehr, ich möchte einmal seinem Unterrichte in der
Naturlehre beiwohnen. Ich sagte es meinem Gastfreunde, und dieser
hatte nichts dawider. So war ich dann nicht einmal, sondern mehrere
Male bei diesem Unterrichte zugegen. Mein alter Gastfreund saß in
einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er
machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich
war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung oder, wo dies nicht
möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung
darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur
Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet
hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung.
Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der
ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige,
was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die
Grunderscheinung oder das Gesetz dar.

Bei diesem Unterrichte, wurde nicht ein gewisses Buch zu Grunde
gelegt, sondern Gustav schrieb später das, was ihm erzählt worden war,
aus dem Gedächtnisse auf, der alte Mann besserte es dann in seiner
Gegenwart aus, und so erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der
Naturwissenschaft, sondern lernte den Stoff selber schon durch das
Aufschreiben und Ausbessern. Was sich Gustav angeeignet hatte, wurde
zu Zeiten gleichsam in freundlichen Gesprächen durchgenommen. Die
Sprache des Unterrichtes war stets so einfach und klar, daß ich
meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können. Mir fiel es
jetzt erst recht auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in
dieser Wissenschaft verfahren, welche sie gewissermaßen in eine
wissenschaftliche Necksprache kleiden, die ein Schüler nicht versteht
und mit welcher sie die Mathematik so in eins verflechten, daß beide
beides nicht sind und ein Ganzes auch nicht darstellen. Ich sah, daß
Gustav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es
tat, erkannte ich, daß er es stets mit Sachkenntnis und Klarheit tat,
und daß er immer die Rechnung nicht als Hauptsache, sondern hier
als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urteilte aus meinen eigenen
früheren Arbeiten, daß er auch in diesem Fache einen gründlichen
Unterricht erhalten haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach und
erfuhr, daß auch hierin sein Ziehvater sein Lehrer gewesen sei.

Ich besuchte später auch den Unterricht in der Länderkunde. Hier fiel
mir auf, daß gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den
nehmlichen Maßstab hatten, so daß Rußland in einer außerordentlich
großen, die Schweiz in einer sehr kleinen Karte dargestellt war.
Mir leuchtete der Zweck dieser Maßregel ein, damit nehmlich
bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der
Größenverhältnisse dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei
dieser Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit
über die Frage abgeschlossen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe so
südlich wie Rom liege, was die meisten mit Lachen verneinten. Eine
herbeigebrachte Karte zeigte, daß es südlicher als Neapel liege.

Allgemein sagten damals auch die großen Leute, die zugegen waren,
daß bei Kindern dieser Irrtum, durch die Raumverhältnisse, in denen
unsere gewöhnlichen Karten gezeichnet seien, veranlaßt werden mußte.
Die Karten, welche Gustav gebrauchte, waren von dem Zeichner im
Schreinerhause nach Karten unserer sogenannten Atlasse verfertigt
worden.

Ich fragte meinen Gastfreund, ob Gustav auch Geschichte lerne, worauf
er erwiderte: »Man nimmt sehr häufig mit jungen Schülern gleich
zur Erdbeschreibung auch Geschichte vor; ich glaube aber, daß man
hierin Unrecht tut. Wenn man in der Erdbeschreibung nicht bloß die
geschichtliche Einteilung der Erde und Länder vor Augen hat, was ich
auch für einen Fehler halte, sondern wenn man auf die bleibenden
Gestaltungen der Erde sieht, auf denen sich eben durch ihren Einfluß
verschiedenartige Völker gebildet haben, so ist die Erde ein
Naturgegenstand und Erdbeschreibung zum großen Teile ein Bestandteil
der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften sind uns aber viel
greifbarer als die Wissenschaften der Menschen, wenn ich ja Natur und
Menschen gegenüber stellen soll, weil man die Gegenstände der Natur
außer sich hinstellen und betrachten kann, die Gegenstände der
Menschheit aber uns durch uns selber verhüllt sind.

Man sollte meinen, daß das Gegenteil statthaben solle, daß man sich
selber besser als Fremdes kennen solle, viele glauben es auch; aber
es ist nicht so. Tatsachen der Menschheit, ja Tatsachen unseres
eigenen Innern werden uns, wie ich schon einmal gesagt habe, durch
Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens
getrübt. Glaubt nicht der größte Teil, daß der Mensch die Krone der
Schöpfung, daß er besser als Alles, selbst das Unerforschte sei? Und
meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu schreiten vermögen,
nicht, daß das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die
unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch dürfte
es ganz anders sein. Ich glaube daher, daß Gustav erst nach Erlernung
der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Menschen übergehen
soll und daß er da ungefähr die Reihe beobachten soll: Körperlehre,
Seelenlehre, Denklehre, Sittenlehre, Rechtslehre, Geschichte. Hierauf
mag er etwas von den Büchern der sogenannten Weltweisheit lesen, dann
aber muß er in das Leben selber hinaus kommen.«

Zum Unterrichte für Gustav waren gewisse Stunden festgesetzt, welche
der alte Mann nie versäumte, andere Stunden waren für die Selbstarbeit
bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die übrige Zeit war
zu freier Beschäftigung überlassen.

In solchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Lesezimmer. Mein
Gastfreund kam auch öfter und gelegentlich auch Eustach oder der eine
und der andere Arbeiter. Für Gustav waren nach der Wahl seines Lehrers
die Bücher, die er lesen durfte, bestimmt. Er benutzte sie fleißig,
ich sah aber nie, daß er nach einem anderen langte. Eustach und die
anderen Leute hatten freie Auswahl, und natürlich ich auch. Da ich
das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es getadelt, daß das
Bücherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir
dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jetzt
länger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als
einen Irrtum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geschah, als
daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewissermaßen eingeweiht; die
Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer ist ihr Tempel,
und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Diese Einrichtung ist auch
eine Huldigung für den Geist, der so mannigfaltig in diesen gedruckten
und beschriebenen Papieren und Pergamentblättern enthalten ist. In dem
Lesezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Gebrauch
dieses Geistes vermittelt, und seine Erhabenheit wird in unser
unmittelbares und irdisches Bedürfnis gezogen. Das Zimmer ist auch
recht lieblich zum Lesen. Da scheint die freundliche Sonne herein,
da sind die grünen Vorhänge, da sind die einladenden Sitze und
Vorrichtungen zum Lesen und Schreiben. Selbst daß man jedes Buch nach
dem zeitlichen Gebrauche wieder in das Bücherzimmer an seinem Platz
tragen muß, erschien mir jetzt gut; es vermittelt den Geist der
Ordnung und Reinheit und ist gerade bei Büchern wie der Körper
der Wissenschaft das System. Wenn ich mich jetzt an Bücherzimmer
erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern, Tische, Sessel,
Bänke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Bücher, Papiere,
Schreibzeuge oder gar Geräte zum Abfegen, so erschienen mir solche
Büchersäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirtschaftet.

Ich ging auch öfter zu Eustach in das Schreinerhaus. An einem der
ersten sehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit seiner
Erlaubnis heraus und sah sie noch einmal mit großer Muße und
Genauigkeit an. Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine
Zeichnungsübungen während des vergangenen Winters gefördert hatten.
Ich verstand jetzt Vieles, was ich da vorfand, besser als im Sommer,
und es gefielen mir die meisten Dinge auch mehr. Ich teilte ihm
manches von meinen Zeichnungen mit, namentlich von Zeichnungen von
Pflanzen, deren ich dieses Mal eine größere Anzahl in meinem Koffer
mitgebracht hatte.

Bei meiner ersten Anwesenheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige
Schriften, ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein so
kleines Behältnis gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine
Freude an diesen Dingen; aber sonderbar war es anzusehen, wie er die
Pflanzenzeichnungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner anblickte,
sondern als Baumeister, der ihre Gestalt verwenden kann. Er versuchte
später selber auch Zeichnungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat
der Unterschied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder
wurden ihm allgemach durch unmerkliche Zusätze aus Gewächsen schöne
Verzierungen. Er suchte sich auch in der Regel solche Vorbilder aus,
die zu seinem Berufe in näherer Beziehung standen oder in eine solche
gebracht werden konnten. In Bezug auf die anderen Dinge, die in dem
Schreinerhause gearbeitet wurden, zeigte er mir Alles und erklärte mir
Manches, wenn ich nach Erklärung verlangte. Auch hierin glaubte ich
seit dem vorigen Sommer Fortschritte gemacht zu haben, namentlich da
ich die Gegenstände, die mein Vater besaß, wohl genau betrachtet und
mir eingeprägt hatte, um ihre Bilder hieher übertragen und mit dem,
was sich hier befand, vergleichen zu können.

Die Gestalten gingen jetzt leichter in mein Wesen ein, mir gefiel
Vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf Manches
aufmerksam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir saßen zuweilen in
dem freundlichen Zimmer Eustachs, wenn die Vormittagssonne durch die
geschlossenen Vorhänge sanft hereinblickte, und redeten von allerlei
Dingen.

An Nachmittagen, besonders wenn trübes Wetter war und die Geschäfte im
Freien nicht eine große Ausdehnung hatten, versammelte man sich in dem
Arbeitszimmer meines Gastfreundes. Dieses Zimmer war an Nachmittagen,
wo es sehr zusammengeräumt und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt
der kleinen Gesellschaft, wenn sie sich überhaupt vereinigte. Mein
alter Gastfreund hatte sich dieses Gemach sehr wohnlich, wenn auch
für Einsamkeit geeignet, herrichten lassen, wie er überhaupt, wenn er
nicht eigens Menschen um sich versammelte, die Einsamkeit liebte. Er
hatte neben seinem Sessel einen Glockenzug, der durch den Fußboden in
die Gesindezimmer hinab ging, um schnell einen Diener rufen zu können.
In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches. Dort befanden sich außer
dem gewöhnlichen Glockenzuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei
Platten, die durch das leiseste Auflegen einer Hand eine laut und
lange tönende Glocke in Bewegung setzten, damit man, wenn dem alten
Manne etwas zustieße, schnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener
hatten immer die Schlüssel zu seinen Gemächern, um auch in der Nacht
von außen aufsperren zu können. Diese Vorrichtungen waren eine
Erfindung Eustachs, weil der alte Mann jede Einschränkung durch
Dienerschaft, ja die Nähe derselben nicht wollte, um nicht gestört zu
werden. Er ließ auch nicht zu, daß Gustav in einem Zimmer neben ihm
schlafe, um sich nicht an ihn zu gewöhnen und ihn dann zu vermissen,
da der Jüngling doch einmal fort müsse. Wenn man in dem Arbeitszimmer
meines Gastfreundes versammelt war, besprach man gewöhnlich
Angelegenheiten des Besitztums, Veränderungen, die notwendig sind,
Arbeiten, die man vornehmen müsse, und Gegenstände der Kunst. Hieher
wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in
Holz ausführen wollte oder die Anlagen in dem Garten oder Umänderungen
an Gebäuden betrafen. Es war gut, diese Entwürfe gerade in dieses
Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schöne und ausgezeichnete
Umgebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede
Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe waren, sogleich
aufzeigte und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere
Menschen in das Arbeitszimmer des alten Mannes kamen, war immer ein
Teppich über den auserlesenen Fußboden desselben gebreitet, damit er
keine Beschädigung erleide.


Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in den Meierhof. Dort
wurden die Arbeiten, welche der erste Frühling bringt, rüstig
betrieben. Das Ganze war seit meiner vorjährigen Anwesenheit in
Ordnung und Fülle sehr vorgeschritten. Man mußte bis spät in den
Herbst hinein und selbst im Winter, soweit es tunlich war, fleißig
gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr bloß die schöne
Pflasterung an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über den
ganzen Hofraum, sondern es war in der Mitte desselben ein kleiner
Springquell, der mit drei Strahlen in ein Becken fiel und eine
Blumenanlage um sich hatte.

Auf das alles sahen die hellen Fenster des Hofes ringsum heraus. So
sah dieser Teil des Gebäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und
Scheunen waren, wie ein Edelsitz aus. Ich fragte meinen Gastfreund,
ob er neues Mauerwerk habe aufführen lassen, da ich den Meierhof viel
vollkommener sehe als im vergangenen Jahre, und da er auch schöner
sei, als sie hier im Lande gebaut würden.

»Ich habe keine Mauern aufführen lassen«, antwortete er, »nur die
letzten äußeren Verschönerungen habe ich angebracht, und die Fenster
habe ich vergrößert, der Grund war schon da. Die Meierhöfe und
größeren Bauerhöfe unserer Gegend sind nicht so häßlich gebaut, als
ihr meint. Nur sind sie stets bis auf ein gewisses Maß fertig, weiter
nicht; die letzte Vollendung, gleichsam die Feile, fehlt, weil sie in
dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe bloß dieses Letzte gegeben.
Wenn man mehrere Beispiele aufstellte, so würden sich im Lande die
Ansichten über das notwendige Aussehen und die Wohnbarkeit der Häuser
ändern. Dieses Haus soll so ein Beispiel sein.«

Die Wege um den Hof und dessen Wiesen und Felder waren auch nicht mehr
so, wie sie größtenteils in dem vorigen Sommer gewesen waren. Sie
waren fest, mit weißem Quarze belegt und scharf und wohl abgegrenzt.

An schönen Mittagen, die bereits auch immer wärmer wurden, saß ich
gerne auf dem Bänkchen, das um den großen Kirschbaum lief, und sah auf
die unbelaubten Bäume, auf die frisch geeggten Felder, auf die grünen
Tafeln der Wintersaat, die schon sprossenden Wiesen und durch den
Duft, der in dem ersten Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die
Hochgebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf
ihnen liegenden Schnees spielten. Gustav schloß sich an mich viel an,
wahrscheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauses ihm an Alter
am nächsten war. Er saß deshalb gerne bei mir auf dem Bänkchen. Wir
gingen manches Mal auf die Felderrast hinüber, und er zeigte mir einen
Strauch, auf dem bald Blüten hervor kommen würden, oder eine sonnige
Stelle, auf der das erste Grün erschien, oder Steine, um die schon
verfrühte Tierchen spielten.

Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Natursammlung eine
Zusammenstellung aller inländischen Hölzer. Sie waren in lauter
Würfeln aufgestellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Fasern,
die übrigen vier nach den Fasern geschnitten waren. Von diesen vier
Flächen war eine rauh, die zweite glatt, die dritte poliert und die
vierte hatte die Rinde. Im Innern der Würfel, welche hohl waren und
geöffnet werden konnten, befanden sich die getrockneten Blüten, die
Fruchtteile, die Blätter und andere merkwürdige Zugehöre der Pflanze,
zum Beispiel gar die Moose, die auf gewissen Orten gewöhnlich wachsen.
Eustach sagte mir, der alte Herr - so nannten alle Bewohner des Hauses
meinen Gastfreund, nur Gustav nannte ihn Ziehvater - habe diese
Sammlung angelegt und die Anordnung so ausgedacht. Sie soll nach dem
Willen des alten Herrn noch einmal gemacht und der Gewerbschule zum
Geschenke gegeben werden.

Seine seltsame Kleidung und seine Gewohnheit, immer barhäuptig zu
gehen, welch beides mir Anfangs sehr aufgefallen war, beirrte mich
endlich gar nicht mehr, ja es stimmte eigentlich zu der Umgebung
sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum wohnenden Bevölkerung, von
der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich
war und von der er sich doch wieder als etwas Selbstständiges
unterschied. Mir fiel im Gegenteile ein, daß manches nicht
geschmackvoll sei, was wir so heißen, am wenigstens der Stadtrock und
der Stadthut der Männer.

In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerichtet waren, wurde
ich einmal auf meine Bitte geführt. Sie gefielen mir wieder sehr,
besonders das letzte, kleine, welchem ich jetzt den Namen »die Rose«
gab. Man konnte in ihm sitzen, sinnen und durch das liebliche Fenster
auf die Landschaft blicken. Daß ich nicht um den Gebrauch dieser
Zimmer fragte, begreift sich.

Ich erzählte meinem Gastfreunde oft von meinem Vater, von der Mutter
und von der Schwester. Ich erzählte ihm von allen unsern häuslichen
Verhältnissen und beschrieb ihm mehrfach, so genau ich es konnte, die
Dinge, die mein Vater in seinen Zimmern hatte und auf welche er einen
Wert legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch
nicht darnach.

Ebenso wußte ich, obwohl ich nun länger in seinem Hause gewesen war,
noch immer seinen Namen nicht. Zufällig ist er nicht genannt worden,
und da er ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsatz
niemanden darum fragen. Von Gustav oder Eustach wäre er am leichtesten
zu erfahren gewesen; aber diese zwei mochte ich am wenigsten fragen,
am allerwenigsten Gustav, wenn er unzählige Male unbefangen den
Namen Ziehvater aussprach. Der Mann war sehr gut, sehr lieb und sehr
freundlich gegen mich, er nannte seinen Namen nicht, ich konnte auch
nicht mit Gewißheit voraussetzen, daß er meine, ich kenne denselben;
daher beschloß ich, gar nicht, selbst nicht in der größten Entfernung
von diesem Orte, um den Namen des Besitzers des Rosenhauses zu fragen.


Nach und nach änderte sich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger.
Die Tage waren viel länger geworden, die Sonne schien schon sehr warm,
die Fristen, in denen der Himmel sich klar und wolkenlos zeigte,
wurden bereits länger als die, in denen er umwölkt oder neblich war;
die Erde sproßte, die Bäume knospten, an den Rosenbäumchen vor dem
Hause wurde sehr fleißig gearbeitet, alles war heiter, und der
Frühling war in seine ganze Fülle eingetreten. Diese Zeit war schon
lange als diejenige bestimmt gewesen, in welcher ich abreisen würde.
Ich sagte dieses noch einmal meinem Gastfreunde, und da ich Anstalten
getroffen hatte, meinen Koffer fort zu senden, wurde der Tag der
Abreise festgesetzt.

Wir hatten früher noch die Verabredung getroffen, daß ich meine
Arbeiten so einrichten wolle, daß ich zur Zeit der Rosenblüte
wiederkommen und wieder längere Zeit in dem Hause verbleiben könne. Da
ich sah, daß ich gerne aufgenommen werde und daß ich in Hinsicht der
äußeren Mittel keine Last in dem Hause sei, und da mein Gemüt sich
auch diesem Orte zugeneigt fühlte, so war mir diese Verabredung ganz
nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gastfreund, müßte ich dann in den
Gebirgstälern schon zur Herreise aufbrechen, wenn dort kaum die Rosen
völlige Knospen hätten, weil sie hier der bessern Erde und der bessern
Pflege willen früher blühten als an allen Teilen des Landes. Ich sagte
es zu, und so war alles in Ordnung.

Am Tage vor meiner Abreise kam Eustachs Bruder zurück. Er mochte
zwanzig und einige Jahre alt sein, war schön gewachsen, hatte braune
Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lippen.
Mir war, als wäre ich dem Manne schon einige Male auf meinen Reisen
begegnet. Er brachte in seinem Buche viele und darunter schöne
Zeichnungen mit, welche mit Anteil betrachtet wurden. Sie sollten nun
auf größerem Papiere und in künstlerischer Richtung ausgeführt werden.

Als ich am Abende vor der Abreise noch im Meierhofe gewesen war, als
ich am Morgen derselben zu Eustach und den Gärtnersleuten gegangen
war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl gesagt und von meinem
Gastfreunde und von Gustav vor dem Hause Abschied genommen hatte, ging
ich den Hügel hinunter, und ich hörte schon von dem Garten und von den
Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlingsgesang der Vögel.



Die Begegnung

Auf der Reise nach dem Orte meiner Bestimmung zeichnete ich ein
schönes Standbild, welches ich in der Nische einer Mauertrümmer fand.
Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen, in
welchem ich es jetzt immer trug. Dies war die einzige Unterbrechung
und der einzige Aufenthalt auf dieser Reise gewesen.

Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was
ich tat, daß ich meine Zeit besser zu Rate hielt als früher. Ich
mußte mir bekennen, daß die Art, wie in dem Rosenhause das Tagewerk
betrieben wurde, auf mich von großem Einflusse sein solle. Da dort der
Wert der Zeit sehr hoch angeschlagen und dieses Gut sehr sorgfältig
angewendet wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen
Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung
als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit
hinzuarbeiten, während ich früher, durch augenblickliche Eindrücke
bestimmt, mit den Zielen öfter wechselte und, obwohl ich eifrig
strebte, doch eine dem Streben entsprechende Wirkung nicht jederzeit
erreichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine bestimmte Strecke zu
durchforschen und im Verlaufe überhaupt nichts liegen zu lassen, was
von Wesenheit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zukunft zu
verschieben, so daß, sollte ich bis zur Rosenzeit mit der vorgesetzten
Strecke nicht fertig werden, wenigstens der Teil, den ich vollendete,
wirklich fertig wäre und ich auf genau umschriebene Ergebnisse zu
deuten im Stande wäre. Das sah ich nach dem Beginne der Arbeiten sehr
bald, daß ich mir den Raum zu groß ausgesteckt hatte; aber auch das
sah ich sehr bald, daß der kleinere Raum, den ich überwinden würde,
mir mehr an Erfolg sicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit
durch geraume Zeit den Blick so ziemlich auf Alles gespannt hätte.
Hiezu kam auch eine gewisse Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn ich
sah, daß sich Glied an Glied zu einer Ordnung aneinander reihte,
während früher mehr ein ansprechender Stoff durcheinander lag, als daß
eine aus dem Stoffe hervorgehende Gestaltung sich entwickelt hätte.

Meine Kisten füllten sich und stellten sich an einander.

Meine Führer und meine Träger gewannen auch einen Halt in der neuen
Ordnung und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung
zu ihnen, die sie erwiderten, so daß sich ein fröhliches Zusammenleben
immer mehr gestaltete und die Arbeit heiter und darum auch zweckmäßig
wurde. Oft, wenn wir abends in der Wirtsstube um den großen
viereckigen Ahorntisch oder, da die Tage endlich heißer wurden, statt
an den toten Brettern des Tisches draußen unter den lebenden und
rauschenden Ahornen saßen, um welche ein fichtener Tisch zusammen
gezimmert war und auf welche das vielfenstrige Gasthaus heraus sah,
rechneten sie sich vor, was heute, was seit vierzehn Tagen geschehen
sei, wie viel wir, wie sie sich ausdrückten, abgetan haben, und wie
viel Gebirge zusammen gestellt worden sei. Sie fingen auch bald an,
die Sache nach ihrer Art zu begreifen, über Vorkommnisse in den
Gebirgszügen zu reden und zu streiten und mir zuzumuten, daß, wenn ich
mir merken könnte, woher alle die gesammelten Stücke seien, und wenn
ich die Höhe und die Mächtigkeit der Gebirge zu messen im Stande
wäre, ich das Gebirge im Kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde
aufstellen könnte. Ich sagte ihnen, daß das ein Teil meines Zweckes
sei, und wenn gleich das Gebirge nicht auf einer Wiese oder auf
einem Felde zusammengestellt werde, so werde es doch auf dem Papiere
gezeichnet und werde mit solchen Farben bemalt, daß jeder, der sich
auf diese Dinge verstände, das Gebirge mit allem, woraus es bestehe,
vor Augen habe. Deshalb merke ich mir nicht nur, woher die Stücke
seien und unter welchen Verhältnissen sie in den Bergen bestehen,
sondern schreibe es auch auf, damit es nicht vergessen werde, und
beklebe auch die Stücke mit Zetteln, auf denen alles Notwendige stehe.
Diese Stücke, in ihrer Ordnung aufgestellt, seien dann der Beweis
dessen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne,
aufgemalt sei. Sie meinten, daß dieses sehr klug getan sei, um, wenn
einer einen Stein oder sonst etwas zu einem Baue oder dergleichen
bedürfe, gleich aus der Karte heraus lesen zu können, wo er zu finden
sei. Ich sagte ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin bestehe, aus
dem, was man in den Gebirgen finde, schließen zu können, wie sie
entstanden seien.

Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte einer, sondern seien
seit Erschaffung der Welt schon dagewesen.

»Sie wachsen auch«, sagte ein anderer, »jeder Stein wächst, jeder
Berg wächst wie die anderen Geschöpfe. Nur«, setzte er hinzu, weil er
gerne ein wenig schalkhaft war, »wachsen sie nicht so schnell wie die
Schwämme.«

So stritten sie länger und öfter über diesen Gegenstand, und so
besprachen wir uns über unsere Arbeiten. Sie lernten durch den bloßen
Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere Anschauen
derselben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten
oft über eine irrige Ansicht und Meinung, die sie früher gehabt
hatten.

Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhaltung der Ordnung dehnte
sich aus, die Blätter mehrten sich und gaben Aussicht zu einer
umfassenden und regelmäßigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn die
Wintertage oder sonst Tage der Muße gekommen sein würden.

An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab
es noch Gelegenheit zu manchen angenehmen Freuden und zu stärkender
Erholung.

Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von dem ich dachte, daß ihn
mein Gastfreund in seinem Rosenhause noch gar nicht habe. Er war von
dem reinsten Weiß, Rosenrot und Strohgelb in kleiner und lieblicher
Mischung. Seine Art ist eine der seltensten, und hier war sie in einem
so großen Stücke vorhanden, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich
beschloß, diesen Marmor meinem Gastfreunde zum Geschenke zu machen.
Ich versuchte, mir ein Eigentumsrecht darüber zu erwerben, und als
mir dieses gelungen war, ging ich daran, das Stück, soweit seine
Festigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen und in eine Gestalt
schneiden zu lassen, deren es fähig war. Es zeigte sich, daß eine
schöne Tischplatte aus diesem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den
losen Schuttstücken nahm ich mehrere der besseren mit, um allerlei
Dinge der Erinnerung daraus machen zu lassen. Eines ließ ich zu
einer Tafel schleifen und dieselbe glätten, daß mein Gastfreund die
Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das beste sehen könne.


So war eine Strecke abgetan, als in den Tälern sich die kleinen
Knospen der Rosen zu zeigen anfingen und selbst an dem Hagedorn, der
in Feldgehegen oder an Gebirgssteinen wuchs, die Bällchen zu der
schönen, aber einfachen Blume sich entwickelten, die die Ahnfrau
unserer Rosen ist. Ich beschloß daher, meine Reise in das Rosenhaus
anzutreten. Ich habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem
langen Sommer zur Heimreise vorbereitet, als ich mich jetzt nach einer
wohlgeordneten Arbeit zu dem Besuche im Rosenhause anschickte, um dort
eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen.

Eines Nachmittages stieg ich zu dem Hause empor und fand die Rosen
zwar nicht blühend, aber so überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr
fernen Tagen eine reiche Blüte zu erwarten war.

»Wie hat sich alles verändert«, sagte ich zu dem Besitzer, nachdem ich
ihn begrüßt hatte, »da ich im Frühlinge von hier fortging, war noch
alles öde, und nun blättert, blüht und duftet alles hier beinahe in
solcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum ersten Male
in dieses Haus heraufkam.«

»Ja«, erwiderte er, »wir sind wie der reiche Mann, der seine Schätze
nicht zählen kann. Im Frühlinge kennt man jedes Gräschen persönlich,
das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet
sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, daß man nicht mehr
nach ihnen sieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll sie
hervor gekommen sind, ja daß man Heu aus ihnen macht und gar nicht
darauf achtet, daß sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern
tut, als ständen sie von jeher auf dem Platze.«

Man hatte mir eine eigene Wohnung machen lassen und führte mich
in dieselbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der
Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Tür zu einer einzigen
Wohnung gemacht hatte. Das eine war bedeutend groß und hatte
ursprünglich die Bestimmung gehabt, mehrere Personen zugleich zu
beherbergen. Es war jetzt ausgeleert, an seinen Wänden standen Tische
und Gestelle herum, sowie in seiner Mitte ein langer Tisch angebracht
war, damit ich meine Sachen, die ich etwa von dem Gebirge brächte,
ausbreiten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner und war zu meinem
Schlaf- und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die
Schlüssel zu dieser Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten
gemauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei an der
westlichen Grenze des Gartens lag und in früheren Zeiten zu den
Steinarbeiten benutzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte
und in welchen ich Gegenstände, die ich gesammelt hätte, bis auf
weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte ich mehr brauchen, so
könne noch mehr geräumt werden, da jetzt die Arbeiten mit den Steinen
fast beendigt seien und selten etwas gesägt, geschliffen oder
geglättet werde. Ich war über diese Aufmerksamkeiten so gerührt, daß
ich fast keinen Dank dafür zu sagen vermochte. Ich begriff nicht, was
ich mir denn für Verdienste um den Mann oder seine Umgebung erworben
habe, daß man solche Anstalten mache. Das Eine gereichte zu meiner
Beruhigung, daß ich aus diesen Vorrichtungen sah, daß ich in dem Hause
nicht unwillkommen sei, denn sonst wäre man nicht auf den Gedanken
derselben geraten. Dieses Bewußtsein versprach meinen Bewegungen in
den hiesigen Verhältnissen viel mehr Freiheit zu geben. Ich stattete
endlich doch meinen Dank ab und man nahm ihn mit Vergnügen auf.


Da ich in meiner Wohnung meine Wandersachen abgelegt hatte und
die ersten allgemeinen Gespräche vorüber waren, wollte ich einen
übersichtlichen Gang durch den Garten machen. Ich ging bei der
Seitentür des Hauses hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der
hier eingefaßt ist, kam der große Hofhund auf mich zu und wedelte.
Als ich sah, daß der alte Hilan mich erkenne und begrüße, war ich so
kindisch, mich darüber zu freuen, weil es mir war, als sei ich kein
Fremder, sondern gehöre gewissermaßen zur Familie.

Am nächsten Tage nach meiner Ankunft erschien der Wagen mit meinem
Gepäcke und mit der Marmorplatte. Ich ließ abladen und übergab die
Platte meinem Gastfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm in derselben
eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich händigte ich ihm
das kleinere geschliffene Stück zur genaueren Einsicht in die Natur
des Marmors ein. Er besah das Stück und dann auch die Platte sehr
sorgfältig. Hierauf sagte er: »Dieser Marmor ist außerordentlich
schön, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch scheint
die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu sein, so daß ein reiner
Schliff auf ihr möglich sein wird, ich bin sehr erfreut, in dem
Besitze dieses Stückes zu sein und danke euch sehr dafür. Allein in
meinem Hause kann er als Bestandteil desselben nicht verwendet werden,
weil dort nur solche Stücke angebracht sind, welche ich selber
gesammelt habe, und weil ich an dieser Art der Sammlung und an der
Verbuchung darüber eine solche Freude habe, daß ich auch in der
Zukunft nicht von diesem Grundsatze abgehe. Es wird aber ganz gewiß
aus diesem Marmor etwas gemacht werden, das seiner nicht unwert ist,
ich hege die Hoffnung, daß es euch gefallen wird, und ich wünsche, daß
die Gelegenheit seiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche.«

Ich hatte ohnehin ungefähr so etwas erwartet und war beruhigt.

Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht, um dort zu liegen, bis
man über ihn verfügen würde. Meine übrigen Dinge aber ließ ich in
meine Wohnung bringen.

Ich ging im Sommer immer sehr leicht gekleidet, entweder in
ungebleichtem oder gestreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meistens ein
leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von
der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzustechen, nahm ich ein paar
solcher Anzüge sammt einem Strohhute aus dem Koffer, kleidete mich in
einen und legte dafür meinen Reiseanzug für eine künftige Wanderung
zurück,

Mein Gastfreund hatte auf seiner Besitzung eine etwas eigentümliche
Tracht teils eingeführt, teils nahmen sie die Leute selber an. Die
Dienerinnen des Hauses waren in die Landestracht gekleidet, nur dort,
wo diese, wie namentlich in unserem Gebirge, ungefällig war oder in
das Häßliche ging, wurde sie durch den Einfluß des Hausbesitzers
gemildert und mit kleinen Zutaten versehen, die mir schön erschienen.
Diese Zutaten fanden im Anfange Widerstand, aber da sie von dem alten
Herrn geschenkt wurden und man ihn nicht kränken wollte, wurden sie
angenommen und später von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet,
sondern auch nachgeahmt. Die Männer, welche in dem Hause dienten oder
in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beschäftigt waren,
trugen gefärbtes Linnen, nur war dasselbe nicht so dunkel, als es
bei uns im Gebirge gebräuchlich ist. Eine Jacke oder eine andere Art
Überrock hatten sie im Sommer nicht, sondern sie gingen in lediglichen
Hemdärmeln, und um den Hals hatten sie ein loses Tuch geschlungen. Auf
dem Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den
gewöhnlichen Strohhut. Eustach schien in seiner Kleidung niemanden
nachzuahmen, sondern sie selbst zu wählen. Er ging auch in gestreiftem
Linnen, meistens rostbraun mit grau oder weiß; aber die Streifen waren
fast handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die
Hälfte des Längenblattes braun, die Hälfte weiß. Oft hatte er einen
Strohhut, oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten
ähnliche Anzüge, auf denen selten ein Schmutzfleck zu sehen war; denn
bei der Arbeit hatten sie große grüne Schürzen um. Unter allen diesen
Leuten hoben sich der Gärtner und die Gärtnerin heraus, welche bloß
schneeweiß gingen.

Ich zeigte meinem Gastfreunde und Eustach die Zeichnung, welche ich
von dem Standbilde in der Mauernische gemacht hatte. Sie freuten sich,
daß ich auf derlei Dinge aufmerksam sei, und sagten, daß sie dasselbe
Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten, nur daß es jetzt mit
mehreren anderen Blättern außer Hause sei.

Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Garten und auf dem Felde
im vorigen Jahre in derselben Jahreszeit merkwürdig gewesen war.
Die Blätter der Bäume, die Blätter des Kohles und die von anderen
Gewächsen waren vom Raupenfraße frei, und nicht nur die im Garten,
sondern auch die in der nächsten und in der in ziemliche Ferne
reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreise eigens auf diesen
Umstand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht
des schönen Schmuckes der Faltern; denn einerseits konnten die Vögel
doch nicht alle und jede Raupen verzehren und andererseits wehte
der Wind diese schönen lebendigen Blumen in unsern Garten oder sie
kamen auf ihren Wanderungen, die sie manchmal in große Entfernungen
antreten, selber hieher. Der Gesang der Vögel war mir wieder wie im
vorigen Jahre eigentümlich, und er war mir wieder ganz besonders
schmelzend.

Dadurch, daß sie in verschiedenen Fernen sind, die Laute also
mit ungleicher Stärke an das Ohr schlagen, dadurch, daß sie sich
gelegenheitlich unterbrechen, da sie inzwischen allerlei zu tun haben,
eine Speise zu haschen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender
Schmelz veranlaßt wie in einem Walde, während die besten Singvögel in
vielen Käfigen nahe bei einander nur ein Geschrei machen, und dadurch,
daß sie in dem Garten sich doch wieder näher sind als im Walde, wird
der Schmelz kräftiger, während er im Walde zuweilen dünn und einsam
ist. Ich sah die Nester, besuchte sie und lernte die Gebräuche dieser
Tiere kennen.

In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich tat die Bücher und
Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu lesen, einzuzeichnen
und zu ordnen. Ich legte auch auf den großen Tisch und auf die
Gestelle an den Wänden kleinere Gegenstände, die ich mitgebracht
hatte, besonders Versteinerungen oder andere deutlichere Überreste, um
sie zu benutzen.

Gustav kam häufig zu mir, er nahm Anteil an diesen Dingen, ich
erklärte ihm manches, und mein Gastfreund sah es nicht ungern, wenn
ich mit ihm, entweder ein Buch in der Hand unter den schattigen Linden
des Gartens oder ohne Buch auf großen Spaziergängen - denn der alte
Mann liebte die Bewegung noch sehr - von meiner Wissenschaft sprach.
Er erzählte mir dagegen von der seinigen, und ich hörte ihm freundlich
zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir schon besser bekannt waren.
Zeiten, in denen ich ohne Beschäftigung und allein war, brachte ich
auf Gängen in den Feldern oder auf einem Besuche in dem Schreinerhause
oder in dem Gewächshause oder bei den Cactus zu.

Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen
getroffen hatte, waren auch heuer wogende und wurden mit jedem Tage
schöner, dichter und segensreicher, der Garten hüllte sich in die
Menge seiner Blätter und der nach und nach schwellenden Früchte, der
Gesang der Vögel wurde mir immer noch lieblicher und schien die Zweige
immer mehr zu erfüllen, die scheuen Tiere lernten mich kennen, nahmen
von mir Futter und fürchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und
nach alle Dienstleute kennen und nennen, sie waren freundlich mit
mir, und ich glaube, sie wurden mir gut, weil sie den Herrn mich mit
Wohlwollen behandeln sahen. Die Rosen gediehen sehr, Tausende harrten
des Augenblicks, in dem sie aufbrechen würden. Ich half oft an den
Beschäftigungen, die diesen Blumen gewidmet wurden, und war dabei,
wenn die Rosenarbeiten besichtigt wurden und ausgemittelt ward, ob
alles an ihnen in gutem Stande sei. Ebenso ging ich gerne zum Besehen
anderer Dinge mit, wenn auf Wiesen oder im Walde gearbeitet wurde, in
welch letzterem man jetzt daran war, das im Winter geschlagene Holz zu
verkleinern oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurichten. Ich
trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Gustav neben mir
barhäuptig gingen, in der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft
viel angenehmer durch die Haare strich, als wenn sie durch einen Hut
auf dem Haupte zurück gehalten wurde, und daß die Hitze durch die
Locken so gut wie durch einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten
wurde.


Eines Tages, da ich in meinem Zimmer saß, hörte ich einen Wagen zu dem
Hause herzufahren. Ich weiß nicht, weshalb ich hinabging, den Wagen
ankommen zu sehen. Da ich an das Gitter gelangte, stand er schon
außerhalb desselben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen
worden, der Kutscher saß noch auf dem Bocke und mußte eben angehalten
haben. Vor der Wagentür, mit dem Rücken gegen mich gekehrt, stand
mein Gastfreund, neben ihm Gustav und neben diesem Katharina und zwei
Mägde. Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein geschlossener
Gläserwagen und hatte an der innern Seite seiner Fenster grüne
zugezogene Seidenvorhänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft
öffnete mein Gastfreund die Wagentür. Er geleitete an seiner Hand eine
Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute,
hatte aber den Schleier zurückgeschlagen und zeigte uns ihr Angesicht.
Sie war eine alte Frau.

Augenblicklich, da ich sie sah, fiel mir das Bild ein, welches mein
Gastfreund einmal über manche alternde Frauen von verblühenden Rosen
hergenommen hatte. »Sie gleichen diesen verwelkenden Rosen. Wenn sie
schon Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den
Falten eine sehr schöne, liebe Farbe«, hatte er gesagt, und so war es
bei dieser Frau. Über die vielen feinen Fältchen war ein so sanftes
und zartes Rot, daß man sie lieben mußte und daß sie wie eine Rose
dieses Hauses war, die im Verblühen noch schöner sind als andere Rosen
in ihrer vollen Blüte. Sie hatte unter der Stirne zwei sehr große
schwarze Augen, unter dem Hute sahen zwei sehr schmale Silberstreifen
des Haares hervor, und der Mund war sehr lieb und schön. Sie stieg von
dem Wagentritte herab und sagte die Worte: »Gott grüße dich, Gustav!«

Hiebei neigte sich der alte Mann gegen sie, sie neigte ihr
Angesicht gegen ihn und die beiderseitigen Lippen küßten sich zum
Willkommensgruße.

Nach dieser Frau kam eine zweite Frauengestalt aus dem Wagen.
Sie hatte auch einen Schleier um den Hut und hatte ihn auch
zurückgeschlagen. Unter dem Hute sahen braune Locken hervor, das
Antlitz war glatt und fein, sie war noch ein Mädchen. Unter der
Stirne waren gleichfalls große schwarze Augen, der Mund war hold und
unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön. Mehr konnte ich
nicht denken; denn mir fiel plötzlich ein, daß es gegen die Sitte
sei, daß ich hinter dem Gitter stehe und die Aussteigenden anschaue,
während die, die sie empfangen, mir den Rücken zuwenden und von meiner
Anwesenheit nichts wissen. Ich ging um die Ecke des Hauses zurück und
begab mich wieder in mein Wohnzimmer.

Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und Gesprächen, daß die
ganze Gesellschaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang
wahrscheinlich in die schönen Gemächer an der östlichen Seite des
Hauses gehe.

Was weiter an dem Wagen geschehen sei, ob noch eine oder zwei Personen
aus demselben gestiegen seien, konnte ich nicht wissen; denn auch
nicht einmal beim Fenster wollte ich nun hinabsehen. Daß aber
Gegenstände von demselben abgepackt und in das Haus gebracht wurden,
konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen
hörte ich endlich fortfahren, wahrscheinlich wurde er in den Meierhof
gebracht.

Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers sitzen. Ich ging weder zu dem
Fenster, noch ging ich in den Garten, noch verließ ich überhaupt das
Zimmer, obwohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und still verfloß. Ich
wollte lesen oder schreiben und tat es dann doch wieder nicht.


Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergangen waren, kam Katharina
und sagte, der alte Herr lasse mich recht schön bitten, daß ich in das
Speisezimmer kommen möge, man erwarte mich dort.

Ich ging hinab.

Als ich eingetreten war, sah ich, daß mein Gastfreund in einem
Lehnsessel an dem Tische saß, neben ihm saß Gustav. An der
entgegengesetzten Seite saß die Frau. Ihr Sessel war aber ein wenig
von dem Tische abgewendet und der Tür, durch welche ich eintrat,
zugekehrt. Hinter ihr und um eine Sesselhälfte seitwärts saß das
Mädchen.

Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich sie aus dem Wagen
steigen gesehen hatte. Statt des städtischen Hutes, den sie da
getragen hatten, deckte jetzt ein Strohhut mit nicht gar breiten
Flügeln, so daß sie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die übrigen
Kleider bestanden aus einem einfachen, lichten, mattfärbigen Stoffe
und waren ohne alle besonderen Verzierungen verfertigt, so wie der
Schnitt nichts Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene
Ländlichkeit noch ein zu strenge festgehaltenes städtisches Wesen.

Es standen mehrere Diener herum, so wie Katharina, die mich geholt
hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war und sich zu
den dastehenden Mägden gesellt hatte. Selbst der Gärtner Simon war
zugegen.

Als ich in die Nähe des Tisches gekommen war, stand mein Gastfreund
auf, umging den Tisch, führte mich vor die Frau und sagte: »Erlaube,
daß ich dir den jungen Mann vorstelle, von dem ich dir erzählt habe.«
Hierauf wandte er sich gegen mich und sagte: »Diese Frau ist Gustavs
Mutter, Mathildis.«

Die Frau sagte in dem ersten Augenblicke nichts, sondern richtete ein
Weilchen die dunkeln Augen auf mich.

Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen und sagte: »Diese ist
Gustavs Schwester Natalie.«

Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mädchens überhaupt so rot oder
war es errötet. Ich war sehr befangen und konnte kein Wort hervor
bringen. Es war mir äußerst auffallend, daß er jetzt, wo er den Namen
beinahe mit Notwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt noch
den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rate gehen
konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas gesagt
werden solle oder nicht, fuhr er in seiner Rede fort und sagte: »Er
ist ein freundlicher Hausgenosse von uns geworden und schenkt uns
einige Zeit in unserer ländlichen Einsamkeit. Er strebt die Berge
und das Land zu erforschen und zur Kenntnis des Bestehenden und zur
Herstellung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutragen. Wenn auch
die Taten und die Förderung der Welt mehr das Geschäft des Mannes
und des Greises sind, so ziert ein ernstes Wollen auch den Jüngling,
selbst wo es nicht so klar und so bestimmt ist wie hier.«

»Mein Freund hat mir von euch erzählt«, sagte die Frau zu mir, indem
sie mich wieder mit den dunkeln glänzenden Augen ansah, »er hat mir
gesagt, daß ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn im
Frühlinge besucht habt und daß ihr versprochen habt, zur Zeit der
Rosenblüte wieder eine Weile in diesem Hause zuzubringen. Mein Sohn
hat auch sehr oft von euch gesprochen.«

»Er scheint nicht ganz ungerne hier zu sein«, sagte mein Gastfreund;
»denn sein Angesicht wenigstens hat noch nicht, bei dem früheren so
wie bei deinem jetzigen Besuche, die Heiterkeit verloren.«

Ich hatte mich während dieser Reden gesammelt und sagte: »Wenn ich
auch aus der großen Stadt komme, so bin ich doch wenig mit fremden
Menschen in Verkehr getreten und weiß daher nicht, wie mit ihnen um
zugehen ist. In diesem Hause bin ich, da ich irrtümlich ein Gewitter
fürchtete und um einen Unterstand herauf ging, sehr freundlich
aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden, wieder zu
kommen und habe es getan. Es ist mir hier in Kurzem so lieb geworden
wie bei meinen teuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit
und Ordnung herrscht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin und die
Umgebung mir nicht abgeneigt ist, so sage ich gerne, wenn ich auch
nicht weiß, ob man es sagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen
werde, wenn man mich einladet.«

»Ihr seid eingeladen«, erwiderte mein Gastfreund, »und ihr müßt aus
unsern Handlungen erkennen, daß ihr uns sehr willkommen seid. Nun
werden auch Gustavs Mutter und Schwester eine Weile in diesem Hause
zubringen, und wir werden erwarten, wie sich unser Leben entwickeln
wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir setzen und abwarten, bis
der Willkommensgruß von allen, die da stehen, vorüber ist?«

Er ging wieder um den Tisch herum zurück, und ich folgte ihm. Gustav
machte mir Platz neben seinem Ziehvater und sah mich mit der Freude
an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Besuch der Mutter
empfängt.

Natalie hatte kein Wort gesprochen.

Ich konnte jetzt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken
vermochte, recht deutlich sehen, daß hier Gustavs Mutter und Schwester
zugegen seien; denn beide hatten dieselben großen schwarzen Augen wie
Gustav, beide dieselben Züge des Angesichtes, und Natalie hatte auch
die braunen Locken Gustavs, während die der Mutter die Silberfarbe des
Alters trugen. Sie gingen nun, recht schön geordnet, in einem viel
breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als sie es unter
dem Reisestrohhute getan hatten.

Vor Mathilde war, während wir unsere Sitze eingenommen hatten, die
Haushälterin Katharina getreten.

Die Frau sagte: »Sei mir vielmal gegrüßt, Katharina, ich danke dir, du
hast deinen Herrn und meinen Sohn in deiner besonderen Obhut und übst
viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir sehr. Ich habe dir etwas
gebracht, nur als eine kleine Erinnerung, ich werde es dir schon
geben.«

Als Katharina zurück getreten war, als sich die anderen insgesammt
näherten, sich verbeugten und mehrere Mädchen der Frau die Hand
küßten, sägte sie: »Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr sorgt alle
für den Herrn und seinen Ziehsohn. Sei gegrüßt, Simon, sei gegrüßt,
Klara, ich danke euch allen und habe allen etwas gebracht, damit ihr
seht, daß ich keines in meiner Zuneigung vergessen habe; denn sonst
ist es freilich nur eine Kleinigkeit.«

Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuß, und
entfernten sich. Sie hatten sich auch vor Natalie geneigt, welche den
Gruß recht freundlich erwiderte.

Als alle fort waren, sagte die Frau zu Gustav: »Ich habe auch dir
etwas gebracht, das dir Freude machen soll, ich sage noch nicht was;
allein ich habe es nur vorläufig gebracht, und wir müssen erst den
Ziehvater fragen, ob du es schon ganz oder nur teilweise oder noch gar
nicht gebrauchen darfst.«

»Ich danke dir, Mutter«, erwiderte der Sohn, »du bist recht gut,
liebe Mutter, ich weiß jetzt schon, was es ist, und wie der Ziehvater
ausspricht, werde ich genau tun.«

»So wird es gut sein«, antwortete sie.

Nach dieser Rede waren alle aufgestanden.

»Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde«, sagte mein
Gastfreund, »keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle
sind bereit dazu.«

Wir hatten uns während dieser Rede der Tür genähert, und mein
Gastfreund hatte mich gebeten, bei der Gesellschaft zu bleiben.

Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus und gingen auf den Sandplatz
vor dem Hause. Die Leute mußten von diesem Vorgange schon unterrichtet
sein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnsessel und
stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit seiner Vorderseite gegen
die Rosen.

Die Frau setzte sich in den Sessel, legte die Hände in den Schoß und
betrachtete die Rosen.

Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Linken, neben dieser
Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle und ich stellte mich,
um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und etwas
weiter zurück.

Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie
schweigend auf, und wir verließen den Platz. Wir gingen nun in das
Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im
Speisezimmer gewesen. Er mußte wohl als Künstler betrachtet worden,
dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen,
daß das Verhältnis in der Tat so sei und als das richtigste empfunden
werde. Eustach mußte das gewußt haben; denn er stand mit seinen Leuten
ohne die grünen Schürzen vor der Tür, um die Angekommenen zu begrüßen.
Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Eustach herzlich
an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten
und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistungen, was ich, da
mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die
Werkstätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In
dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem
längeren Aufenthalte manches Einzelne zeigen und näher erklären möge.

Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gärtnerwohnung, wo die Frau
ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten sprach.

Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den
Cacteen und in den Garten.

Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit
Neugierde auf die Plätze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden
hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf und blickte sogar in
Büsche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo
sich etwas seit früher verändert hatte, bemerkte sie es und fragte um
die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen
Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas
mit meinem Gastfreunde über die Ernte und über die Verhältnisse der
Nachbarn.

Natalie sprach äußerst wenig.

Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das
Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir
noch vorher, ich möge mich zum Mittagessen nicht umkleiden; es sei
dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte,
und ich würde nur auffallen.

Ich dankte ihm für die Erinnerung.

Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geschlagen hatte, in das
Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der Tat die
Gesellschaft nicht umgekleidet. Mein Gastfreund war in den Kleidern,
wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehmlichen
Gewänder, in denen sie den Spaziergang gemacht hatten. Gustav und ich
waren wie gewöhnlich.

Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas größerer Stuhl und vor ihm
auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein
stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau zu diesem Stuhle, den
sie sofort einnahm. Links von ihr saß mein Gastfreund, rechts ich,
neben meinem Gastfreunde Natalie und neben ihr Gustav. Mir fiel es
auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern
geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm und
von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn
wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu
füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.

Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das
immer bisher gefehlt hätte. Es war nun etwas wie eine Familie in
dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung meiner Eltern
immer so lieb und angenehm gemacht hatte.

Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich
in dem Rosenhause zugebracht hatte.

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit
einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

Nach dem Essen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das
Dienstmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches
ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte.
Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schönen
Schnüren zugeschnürt gebracht und auf zwei Sessel gelegt, die an
der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche
Mathilde den Leuten mitgebracht hatte und welche jetzt ausgepackt
waren. Ich sah, daß diese Geschenkausteilung gebräuchlich war und
öfter vorkommen mußte. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen
erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch für ein
Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei
es für einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weste oder eine
glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der
Gärtner empfing etwas, das in sehr feine Metallblätter gewickelt war.
Ich vermutete, daß es eine besondere Art von Schnupftabak sein müsse.


Als schon alles ausgeteilt war, als sich schon alle auf das beste
bedankt und aus dem Zimmer entfernt hatten, wies Mathilde auf den
Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: »Gustav, komme
her zu mir.«

Der Jüngling stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm
ihn freundlich bei der Hand und sagte: »Was noch da liegt, gehört dir.
Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es dir lange
versagen müssen, weil es noch nicht für dich war. Es sind Goethes
Werke. Sie sind dein Eigentum. Vieles ist für das reifere Alter, ja
für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher du
diese Bücher zur Hand nehmen oder auf spätere Tage aufsparen sollst.
Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohltaten, die er dir erwies, auch
noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirst ihm in diesen
Dingen ebenso folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast.«

»Gewiß, liebe Mutter, werde ich es tun, gewiß«, sagte Gustav.

»Die Bücher sind nicht neue und schön eingebundene, wie du vielleicht
erwartest«, fuhr sie fort. »Es sind dieselben Bücher Goethes, in
welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde
mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe und die mir oft Trost und
Ruhe zuzuführen geeignet waren. Es sind meine Bücher Goethes, die ich
dir gebe. Ich dachte, sie könnten dir lieber sein, wenn du außer dem
Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändest, als etwa nur die des
Buchbinders und Druckers.«

»O lieber, viel lieber, teure Mutter, sind sie mir«, antwortete
Gustav, »ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder
gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben und in
der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Bücher, in
denen ich dich so oft habe lesen gesehen, weshalb es auch kam, daß ich
dich schon wiederholt um solche Bücher gebeten habe.«

»Ich dachte es, daß sie dir lieber sind«, sagte die Frau, »und darum
habe ich sie dir gegeben. Da ich aber auch wohl noch gerne für
den Überrest meines Lebens ein Wort von diesem merkwürdigen Manne
vernehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben
die neuen die Bedeutung wie die alten. Du aber nimm die deinigen in
Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafür eingeräumt ist.«

Gustav küßte ihr die Hand und legte seinen Arm wie in unbeholfener
Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein
Wort, sondern ging zu den Büchern und begann, ihre Schnur zu lösen.

Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umschlagpapieren
gelöst und in mehreren geblättert hatte, kam er plötzlich mit einem
in der Hand zu uns und sagte: »Aber siehst du, Mutter, da sind manche
Zeilen mit einem feinen Bleistifte unterstrichen und mit demselben
feingespitzten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von
deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigentum, sie sind in den
neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigentum
nicht entziehen.«

»Ich gebe es dir aber«, antwortete sie, »ich gebe es dir am liebsten,
der du jetzt schon von mir entfernt bist und in Zukunft wahrscheinlich
noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Büchern
liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner
Mutter, welches, wenn es auch an Werte tief unter dem des Dichters
steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein
Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen
habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter,
und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich
Randbemerkungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge
vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen
sehen und die Schriftzüge von Einer vor sich haben wird, die deine
beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein Band
zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie
ist bei mir, sie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft
ihre liebe Stimme und sehe ihr freundliches Angesicht.«

»Nein, nein, Mutter«, sagte Gustav, »ich kann die Bücher nicht nehmen,
ich beraube dich und Natalie.«

»Natalie wird schon etwas anderes bekommen«, antwortete die Mutter.
»Daß du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklärt, und es war
seit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese
Bücher geben werde.«

Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine
beiden Hände, drückte sie, küßte sie und ging dann wieder zu den
Büchern.

Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Diener und ließ sie durch
ihn in seine Wohnung tragen.


Nach dem Essen war es im Plane, daß wir uns zerstreuen sollten und
jeder sich nach seinem Sinne beschäftige.

Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf
das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen möge und
was sich in den Zügen spiegle. Ich mußte mir nur denken, sie werde
von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen
sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme
Gebet gesprochen und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine
Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau gerichtet
hatte, und als wir uns jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und
Natalie den Arm Gustavs nahm und beide Geschwister sich umkehrten, um
der Tür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben,
in dem ich sie sehen mußte. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier
ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden.

Wir traten alle in das Freie.

Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirtschaftstube.

Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes,
das ihm etwa an dem Herzen lag oder worüber er sich freute, und sie
nahm gewiß den Anteil, den die Schwester an den Bestrebungen des
Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz
verstehen sollte und sie, wenn es auf sie allein ankäme, nicht zu den
ihrigen machen würde. So tut es ja auch Klotilde mit mir in meiner
Eltern Hause.

Ich stand an dem Eingange des Hauses und sah den beiden Geschwistern
nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie
vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein
Vogelnest gezeigt haben und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige
befiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen und
schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der
Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche
schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar und dann nichts
mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.

Mir war, als müsse ich dieses Mädchen schon irgendwo gesehen haben;
aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenständen oder
mit Pflanzen beschäftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich
keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurteilen, ich konnte mir die
Gesichtszüge derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einprägen
und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo
ich Natalie schon einmal gesehen haben könnte.

Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung.

Als die Hitze des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig
gemildert hatte, wurde ich aufgefordert, einen Spaziergang mit zu
machen. An demselben nahmen mein Gastfreund, Mathilde, Natalie,
Gustav und ich Teil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein
Gastfreund, Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in
ihr Gespräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des
Sandweges zuließ, neben einander. Die andere Gruppe bildeten Natalie
und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns.
Unser Gespräch betraf den Garten und seine verschiedenen Bestandteile,
die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohltuend ablösten, es betraf
das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die
Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals
um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land über,
auf manche gute Verhältnisse desselben und auf anderes, was der
Verbesserung bedürfte. Ich sah den zwei holen Gestalten nach, die
vor uns gingen. Gustav ist mir heute plötzlich als völlig erwachsen
erschienen. Ich sah ihn neben der Schwester gehen und sah, daß er
größer sei als sie. Dieser Gedanke drängte sich mir mehrere Male auf.
War er aber auch größer, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung
anmutiger. Gustav hatte wie sein Ziehvater nichts auf dem Haupte als
die Fülle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft
schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abgenommen
und an den Arm gehängt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe
wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben
schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als sähe
man eine einzige braune, glänzende Haarfülle und als teilen sich nur
unten die Gestalten.

Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen
aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen großen Bogen durch
die Felder und kamen dann schief über den südlichen Abhang des Hügels
wieder zu dem Hause hinauf.

Da die Tage sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendröte, wenn
wir von unserem Abendessen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit
sein mußte, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem
Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirschbaume empor.
Dort setzten wir uns auf das Bänklein. Mein Gastfreund und Mathilde
saßen in der Mitte, so daß ihre Angesichter gegen den Garten hinab
gerichtet waren. Links von meinem Gastfreunde saß ich, rechts von der
Mutter saßen Natalie und Gustav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein
blasser Schein war über die Wipfel des Gartens, der jetzt schwieg, und
über das Dach des Hauses gebreitet. Das Gespräch war heiter und ruhig,
und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herüber, um an dem Gespräche
Anteil zu nehmen und gelegentlich selber ein Wort zu reden.

Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete und
in den Tiefen der Gartengesträuche schon die völlige Dunkelheit
herrschte, gingen wir in das Haus und in unsere Zimmer.

Ich war sehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tisch, legte
meinen Rock ab und sah bei einem der offenen Fenster hinaus. Es war
heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause über
dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut
hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen
durchzogen und ihm Gestaltung gaben, sondern es brannte bereits über
dem ganzen Gewölbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein
Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf, da sie noch in den
Knospen waren, sondern es zog die einsame Luft kaum fühlbar durch die
Fenster herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das
Wesen und die Art meines Gastfreundes zu erforschen, dies lag entweder
aufgelöst vor mir oder war nicht zu lösen. Das einzige war, daß wieder
Getreide außerhalb des Sandplatzes vor den Rosen ruhig und unbewegt
stand; aber es war eine andere Gattung und es war nicht zu erwarten,
daß es in der Nacht im Winde sich bewegen und am Morgen, wenn ich die
geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir wogen würde.

Als die Nacht schon sehr weit vorgerückt war, ging ich von dem Fenster
und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab,
zu meinem Schöpfer zu beten, so kniete ich doch jetzt vor dem
einfachen Tischlein hin und tat ein heißes, inbrünstiges Gebet zu
Gott, dem ich alles und jedes, besonders mein Sein und mein Schicksal
und das Schicksal der Meinigen, anheim stellte.

Dann entkleidete ich mich, schloß die Schlösser meiner Zimmer ab und
begab mich zur Ruhe.

Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle
nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage tun,
als ich sie nach meinem Gastfreunde getan habe.

Ich erwachte sehr zeitig; aber nach der Natur jener Jahreszeit war es
schon ganz licht, ein blauer, wolkenloser Himmel wölbte sich über die
Hügel, das Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht, sondern
es stand unbewegt, mit starkem Taue wie mit feurigen Funken angetan,
in der aufgehenden Sonne da.

Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott und setzte mich
zu meiner Arbeit.

Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fenster, welche ich bei
weiter fortschreitendem Morgen geöffnet hatte, daß auch am äußersten
Ende des Hauses gegen Osten Fenster erklangen, welche geöffnet wurden.
In jener Gegend wohnten die Frauen in den schönen, nach weiblicher Art
eingerichteten Gemächern. Ich ging zu meinem Fenster, schaute hinaus
und sah wirklich, daß alle Fensterflügel an jenem Teile des Hauses
offen standen. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des
Frühmahles ging, hörte ich weibliche Schritte an meiner Tür vorüber
der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt
war. Ich hatte auch, obwohl sie gedämpft war, wahrscheinlich, um mich
nicht zu stören, Gustavs Stimme erkannt.

Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die Marmortreppe an dem
Marmorbilde der Muse vorüber in das Speisezimmer hinunter.

Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und
nach mehrere.

Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar
nicht gestört worden, nur daß solche Vorrichtungen vorgenommen werden
mußten, welche die Aufmerksamkeit für die Frauen verlangte. Die
Unterrichts- und Lernstunden Gustavs wurden eingehalten wie früher,
und ebenso ging die Beschäftigung meines Gastfreundes ihren Gang.
Mathilde beteiligte sich nach Frauenart an dem Hauswesen. Sie sah auf
das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das häusliche Wohl des
alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht selten in der Küche gesehen,
wie sie mitten unter den Mägden stand und an den Arbeiten Teil nahm,
die da vorfielen. Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in
den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie sorgte für die
Dinge, welche den Dienstleuten gehörten, insoferne sie sich auf ihre
Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und
Schlafstellen. Sie legte das Linnen, die Kleider und anderes Eigentum
des alten Herrn und ihres Sohnes zurecht und bewirkte, daß, wo
Verbesserungen notwendig waren, dieselben eintreten könnten. Unter
diesen Dingen ging sie manches Mal des Tages auf den Sandplatz vor dem
Hause und betrachtete gleichsam wehmütig die Rosen, die an der Wand
des Hauses empor wuchsen. Natalie brachte viele Zeit mit Gustav zu.
Die Geschwister mußten sich außerordentlich lieben. Er zeigte ihr alle
seine Bücher, namentlich die neu zu den alten hinzu gekommen waren,
er erklärte ihr, was er jetzt lerne, und suchte sie in dasselbe
einzuweihen, wenn sie es auch schon wußte und früher die nehmlichen
Weg gegangen war. Wenn es die Umstände mit sich brachten, schweiften
sie in deinem Garten herum und freuten sich all des Lebens, was in
demselben war, und freuten sich des gegenseitigen Lebens, das sich
an einander schmiegte und dessen sie sich kaum als eines gesonderten
bewußt wurden. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir häufig
gemeinschaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten oder saßen
unter einem schattigen Baume oder machten einen Spaziergang oder waren
in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht in die Gespräche so einzugehen,
wie ich es mit meinem Gastfreunde allein tat, und wenn auch Mathilde
recht freundlich mit mir sprach, so wurde ich fast immer noch stummer.


Die Rosen fingen an, sich stets mehr zu entwickeln, sehr viele waren
bereits aufgeblüht und stündlich öffneten andere den sanften Kelch.
Wir gingen sehr oft hinaus und betrachteten die Zierde, und es
mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend etwas Störendes oder
Unvollkommenes zu entfernen.

Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, daß Mathilde und
Natalie so fein und passend, wenn auch einfach angezogen waren, wie
ich es von meiner Mutter und Schwester gewohnt war, gab dem Mahle
einen gewissen Glanz, den ich früher vermißt hatte. Die Vorhänge waren
gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene
und sanfte Helle in dem Zimmer.

Die Abende nach dem Abendessen brachten wir immer im Freien zu, da
noch lauter schöne Tage gewesen waren. Meistens saßen wir bei dem
großen Kirschbaume oben, welches bei weitem der schönste Platz zu
einem Abendsitze war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die
Hitze nicht zu groß war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte.
Mein Gastfreund führte die Gespräche klar und warm, und Mathilde
konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und
Einsicht geführt, daß sie immer an sich zogen, daß ich gerne meine
Aufmerksamkeit hin richtete und, wenn sie auch Gewöhnliches betrafen,
etwas Neues und Eindringendes zu hören glaubte. Der alte Mann führte
dann die Frau im Sternenscheine oder bei dem schwachen Lichte der
schmalen Mondessichel, die jetzt immer deutlicher in dem Abendrote
schwamm, über den Hügel in das Haus hinab, und die schlanken Gestalten
der Kinder gingen an den dunkeln Büschen dahin.

Das war alles so einfach, klar und natürlich, daß es mir immer war,
die zwei Leute seien Eheleute und Besitzer dieses Anwesens, Gustav
und Natalie seien ihre Kinder, und ich sei ein Freund, der sie hier
in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt besucht habe, wo sie den
stilleren Rest ihres Daseins in Unscheinbarkeit und Ruhe hinbringen
wollten.

Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speisezimmer
gehalten. Es war Eustach, dann der Hausaufseher, der alte Gärtner
mit seiner Frau, der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin
Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte ein anderes die
Herrschaft in der Küche führen. Es mußte, wie ich aus allem entnahm,
jedes Mal bei der Anwesenheit Mathildens die Sitte sein, ein solches
Gastmahl abzuhalten; die Leute fanden sich auf eine natürliche Art
in die Sache, und die Gespräche gingen mit einer Gemäßheit vor sich,
welche auf Übung deutete. Mathilde konnte sie veranlassen, etwas zu
sagen, was paßte und was daher dem Sprechenden ein Selbstgefühl gab,
das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eustach
allein erhielt die Auszeichnung, daß man das bei ihm nicht für nötig
erachtete, er sprach daher auch weniger und nur in allgemeinen
Ausdrücken über allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren
Gesellschaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich ihn näher kennen
gelernt hatte, ganz natürlich fand, während die anderen nicht merkten,
daß man sie empor hebe. Der Gärtner und seine Frau waren in ihrem
weißen, reinlichen Anzuge ein sehr liebes greises Paar, welches auch
die anderen mit einer gewissen Auszeichnung behandelten. An Speisen
war eine etwas reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Männer bekamen
einen guten Gebirgswein zum Getränke, für die Frauen wurde ein süßer
neben die Backwerke gestellt.

Da die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal
Sessel und Stühle in einem Halbkreise auf dem Sandplatze vor dem Hause
aufgestellt, so daß die Öffnung des Kreises gegen das Haus sah, und
ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt. Wir setzten uns auf die
Sessel, der Gärtner Simon war gerufen worden, Eustach kam, und von den
Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten
auch Gebrauch davon.

Die Rosen wurden einer sehr genauen Beurteilung unterzogen. Man fragte
sich, welche die schönsten seien oder welche dem einen oder dem
anderen mehr gefielen. Die Aussprüche erfolgten verschieden und jedes
suchte seine Meinung zu begründen. Es lagen Druckwerke und Abbildungen
auf dem Tische, zu denen man dann seine Zuflucht nahm, ohne eben jedes
Mal ihrem Ausspruche beizupflichten. Man tat die Frage, ob man nicht
Bäumchen versetzen solle, um eine schönere Mischung der Farben zu
erzielen. Der allgemeine Ausspruch ging dahin, daß man es nicht tun
solle, es täte den Bäumchen wehe, und wenn sie groß wären, könnten sie
sogar eingehen; eine zu ängstliche Zusammenstellung der Farben verrate
die Absicht und störe die Wirkung; eine reizende Zufälligkeit sei
doch das Angenehmste. Es wurde also beschlossen, die Bäume stehen zu
lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun über die Eigenschaften
der verschiedenen Bäumchen aus, man beurteilte ihre Trefflichkeit
an sich, ohne auf die Blumen Rücksicht zu nehmen, und oft wurde der
Gärtner um Auskunft angerufen. Über die Gesundheit der Pflanzen und
ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so
vortrefflich, wie sie alle Jahre vortrefflich gewesen waren. Auf den
Tisch wurden nun Erfrischungen gestellt und alle jene Vorrichtungen
ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote notwendig sind. Aus den Reden
Mathildens sah ich, daß sie mit allen hier befindlichen Rosenpflanzen
sehr vertraut sei und daß sie selbst kleine Veränderungen bemerkte,
welche seit einem Jahre vorgegangen sind. Sie mußte wohl Lieblinge
unter den Blumen haben, aber man erkannte, daß sie allen ihre Neigung
in einem hohen Maße zugewendet habe. Ich schloß aus diesem Vorgange
wieder, welche Wichtigkeit diese Blumen für dieses Haus haben.


Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war
ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Besitzung hatte, die er
selber bewirtschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit
in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Töchtern
begleitet, Sie waren auf der Rückfahrt von einem Besuche begriffen,
den sie in einem entfernteren Teile der Gegend gemacht hatten, und
waren wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob
die Rosen schon blühten und um die gewöhnliche Pracht zu bewundern.
Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die
Zeit schon so weit vorgerückt war, drang mein Gastfreund in sie,
die Nacht in seinem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie
auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof
gebracht, den Reisenden wurden Zimmer angewiesen.

Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich
auf den Sandplatz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs neue
vorgenommen. Es waren zum Teile noch die Stühle vorhanden, die man
heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeräumt war. Die
Mutter setzte sich auf einen derselben und nötigte Mathilden, neben
ihr Platz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Rosen hin, und man
redete viel von den Blumen und bewunderte sie.

Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Teil
der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer.

Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich
wieder in dem Speisesaale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten
sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwarzen Fracke,
die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht
festlichen, aber freundschaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren
gewöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem
sachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurteilen konnte,
weil ich solche Gewänder an meiner Mutter und Schwester oft sah
und auch oft Urteile darüber hörte, wurden unsere Kleider nicht in
den Schatten gestellt, sondern sie taten eher denen der Fremden,
wenigstens in meinen Augen, Abbruch. Der geputzte Anzug erschien mir
auffallend und unnatürlich, während der andere einfach und zweckmäßig
war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde, Natalie, mein alter
Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indes jene
einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall
befinden.

Ich betrachtete während der Zeit des Essens und nachher, da wir
uns noch eine Weile in dem Speisezimmer aufhielten, sogar auch die
Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden
- wenigstens mir erschien sie als die ältere - hieß Julie. Sie hatte
braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schön um die
Stirne geordnet. Die Augen waren braun, groß und blickten mild. Die
Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerst sanft und
wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem
Spaziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als
natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz
in ihrem Wesen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls
braune, aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren ebenso
reich und wo möglich noch schöner geordnet. Die Stirne trat klar und
deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen
nicht so groß wie die braunen der Schwester, aber noch einfacher,
gütevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu
kommen, der sie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren.
Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester
und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder
anmutig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher.
Meine Freunde in der Stadt würden gesagt haben, es seien zwei
hinreißende Wesen, und sie waren es auch. Natalie - ich weiß nicht,
war ihre Schönheit unendlich größer oder war es ein anderes Wesen
in ihr, welches wirkte -, ich hatte aber dieses Wesen noch in einem
geringen Maße zu ergründen vermocht, da sie sehr wenig zu mir
gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht
beurteilen können, da ich mir nicht den Mut nahm, sie zu beobachten,
wie man eine Zeichnung beobachtet - aber sie war neben diesen zwei
Mädchen weit höher, wahr, klar und schön, daß jeder Vergleich
aufhörte. Wenn es wahr ist, daß Mädchen bezaubernd wirken können, so
konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie
ein tiefes Glück verbreitet.

Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Familie sehr zu lieben und
zu achten, das zeigte das Benehmen gegen sie.

Die Mutter der zwei Mädchen schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein.
Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schönen Frau, deren
Gestalt nur etwas zu voll war, als daß sie zu einem Gegenstande der
Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne
schöne Frauen vorstellt. Ihr Gespräch und ihr Benehmen zeigte, daß sie
in der Welt zu dem sogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater
schien ein kenntnisvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der
feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte
eines Landwirtes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluß
übte. Ich hörte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend
älter als die Mutter der zwei Mädchen, sie schien einstens wie Natalie
gewesen zu sein, war aber jetzt ein Bild der Ruhe und, ich möchte
sagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieser
Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Gegenständen,
welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre
eigenen Gegenstände zum Gespräche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne
von den Gegenständen beherrscht zu werden und ohne die Gegenstände
ausschließlich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die
Ansichten seines Gutsnachbars ein und redete in der ihm eigentümlichen
klaren Weise, wobei er aber auch die Höflichkeit beging, den Gast die
Gegenstände des Gespräches wählen zu lassen.

So saßen diese zwei Abteilungen von Menschen an demselben Tische und
bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abteilungen von
Menschen.

Daraus, daß sie gerade zur Rosenblüte herauf gefahren waren, erkannte
ich, daß die Nachbarn meines Gastfreundes nicht bloß um seine Vorliebe
für diese Blumen wußten, sondern daß sie etwa auch Anteil daran
nahmen.

Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spaziergang gemacht, wie in
diesen Tagen, sondern man blieb in Gesprächen bei einander und ging
später, als es sonst in diesem Hause gebräuchlich war, zur Ruhe.

Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und
nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewächshause aufgehalten
hatte, fuhren die Gäste mit der wiederholt vorgebrachten Bitte fort,
sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt
wurde.

Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin,
wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit,
welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemeinschaftlich
zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdrücklich zur
Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie
gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, daß sie jetzt Spanisch lerne und
spanische Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum,
welchen man mir in dem sogenannten Steinhause eingeräumt hatte,
benutzt und hatte mehrere meiner Gegenstände dort hingebracht. Gustav
las bereits in den Büchern von Goethe. Sein Ziehvater hatte ihm
Hermann und Dorothea ausgewählt und ihm gesagt, er solle das Werk so
genau und sorgfältig lesen, daß er jeden Vers völlig verstehe, und wo
ihm etwas dunkel sei, dort solle er fragen. Mir war es rührend, daß
die Bücher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren und daß man das
Zutrauen hatte, daß er kein anderes lesen werde, als welches ihm von
dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich
nach der Kenntnis, die ich bereits von seinem Wesen gewonnen hatte,
nicht gewußt hätte, daß er sein Versprechen halten werde, so hätte ich
mich durch meine Besuche von dieser Tatsache überzeugt. Mathilde und
Natalie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund für seine gefiederten
Gäste auf der Fütterungstenne Körner streute, und nicht selten, wenn
ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, sah
ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an dessen Fenstern die
Fütterungsbrettchen angebracht waren, eine schöne Hand tätig sei, die
ich für Nataliens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in
welchen noch gebrütet wurde oder sich Junge befanden. Die meisten
aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in
den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreinerhause,
sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit und
redeten darüber.

Wir besuchten sogar auch Nachbarn und sahen uns in ihrer
Wirtschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause waren, befanden wir uns
in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder
es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre
gemacht, oder wir waren in dem Bilderzimmer oder in dem Marmorsaale.
Mein Gastfreund mußte oft seine Kunst ausüben und das Wetter
voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie
ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklärte, die
Anzeigen nicht deutlich und verständlich genug für ihn seien.

Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin,
wenn wir dazu geladen waren. Das kleine letzte Zimmerchen mit der
Tapetentür gehörte insbesondere Mathilden. Ich hatte es Rosenzimmer
genannt, und es wurde scherzweise der Name beibehalten. Mir war es
ein anmutiger Eindruck, daß ich sah, wie liebend und wie hold dieses
Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine
zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben
Blaßrot, Weißgrau, Grün, Mattveilchenblau und Gold. In all das sah die
Landschaft mit den lieblichen Gestalten der Hochgebirge herein.

Mathilde saß gerne auf dem eigentümlichen Sessel am Fenster und sah
mit ihrem schönen Angesichte hinaus, dessen Art mein Gastfreund einmal
mit einer welkenden Rose verglichen hatte.

In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gastfreund es
verlangte. Sonst wurde gesprochen. Ich sah auf ihrem Tische Papiere in
schöner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich konnte es nie über
mich bringen, auch nur auf die Aufschrift dieser Bücher zu sehen, viel
weniger gar eines zu nehmen und hinein zu schauen. Es taten dies auch
andere nie. An dem Fenster stand ein verhüllter Rahmen, an dem sie
vielleicht etwas arbeitete; aber sie zeigte nichts davon. Gustav,
wahrscheinlich aus Neigung zu mir, um mich mit den schönen Dingen zu
erfreuen, die seine Schwester verfertigte, ging sie wiederholt darum
an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte
einmal in einer Nacht, da meine Fenster offen waren, Zithertöne
vernommen. Ich kannte dieses Musikgerät des Gebirges sehr gut, ich
hatte es bei meinen Wanderungen sehr oft und von den verschiedensten
Händen spielen gehört, und hatte mein Ohr für seine Klänge und
Unterschiede zu bilden gesucht. Ich ging an das Fenster und hörte zu.
Es waren zwei Zithern, die im östlichen Flügel des Hauses abwechselnd
gegen einander und mit einander spielten. Wer Übung im Hören dieser
Klänge hat, merkt es gleich, ob auf derselben Zither oder auf
verschiedenen, und von denselben Händen oder verschiedenen gespielt
wird. In den Gemächern der Frauen sah ich später die zwei Zithern
liegen. Es wurde aber in unserer Gegenwart nie darauf gespielt. Mein
Gastfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieser
Angelegenheit beobachtete auch Gustav eine feste Enthaltung.


Indessen war nach und nach die Zeit herangerückt, in welcher die Rosen
in der allerschönsten Blüte standen. Das Wetter war sehr günstig
gewesen. Einige leichte Regen, welche mein Gastfreund vorausgesagt
hatte, waren dem Gedeihen bei weitem förderlicher gewesen, als es
fortdauernd schönes Wetter hätte tun können. Sie kühlten die Luft von
zu großer Hitze zu angenehmer Milde herab und wuschen Blatt, Blume und
Stengel viel reiner von dem Staube, der selbst in weit von der Straße
entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange
andauerndem schönem Wetter sich auf Dächern, Mauern, Zäunen, Blättern
und Halmen sammelt, als es die Sprühregen, die mein Gastfreund ein
paar Male durch seine Vorrichtung unter dem Dache auf die Rosen hatte
ergehen lassen, zu tun im Stande gewesen waren. Unter dem klarsten,
schönsten und tiefsten Blau des Himmels standen nun eines Tages
Tausende von den Blumen offen, es schien, daß keine einzige Knospe im
Rückstande geblieben und nicht aufgegangen ist. In ihrer Farbe von dem
reinsten Weiß in gelbliches Weiß, in Gelb, in blasses Rot, in feuriges
Rosenrot, in Purpur, in Veilchenrot, in Schwarzrot zogen sie an der
Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen
alten Völkern Recht zu geben, die die Rosen fast göttlich verehrten
und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekränzten.
Man war täglich, teils einzeln, teils zusammen, zu dem Rosengitter
gekommen, um die Fortschritte zu betrachten, man hatte gelegentlich
auch andere Rosenteile und Rosenanlagen in dem Garten besucht;
allein an diesem Tage erklärte man einmütig, jetzt sei die Blüte am
schönsten, schöner vermöge sie nicht mehr zu werden und von jetzt an
müsse sie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch schon einige
Tage früher gesagt; jetzt aber glaubte man sich nicht mehr zu irren,
jetzt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu sein.

So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in
welchem ich auch diese Blumen in ihrer Blüte angetroffen hatte, waren
sie jetzt schöner als damals.

Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die Liebe zu
diesen Blumen, welche in dem Rosenhause herrschte, und die zweckmäßige
Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft bekannt
geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem
ungewöhnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergötzen wollten, und andere,
die dem Besitzer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder
andere, die nichts Besseres zu tun wußten, als nachzuahmen, was
ihre Umgebung tat. Alle diese Arten waren nicht schwer von einander
zu unterscheiden. Die Behandlung derselben war von Seite meines
Gastfreundes so fein, daß ich es nicht von ihm vermutet hatte und daß
ich diese Eigenschaft an ihm erst jetzt, wo ich ihn unter Menschen
beobachten konnte, entdeckte.

Auch Bauern kamen zu verschiedenen Zeiten und baten, daß sie die Rosen
anschauen dürfen. Nicht nur die Rosen wurden ihnen gezeigt, sondern
auch alles andere im Hause und Garten, was sie zu sehen wünschten,
besonders aber der Meierhof, insoferne sie ihn nicht kannten oder
ihnen die letzten Veränderungen in demselben neu waren.

Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohrberg, den ich bei meinem
vorjährigen Besuche in dem Rosenhause getroffen hatte. Er zeichnete
sich einige Rosen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete
sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu, als nur
immer möglich ist, nachzuahmen. Die Zeichnung aber sollte keine
Kunstabbildung von Blumen sein, sondern er wollte sich nur solche
Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er
in seinen Garten zu verpflanzen wünschte. Es bestand nehmlich schon
seit lange her zwischen meinem Gastfreunde und dem Pfarrer das
Verhältnis, daß mein Gastfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit
dieser seinen Garten zieren wollte, den er teils neu um das Pfarrhaus
angelegt, teils erweitert hatte.

Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben. Sie
mußte überhaupt die Blumen sehr lieben; denn auf den Blumentischen in
ihren Zimmern standen stets die schönsten und frischesten des Gartens,
auch wurde gerne auf dem Tische, an welchem wir speisten, eine Gruppe
von Gartentöpfen mit ihren Blumen zusammengestellt. Abgebrochen oder
abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durften in diesem
Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie
entfernen mußte. Den Rosen aber wendete sie ihr meistes Augenmerk zu.
Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Sträuchen, Bäumchen
und Gruppen standen, und bekümmerte sich um ihre Hegung und Pflege,
sondern sie besuchte auch ganz allein, wie ich schon früher bemerkt
hatte, die, welche an der Wand des Hauses blühten. Oft stand sie lange
davor und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel,
stieg auf ihn und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entweder ein welkes
Laubblatt ab, das den Blicken der andern entgangen war, oder bog eine
Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las
ein Käferchen ab oder lüftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu
buschig gedrängt hatten. Zuweilen blieb sie auf dem Schemel stehen,
ließ die Hand sinken und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr
ausgebreiteten Gewächse.

Wirklich war der Tag, den man als den schönsten der Rosenblüte
bezeichnet hatte, auch der schönste gewesen. Von ihm an begann sie
abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, so daß man öfter die
Leiter und die Schere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu
beseitigen.

Auch zwei fremde Reisende waren in das Rosenhaus gekommen, welche
sich eine Nacht und einen Teil des darauf folgenden Vormittages in
demselben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten, die Felder und
den Meierhof besehen. In seine Zimmer und in die Schreinerei hatte sie
mein Gastfreund nicht geführt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung
zog, daß er mir bei meiner ersten Ankunft in seinem Hause eine
Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Teil wurde, daß ich also eine Art
Zuneigung bei ihm gefunden haben mußte.

Gegen das Ende der Rosenblüte kam Eustachs Bruder Roland in das Haus.
Da er sich mehrere Tage in demselben aufhielt, fand ich Gelegenheit,
ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bildung seines
Bruders, auch nicht dessen Biegsamkeit; aber er schien mehr Kraft zu
besitzen, die seinen Beschäftigungen einen wirksamen Erfolg versprach.
Was mir auffiel, war, daß er mehrere Male seine dunkeln Augen länger
auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte. Er hatte
eine Reihe von Zeichnungen gebracht und wollte noch einen entfernteren
Teil des Landes besuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen
zu ordnen.


Ehe Mathilde und Natalie das Rosenhaus verließen, mußte noch der
versprochene Besuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß
und von dem Volke nicht selten der Inghof genannt wurde, gemacht
werden. Es wurde hingeschickt und ein Tag genannt, an dem man kommen
wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieses Tages wurden
die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekommen war und die sie die
Zeit über in dem Meierhofe gelassen hatte, vor den Wagen gespannt,
der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie setzten sich
hinein. Mein Gastfreund, Gustav und ich, der ich eigens in die Bitte
des Gegenbesuchs eingeschlossen worden war, stiegen in einen anderen
Wagen, der mit zwei sehr schönen Grauschimmeln meines Gastfreundes
bespannt war. Eine rasche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den
Ort unserer Bestimmung. Ingheim ist ein Schloß, oder eigentlich sind
zwei Schlösser da, welche noch von mehreren anderen Gebäuden umgeben
sind. Das alte Schloß war einmal befestigt. Die grauen, aus großen
viereckigen Steinen erbauten runden Türme stehen noch, ebenso die
graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwischen den Türmen.
Beide Teile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Türmen und
Mauern steht das alte, unbewohnte, ebenfalls graue Haus, scheinbar
unversehrt; aber von den mit Brettern verschlagenen Fenstern schaut
die Unbewohntheit und Ungastlichkeit herab. Vor diesen Werken des
Altertums steht das neue weiße Haus, welches mit seinen grünen
Fensterläden und dem roten Ziegeldache sehr einladend aussieht. Wenn
man von der Ferne kömmt, meint man, es sei unmittelbar an das alte
Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem
Hause selber ist und hinter dasselbe geht, so sieht man, daß das alte
Gemäuer noch ziemlich weit zurück ist, daß es auf einem Felsen steht
und daß es durch einen breiten, mit einem Obstbaumwald bedeckten
Graben von dem neuen Hause getrennt ist. Auch kann man in der Ferne
wegen der ungewöhnlichen Größe des alten Schlosses die Geräumigkeit
des neuen Hauses nicht ermessen. Sobald man sich aber in demselben
befindet, so erkennt man, daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe und
nicht bloß für das Unterkommen der Familie gesorgt ist, sondern auch
eine ziemliche Zahl von Gästen noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich
hatte wohl den Namen des Schlosses öfter gehört, dasselbe aber nie
gesehen. Es liegt so abseits von den gewöhnlichen Wegen und ist durch
einen großen Hügel so gedeckt, daß es von Reisenden, welche durch
diese Gegend gewöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht gesehen werden
kann. Als wir uns näherten, entwickelten sich die mehreren Bauwerke.
Zuerst kamen wir zu den Wirtschaftsgebäuden oder der sogenannten
Meierei. Dieselben standen, wie es bei vielen Besitzungen in unserem
Lande der Brauch ist, ziemlich weit entfernt von dem Wohnhause und
bildeten eine eigene Abteilung. Von da führte der Weg durch eine Allee
uralter großer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee ist
ein Bruchstück von derjenigen, die einmal gegen die Zugbrücke des
alten Schlosses hinauf geführt hatte; sie brach daher ab, und wir
fuhren die übrige Strecke durch schönen grünen Rasen, der mit
einzelnen Blumenhügeln geschmückt war, dem Hause zu. Dasselbe war von
weißlich grauer Farbe und hatte säulenartige Streifen und Friese. Alle
Fenster, soweit die geöffneten Läden eine Einsicht zuließen, zeigten
von Innen schwere Vorhänge. Als der Wagen der Frauen unter dem
Überdache der Vorfahrt hielt, stand schon der Herr von Ingheim
sammt seiner Gattin und seinen Töchtern am Ende der Treppe zur
Bewillkommnung. Sie waren alle mit Geschmack gekleidet, sowie die
Dienerschaft, die hinter ihnen stand, in Festkleidern war. Der
Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch
ausgestiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen
Familie begrüßt und die Treppe hinauf geleitet.

Man führte uns in ein großes Empfangszimmer und wies uns Plätze an.
Mathilde und Natalie hatten zwar festlichere Kleider an, als sie im
Rosenhause trugen, aber dieselben, so edel der Stoff war, zeigten doch
keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung. Mein Gastfreund,
Gustav und ich waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Besuchen zu
sein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen Polster, die hier
überall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tische, über den ein
schöner Teppich gebreitet war, standen Erfrischungen verschiedener
Art. Andere Tische, die noch in dem Zimmer standen, waren unbedeckt.
Die Geräte waren von Mahagoniholz und schienen aus der ersten
Werkstätte der Stadt zu stammen. Ebenso waren die Spiegel, die
Kronleuchter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenster
nahm ein sehr schönes Clavier ein. Die ersten Gespräche betrafen die
gewöhnlichen Dinge über Wohlbefinden, über Wetter, über Gedeihen
der Feld- und Gartengewächse. Die Männer nannten sich wechselweise
Nachbar, die Frauen benannten sich gar nicht.

Als man etwas Weniges von den dastehenden Speisen genommen hatte,
erhob man sich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe,
deren Fenster größtenteils gegen Mittag auf die Landschaft hinaus
gingen. Alle waren sehr schön nach neuer Art eingerichtet, besonders
reich waren die Palisandergeräte im Empfangszimmer der Frau, in
welchem, so wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen, wieder Claviere
standen. Der Herr des Hauses führte besonders mich in den Räumen
herum, dem sie noch fremd waren. Die übrige Gesellschaft folgte uns
gelegentlich in das eine oder andere Gemach.

Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derselbe war wie viele
wohlgehaltene und schöne Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne
Sandgänge, grüne ausgeschnittene Rasenplätze mit Blumenstücken,
Gruppen von Zier- und Waldgebüschen, ein Gewächshaus mit
Camellien, Rhododendren, Azaleen, Eriken, Calceolarien und vielen
neuholländischen Pflanzen, endlich Ruhebänke und Tische an geeigneten
schattigen Stellen. Der Obstgarten als Nützlichkeitsstück war nicht
bei dem Wohnhause, sondern hinter dem Meierhofe.

Von dem Garten gingen wir, wie es bei ländlichen Besuchen zu geschehen
pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten
Rinder, die meistens weiß gestirnt waren, wir besahen die Schafe, die
Pferde, das Geflügel, die Milchkammer, die Käsebereitung, die Brauerei
und ähnliche Dinge. Hinter den Scheuern trafen wir den Gemüsegarten
und den sehr weitläufigen Obstgarten an. Von diesen gingen wir in die
wohlbestellten Felder und in die Wiesen. Der Wald, welcher zu der
Besitzung gehört, wurde mir in der Ferne gezeigt.

Nachdem wir unsern ziemlich bedeutenden Spaziergang beendigt hatten,
wurden wir in eine ebenerdige große Speisehalle geführt, in welcher
der Mittagtisch gedeckt war. Ein einfaches, aber ausgesuchtes Mahl
wurde aufgetragen, wobei die Dienerschaft hinter unseren Stühlen
stehend bediente. Hatte sich die Familie Ingheim schon bei dem Besuche
auf dem Rosenhause als unter die gebildeten gehörig gezeigt, so war
dies bei unserem Empfange in ihrem eigenen Hause wieder der Fall.
Sowohl bei Vater und Mutter als auch bei den Mädchen war Einfachheit,
Ruhe und Bescheidenheit. Die Gespräche bewegten sich um mehrere
Gegenstände, sie rissen sich nicht einseitig nach einer gewissen
Richtung hin, sondern schmiegten sich mit Maß der Gesellschaft an.
Einen Teil der Zeit nach dem Mittagessen brachten wir in den Zimmern
des ersten Stockwerkes zu. Es wurde Musik gemacht, und zwar Clavier
und Gesang. Zuerst spielte die Mutter etwas, dann beide Mädchen
allein, dann zusammen. Jedes der Mädchen sang auch ein Lied. Natalie
saß in den seidenen Polstern und hörte aufmerksam zu. Als man sie aber
aufforderte, auch zu spielen, verweigerte sie es.

Gegen Abend fuhren wir wieder in das Rosenhaus zurück.

Als Gustav aus unserem Wagen gesprungen war, als mein Gastfreund und
ich denselben verlassen hatten, und ich die edle, schlanke Gestalt
Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen sah, blieb ich ein
Weilchen stehen und begab mich dann auch in meine Zimmer, wo ich bis
zum Abendessen blieb.

Dieses war wie gewöhnlich, man machte aber nach demselben an diesem
Tage keinen Spaziergang mehr.

Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fenster, die man trotz des
warmen Tages, weil ich abwesend gewesen war, geschlossen gehalten
hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen sachte zu glänzen,
die Luft war mild und ruhig und die Rosendüfte zogen zu mir herauf.
Ich geriet in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der
Nacht und die Düfte der Rosen mahnten an Vergangenes; aber es war doch
heute ganz anders.

Nach diesem Besuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und
als diese beendigt waren und wieder dem Sonnenscheine Platz machten,
war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das
Rosenhaus verlassen sollten. Es war schon Mehreres gepackt worden, und
darunter sah ich auch die beiden Zithern, die man in sammtene Fächer
tat, welche ihrerseits wieder in lederne Behältnisse gesteckt wurden.

Endlich war der Tag der Abreise festgesetzt worden.

Am Abende vorher war schon das Hauptsächlichste, was mitgenommen
werden sollte, in den Wagen geschafft, und die Frauen hatten
am Nachmittage in mehreren Stellen Abschied genommen: bei den
Gärtnerleuten, in der Schreinerei und im Meierhofe.

Am andern Morgen erschienen sie bei dem Frühmahle in Reisekleidern,
während noch Arabella, das Dienstmädchen Mathildens, diejenigen
Sachen, die bis zu dem letzten Augenblicke im Gebrauch gewesen waren,
in den Wagen packte.

Nach dem Frühmahle, als die Frauen schon die Reisehüte aufhatten,
sagte Mathilde zu meinem Gastfreunde:

»Ich danke dir, Gustav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof.«

»Lebe wohl, Mathilde«, sagte mein Gastfreund.

Die zwei alten Leute küßten sich wieder auf die Lippen, wie sie es bei
der Ankunft Mathildens getan hatten.

»Lebe wohl, Natalie«, sagte er dann zu dem Mädchen.

Dasselbe erwiderte nur leise die Worte: »Dank für alle Güte.«

Mathilde sagte zu dem Knaben: »Sei folgsam und nimm dir deinen
Ziehvater zum Vorbilde.«

Der Knabe küßte ihr die Hand.

Dann, zu mir gewendet, sprach sie: »Habet Dank für die freundlichen
Stunden, die ihr uns in diesem Hause gewidmet habt. Der Besitzer wird
euch für euren Besuch wohl schon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie
ihr es bisher gewesen seid, und laßt euch seine Anhänglichkeit nicht
leid tun. Wenn es eure schöne Wissenschaft zuläßt, so seid unter
denen, die von diesem Hause aus den Sternenhof besuchen werden. Eure
Ankunft wird dort sehr willkommen sein.«

»Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die Güte, welche mir
von euch und von dem Besitzer dieses Hauses zu Teil geworden ist«,
erwiderte ich. »Wenn Gustav einige Zuneigung zu mir hat, so ist
wohl die Güte seines Herzens die Ursache, und wenn ihr mich von
dem Sternenhofe nicht zurück weiset, so werde ich gewiß unter den
Besuchenden sein.«

Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien verabschieden sollte; ich
vermochte aber nicht, etwas zu sagen, und verbeugte mich nur stumm.
Sie erwiderte diese Verbeugung ebenfalls stumm.

Hierauf verließ man das Haus und ging auf den Sandplatz hinaus.
Die braunen Pferde standen mit dem Wagen schon vor dem Gitter. Die
Hausdienerschaft war herbei gekommen, Eustach mit seinen Arbeitern
stand da, der Gärtner mit seinen Leuten und seiner Frau und der Meier
mit dem Großknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen.

»Ich danke euch recht schön, liebe Leute«, sagte Mathilde, »ich danke
euch für eure Freundschaft und Güte, seid für euren Herrn treu und
gut. Du, Katharina, sehe auf ihn und Gustav, daß keinem ein Ungemach
zustößt.«

»Ich weiß, ich weiß« fuhr sie fort, als sie sah, daß Katharina reden
wollte, »du tust Alles, was in deinen Kräften ist, und noch mehr, als
in deinen Kräften ist; aber es liegt schon so in dem Menschen, daß er
um Erfüllung seiner Herzenswünsche bittet, wenn er auch weiß, daß sie
ohnehin erfüllt werden, ja daß sie schon erfüllt worden sind.«

»Kommt recht gut nach Hause«, sagte Katharina, indem sie Mathilden die
Hand küßte und sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete.

Alle drängten sich herzu und nahmen Abschied. Mathilde hatte für
ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man sich, die
gleichfalls freundlich dankte.

»Eustach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz«, sagte Mathilde zu diesem
gewendet, »besucht uns mit den anderen. Ich will nicht sagen, daß euch
auch die Dinge dort notwendig haben könnten, ihr sollt unsertwegen
kommen.«

»Ich werde kommen, hochverehrte Frau«, erwiderte Eustach.

Nun sprach sie noch einige Worte zu dem Gärtner und seiner Frau und zu
dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurück traten.

»Sei gut, mein Kind«, sagte sie zu Gustav, indem sie ihm ein Kreuz
mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirne machte und ihn auf dieselbe
küßte. Der Knabe hielt ihre Hand fest umschlungen und küßte sie. Ich
sah in seinen großen schwarzen Augen, die in Tränen schwammen, daß er
sich gerne an ihren Hals würfe; aber die Scham, die einen Bestandteil
seines Wesens machte, mochte ihn zurück halten.

»Bleibe lieb, Natalie«, sagte mein Gastfreund.

Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand geküßt, wenn er es
zugelassen hätte.

»Teurer Gustav, habe noch einmal Dank«, sagte Mathilde zu meinem
Gastfreunde. Sie hatte noch mehr sagen wollen; aber es brachen Tränen
aus ihren Augen. Sie nahm ein feines, weißes Tuch und drückte es fest
gegen diese Augen, aus denen sie heftig weinte.

Mein Gastfreund stand da und hielt die Augen ruhig; aber es fielen
Tränen aus denselben herab.

»Reise recht glücklich, Mathilde«, sagte er endlich, »und wenn bei
deinem Aufenthalte bei uns etwas gefehlt hat, so rechne es nicht
unserer Schuld an.«

Sie tat das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf
Gustav und sagte: »Meine größte Schuld steht da, eine Schuld, welche
ich wohl nie werde tilgen können.«

»Sie ist nicht auf Tilgung entstanden«, erwiderte mein Gastfreund.
»Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geschieht, so geschieht
es recht gerne.«

Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Händen, während ein
leichtes Morgenlüftchen einige Blätter der abgeblühten Rosen zu ihren
Füßen wehte.

Dann führte er sie zu dem Wagen, sie stieg ein, und Natalie folgte
ihr.

Es war nach den mehreren Regentagen ein sehr klarer, nicht zu warmer
Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den
Schleier von dem nehmlichen Hute, den sie bei ihrer Herfahrt gehabt
hatte, über ihr Angesicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen
zurück und gab ihre Augen den Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella
in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an, die Räder furchten
den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptstraße zu.

Wir begaben uns wieder in das Haus zurück.

Jeder ging in sein Zimmer und zu seinen Geschäften.


Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung gewesen war, suchte ich den
Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen schon
so weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging zu den Gemüsen,
zu dem Zwergobste und endlich zu dem großen Kirschbaume hinauf. Von
demselben ging ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner,
welcher an seinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten sah,
kam er mir entgegen und sagte: »Es ist gut, daß ich allein mit euch
sprechen kann, habt ihr ihn gesehen?«

»Wen?« fragte ich.

»Nun, ihr waret ja auf dem Inghofe«, antwortete er, »da werdet ihr
wohl den Cereus peruvianus angeschaut haben.«

»Nein, den habe ich nicht angeschaut«, erwiderte ich, indem ich mich
wohl des Gespräches erinnerte, in welchem er mir erzählt hatte, daß
sich eine so große Pflanze dieser Art in dem Inghofe finde, »ich habe
auf ihn vergessen.«

»Nun, wenn ihr ihn vergessen habt, so wird ihn wohl der Herr
angeschaut haben«, sagte er.

»Ich glaube, daß uns niemand auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat,
als wir in dem Gewächshause waren«, erwiderte ich; »denn wenn jemand
anderer sich eigens zu dieser Pflanze gestellt hätte, so hätte ich es
gewiß bemerkt und hätte sie auch angesehen.«

»Das ist sehr sonderbar und sehr merkwürdig«, sagte er; »nun, wenn ihr
vergessen habt, den Cereus peruvianus anzusehen, so müßt ihr einmal
mit mir hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es ist ein
angenehmer Weg. So etwas seht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen
ihn nie zur Blüte. Wenn ich ihn hier hätte, so würde er bald so weiß
wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die unseren sind noch
viel zu klein zum Blühen.«

Ich sagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den Inghof hinübergehen
werde, ja sogar, wenn es nicht eine Unschicklichkeit sei und nicht zu
große Hindernisse im Wege stehen, daß ich auch versuchen werde, dahin
zu wirken, daß diese Pflanze zu ihm herüberkomme.

Er war sehr erfreut darüber und sagte, die Hindernisse seien gar
nicht groß, sie achten den Cereus nicht, sonst hätten sie ja die
Gesellschaft zu ihm hingeführt, und der Herr wolle sich vielleicht
keine Verbindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine
Fürsprache mache, so würde der Cereus gewiß herüber kommen.

Wie doch der Mensch überall seine eigenen Angelegenheiten mit sich
herum führt, dachte ich, und wie er sie in die ganze übrige Welt
hineinträgt. Dieser Mann beschäftigt sich mit seinen Pflanzen und
meint, alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken, während
ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, während mein
Gastfreund seine eigenen Bestrebungen hat und Gustav seiner Ausbildung
obliegt. Das eine Gute hatte aber die Ansprache des Gärtners für mich,
daß sie mich von meinen wehmütigen und schmerzlichen Gefühlen ein
wenig abzog und mir die Überzeugung brachte, wie wenig Berechtigung
sie haben und wie wenig sie sich für das Einzige und Wichtigste in der
Welt halten dürfen.

Ich blieb noch länger in dem Gewächshause und ließ mir Mehreres von
dem Gärtner zeigen und erklären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung
und setzte mich zu meiner Arbeit.

Wir kamen bei dem Mittagessen zusammen, wir machten am Nachmittage
einen Spaziergang, und die Gespräche waren wie gewöhnlich.


Die Zeit auf dem Rosenhause floß nach dem Besuche der Frauen wieder so
hin, wie sie vor demselben hingeflossen war.

Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge
zu einem Aufenthalte bei meinem Gastfreunde abgedungen hatte,
beinahe schon erschöpft. Das, was ich mir in dem Rosenhause als
Ergänzungsarbeit zu tun auferlegt hatte, rückte auch seiner Vollendung
entgegen. Ich ließ mir aber deßohngeachtet einen Aufschub gefallen,
weil man verabredet hatte, einen Besuch auf dem Sternenhofe zu machen,
was, wie ich einsah, Mathildens Wohnsitz war, und weil ich bei diesem
Besuche zugegen sein wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche
besuchen wollten, die in dem Hochlande lag und in welcher sich ein
sehr schöner Altar aus dem Mittelalter befand. Ich nahm mir vor,
das, was mir an Zeit entginge, durch ein länger in den Herbst hinein
fortgesetztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen.

Mein Gastfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen
lassen und beschäftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um
bei den Arbeiten nachzusehen. Wir begleiteten ihn sehr oft. Es war
eben die letzte Einfuhr des Heues aus den höheren, in dem Alizwalde
gelegenen Wiesen, deren Ertrag später als in der Ebene gemäht wurde,
im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden, würzigen Nahrung der
Tiere, welche aus den Waldwiesen viel besser war als aus den fetten
Wiesen der Täler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr mannigfaltige
Kräuter, die aus den sehr verschiedenartigen Gesteingrundlagen die
Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde
der tiefen Gründe wenigere, wenngleich wasserreichere Arten hervor
bringt. Mein Gastfreund widmete diesem Zweige eine sehr große
Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der
Haustiere, dieser geselligen Mitarbeiter der Menschen ist. Alles,
was die Würze, den Wohlgeruch und, wie er sich ausdrückte, die
Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte strenge
hintan gehalten werden, und wo durch Versehen oder Ungunst der
Zeitverhältnisse doch dergleichen eintrat, mußte das minder Taugliche
ganz beseitigt oder zu andern Wirtschaftszwecken verwendet werden.
Darum konnte man aber auch keine schöneres, glatteren, glänzenderen
und fröhlicheren Tiere sehen als auf dem Asperhofe. Der
Wirtschaftsvorteil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das
Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der
Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten
beobachtet, abgesehen davon, daß mein Gastfreund bei seiner Kenntnis
der Witterungsverhältnisse weniger Schaden durch Regen oder
dergleichen erlitt als die meisten Landwirte, die sich um diese
Kenntnis gar nicht bekümmerten. Und der Nachteil der Nichtanwendung
des Schlechteren wurde weit durch den Vorteil des besseren Gedeihens
der Tiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer
geringeren Anzahl Tiere größere Arbeiten ausführen als in anderen
Gehöften. Hiezu kam noch eine gewisse Fröhlichkeit und Heiterkeit
der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemäßen Führung eines
Geschäftes, bei dem sie beteiligt sind, und bei einer wenn auch
strengen, doch stets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich
hörte bei meiner jetzigen Anwesenheit öfter von benachbarten Leuten
die Äußerung, das hätte man dem alten Asperhofe nicht angesehen, daß
das noch heraus kommen könnte.

Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niedergegangen waren, die Luft
sich gereinigt hatte und einige schöne Tage erwartet werden konnten,
die Reise zu der Kirche mit dem sehenswürdigen Altare festgesetzt.

Im Norden unseres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen
nördlichen und südlichen Teil teilt, erhebt sich ein Hochland, welches
viele Meilen die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In seinem
Süden ist eine acht bis zehn Meilen breite, verhältnismäßig ebene
Gegend von großer Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen
begrenzt ist. Ich war bisher nur vorzugsweise in die Alpen gegangen,
die nördlichen Hochlande hatte ich bloß ein einziges Mal betreten und
nur eine kleine Ecke derselben durchwandert. Jetzt sollte ich mit
meinem Gastfreunde eine Fahrt in das Innere derselben machen; denn die
Kirche, welche das Ziel unserer Reise war, steht weit näher an der
nördlichen als an der südlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren
in der Begleitung Eustachs von dem Stromesufer die staffelartigen
Erhebungen empor und fuhren dann in dem hohen vielgehügelten Lande
dahin. Wir fuhren oft mit unseren Gespann langsam bis auf die höchste
Spitze eines Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir senkten
uns wieder in ein Tal, umfuhren oft in Windungen abwärts die Dachung
des Berges, legten eine enge Schlucht zurück, stiegen wieder empor,
veränderten recht oft unsere Richtung und sahen die Hügel, die Gehöfte
und andere Bildungen von verschiedenen Seiten. Wir erblickten oft von
einer Spitze das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit seiner
erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann wieder in einem Talkessel,
in welchem wir keine Gegenstände neben unserem Wagen hatten als eine
dunkle, weitästige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn wir uns einem
Gegenstande gleichsam auf einer Ebene nähern zu können schienen, war
plötzlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geschnitten, und wir mußten
dieselbe in Schlangenwindungen umfahren.

Ich hatte bei meinem ersten Besuche dieses Hochlandes die Bemerkung
gemacht, daß es mir da stiller und schweigsamer vorkomme, als wenn ich
durch andere, ebenfalls stille und schweigende Landschaften zog. Ich
dachte nicht weiter darüber nach. Jetzt kam mir dieselbe Empfindung
wieder. In diesem Lande liegen die wenigen größeren Ortschaften sehr
weit von einander entfernt, die Gehöfte der Bauern stehen einzeln auf
Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten
Abhange. Herum sind Wiesen, Felder, Wäldchen und Gestein. Die Bäche
gehen still in den Schluchten, und wo sie rauschen, hört man ihr
Rauschen nicht, weil die Wege sehr oft auf den Höhen dahin führen.
Einen großen Fluß hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte
südliche Ebene und das Hochgebirge sieht, so ist es nur ein sehr
großer, aber stiller Gesichtseindruck. In den Alpen geht der
Straßenzug meistens nur in den Talrinnen, an den Flüssen oder
Wildbächen dahin, er kann sich wenig verzweigen, der Verkehr ist auf
ihn zusammengedrängt, und es regt sich auf ihm, und es wehet und
rauscht an ihm.

In diesem Lande sind noch viele wertvolle Altertümer zerstreut und
aufbewahrt, es haben einmal reiche Geschlechter in ihm gewohnt, und
die Krieges- und Völkerstürme sind nicht durch das Land gegangen.

Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem sehr
abgeschiedenen Winkel und ist von keinerlei Bedeutung. Nicht einmal
eine Straße von nur etwas lebhaftem Verkehre führt durch, sondern
nur einer jener Landwege, wie sie zum Austausche der Erzeugnisse der
Bevölkerung dienen und von dem guten Sand- und Steinstoffe des Landes
sehr gut gebaut sind. Nur die Lage ist schön, da hier die Bildungen
etwas größer sind und, mit dämmerigem Walde teilweise bekleidet,
anmutig zusammentreten. Und doch steht in diesem Orte die Kirche,
zu welcher wir auf der Reise waren. Hinter dem Orte, ungefähr nach
Mitternacht, liegt ein weitläufiges Schloß auf einem Berge, welches
große Garten- und Waldanlagen um sich hat. Auf diesem Schlosse hat
einmal ein reiches und mächtiges Geschlecht gewohnt. Einer von ihnen
hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und auszieren lassen. Er
hat die Kirche im altdeutschen Stile gebaut, Spitzbogen schließen
sie, schlanke Säulen aus Stein teilen sie in drei Schiffe, und hohe
Fenster mit Steinrosen in ihren Bögen und mit den kleinen vieleckigen
Täfelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar ist aus Lindenholz
geschnitzt, steht wie eine Monstranze auf dem Priesterplatze und ist
von fünf Fenstern umgeben. Viele Zeiten sind vorübergegangen. Der
Gründer ist gestorben, man zeigt sein Bild aus rotem Marmor in
Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menschen sind
gekommen, man machte Zutaten in der Kirche, man bemalte und bestrich
die steinernen Säulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Wände,
man ersetzte die zwei Seitenaltäre, von deren Gestalt man jetzt nichts
mehr weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß schöne Glasgemälde
die Monstranze umstanden haben, daß sie fortgekommen seien und daß
gemeine viereckige Tafeln in die fünf Fenster gesetzt wurden. Sie
verunzieren in der Tat noch jetzt die Kirche. Die neuen Besitzer des
Schlosses waren nicht mehr so reich und mächtig, andere Zeiten hatten
andere Gedanken bekommen, und so war der geschnitzte Hochaltar von
Vögeln, Fliegen und Ungeziefer beschmutzt worden, die Sonne, die
ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinschien, hatte ihn
ausgedörrt, Teile fielen herab und wurden willkürlich wieder hinauf
getan und durcheinander gestellt, und in Arme, Angesichter und
Gewänder bohrte sich der Wurm.

Darum haben die Behörden des Landes den Altar wieder hergestellt, und
zu diesem gingen wir.


Eustach geleitete uns in die Kirche, es war ein sonniger Vormittag,
kein Mensch war zugegen, und wir traten vor das Schnitzwerk. Eustach
konnte vieles aus den Regeln der alten Kunst und aus der Geschichte
derselben erklären. Er sprach über das Mittelfeld, in welchem drei
ganze, überlebensgroße Gestalten auf reich verzierten Gestellen unter
reichen Überdächern standen. Es waren die Gestalten des heiligen
Petrus, des heiligen Wolfgang - beide in Bischofsgewändern - und des
heiligen Christophorus, wie er das Jesuskindlein auf der Schulter
trägt, und wie dasselbe nach der Legende dem riesenhaft starken Manne
schwer wie ein Weltball wird und seine Kräfte erschöpft, welche
Erschöpfung in der Gestalt ausgedrückt ist. Sehr viele kleine
Gestalten waren noch nach der Sitte unserer Vorältern in dem Raume
zerstreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Flügel,
auf welchen Bilder in halberhabener Arbeit sich befanden: die
Verkündigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der
drei Könige und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelstückes war ein
Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie
Eustach meint, fälschlich die gothische nennt, da sie vielmehr
mittelalterlich deutsch sei. In diese durchbrochene Arbeit waren
mehrere Gestalten eingestreut. Zu beiden Seiten hinter den Flügeln
standen die Gestalten des heiligen Florian und des heiligen Georg in
mittelalterlicher Ritterrüstung empor.

Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauses und der
heilige Georg das des Drachen zu seinen Füßen. Eustach behauptete,
daß sich nur aus der Ansicht eines Sinnbildes die Kleinheit solcher
Beigaben zu altertümlichen Gestalten erkläre, da unsere kunstsinnigen
Altvordern gewiß nicht den großen Fehler der Unverhältnismäßigkeit der
Körper der Gegenstände gemacht haben würden. Mein Gastfreund sagte,
ohne die Meinung Eustachs verwerfen zu wollen, daß man die Sache auch
etwa so auslegen könne, daß man durch die über alles Maß hinausgehende
Größe der Gestalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein sei,
ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen.

Mein Gastfreund sagte, es müßten einmal nicht nur viel kunstsinnigere
Zeiten gewesen sein als heute, sondern es müßte die Kunst auch ein
allgemeineres Verständnis bis in das unterste Volk hinab gefunden
haben; denn wie wären sonst Kunstwerke in so abgelegene Orte wie
Kerberg gekommen, oder wie befänden sich solche in noch kleineren
Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einsam auf einem Hügel
stehen oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder
wie wären kleine Kirchlein, Feldkapellen, Wegsäulen, Denksteine
alter Zeit mit solcher Kunst gearbeitet: so wie heut zu Tage der
Kunstverfall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil man nicht nur
in die Kirchen, Gräber und heiligen Orte abscheuliche Gestalten, die
eher die Andacht zerstören als befördern, von dem Volke stellen läßt,
sondern auch bis zu sich hinauf in das herrschaftliche Schloß so oft
die leeren und geistesarmen Arbeiten einer ohnmächtigen Zeit zieht.
Meines Gastfreundes und Eustachs bemächtigte sich bei diesen
Betrachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begriff.

Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten
das Steinbild des Mannes, der sie hatte erbauen lassen. und
betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inschriften. Es zeigte
sich hier, daß die fünf Fenster des Priesterplatzes nicht wie die
Fenster des Kirchenschiffes in ihren Spitzbogen Steinrosen hatten, was
als neuer Beweis galt, daß das Glas aus diesen Fenstern einmal heraus
genommen worden war, und daß man zu besserer Gewinnung der Gemälde
in den Spitzbogen oder gar zu bequemerer Einsetzung der viereckigen
Tafeln die steinernen Fassungen weggeräumt habe.

Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern
aus der Kirche.

Auf der Rückfahrt schlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch
noch andere Teile des Landes zu sehen bekäme. Wir besuchten noch ein
paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Eustach versprach mir, daß
er mir, wenn wir nach Hause gekommen wären, die Zeichnungen von den
Dingen zeigen würde, welche wir gesehen hatten. Die Männer sprachen
auf der Rückreise auch von der mutmaßlichen Zeit, in welcher die
Kirche, die das Ziel unserer Reise gewesen war, entstanden sein
könnte. Sie schlossen auf diese Zeit aus der Art und Weise des Baues
und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß man Näheres
darüber aus Urkunden nicht erfahren könne, da das Schriftgewölbe des
alten Schlosses unzugänglich gehalten werde.

Wir fuhren am Mittage des nächsten Tages wieder die staffelartigen
Erhebungen hinab und gelangten in später Nacht in das Rosenhaus.

Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärtner an unsern verabredeten
Gang nach Ingheim. Er freute sich über meine Achtsamkeit, wie er es
nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloß
hinüber. Wir sagten die Ursache unseres Besuches und wurden mit
Zuvorkommenheit empfangen.

Wir gingen sogleich in das Gewächshaus, und es war in Wirklichkeit
eine sehr schöne und zu ansehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu
der mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte nicht genau, wie
weit sich diese Pflanzen überhaupt entwickeln und welche Größe sie zu
erreichen vermögen; aber eine größere habe ich nirgends gesehen. Daß
man sie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich ebenfalls; denn der
Winkel des Gewächshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war
der vernachlässigteste, es lagen Blumenstäbe, Bastbänder, welke
Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf
welchen andere Pflanzen standen, verstellt, daß sein Anblick den Augen
entzogen werde. Man konnte den grünen Arm dieser Pflanze wohl an der
Decke des Hauses hingehen sehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner
ersten Anwesenheit nicht geschaut. Mein Begleiter erkannte jetzt, daß
es ein Cereus peruvianus sei und erklärte mir seine Merkmale. Sonst
aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher
Aufmerksamkeit, die uns in dem Schlosse noch zu Teil wurde, begaben
wir uns gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröstete meinen
alten Begleiter mit den Worten, daß ich glaube, daß es nicht schwer
sein werde, diese Pflanze in das Rosenhaus zu bringen. Dort würde sie
die Sammlung ergänzen und zieren, während sie in Ingheim allein ist.
Auch wird man wohl einem Wunsche meines Gastfreundes willfährig sein,
und ich werde die Sache schon zu fördern trachten.


Nach kurzer Zeit traten wir unsere Weg zum Besuche in dem Sternenhofe
an. Dieses Mal fuhr außer Eustach auch Gustav mit. Die Grauschimmel
wurden vor einen größeren Wagen gespannt, als wir in den Hochlanden
gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen über den Hügel hinab. Es war
sehr früh am Morgen, noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der
Hauptstraße gegen Rohrberg zu und fuhren endlich auf der Anhöhe an dem
Alizwalde empor. Da die Pferde langsam den Weg hinan gingen, sagte
mein Gastfreund: »Es ist möglich, daß ihr im vorigen Jahre an dieser
Stelle Mathilden und Natalien gesehen habt. Sie erzählten mir, als sie
zu Besuche der Rosenblüte zu mir kamen, und ich ihnen von euch, von
eurer Anwesenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft
erfolgten Abreise sagte, daß sie einem Fußreisenden auf der Alizhöhe
begegnet seien, der dem ungefähr gleich gesehen habe, den ich ihnen
beschrieben.«

Plötzlich war es mir ganz klar, daß wirklich Mathilde und Natalie
die zwei Frauen gewesen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieser
Stelle begegnet bin. Mir waren jetzt deutlich dieselben Reisehüte vor
Augen, die sie auch dieses Mal aufgehabt hatten, ich sah die Züge
Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen
mir in die Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als schon
einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja sogar damals gedacht,
daß das menschliche Angesicht etwa der edelste Gegenstand für die
Zeichnungskunst sein dürfte, und hatte sie als unbeholfener Mensch,
der im Zurechtlegen aller Eindrücke geschickter ist als in dem der
menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungskraft verloren. Ich
sagte zu meinem Gastfreunde, daß er durch seine Bemerkung meinem
Gedächtnisse zu Hilfe gekommen sei, daß ich jetzt alles klar wisse und
daß mir auf dieser Anhöhe Mathilde und Natalie begegnet seien, und daß
ich ihnen, da der Wagen langsam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe.

»Ich habe mir es gleich so gedacht«, erwiderte er.

Aber auch etwas anderes fiel mir ein und machte, daß mein Angesicht
errötete. Also hatte mein Gastfreund von mir mit den Frauen
gesprochen, und mich sogar beschrieben. Er hatte also einen Anteil an
mir genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr.

Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gastfreund
an einer Stelle, wo das Seitengebüsch des Weges eine Durchsicht
erlaubte, halten, stand im Wagen auf und bat mich, das gleiche zu tun.
Er sagte, daß man an dieser Stelle das Stück des Alizwaldes, das zu
dem Asperhofe gehöre, übersehen könne. Er wies mir mit dem Zeigefinger
an den Farbunterschieden des Waldes, die durch die Mischung der
Buchen und Tannen, durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale
hervorgebracht wurden, die Grenzen dieses Besitztumes nach. Als ich
dies genugsam verstanden und ihm auch mit dem Finger ungefähr die
Stellen des Waldes gezeigt hatte, an denen ich schon gewesen war,
setzten wir uns wieder nieder und fuhren weiter.

Es war bei dieser Gelegenheit das erste Mal gewesen, daß ich aus
seinem Munde den Namen Asperhof gehört habe, mit dem er sein Besitztum
bezeichnete.

Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Osten gehenden
Hauptstraße und schlugen einen gewöhnlichen Verbindungsweg nach Süden
ein. Wir fuhren also dem Hochgebirge näher. Am Mittage blieben wir
eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde,
auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden
Gasthofe, und es war schon am Abende in tiefer Dämmerung, als mir mein
Gastfreund die Umrisse des Sternenhofes zeigte. Ich war schon zweimal
in der Gegend gewesen, erinnerte mich sogar im allgemeinen auf das
Gebäude und wußte genau, daß am Fuße des Hügels, auf welchem es stand,
sehr schöne Ahorne wuchsen. Ich hatte aber nie Ursache gehabt, mich
weiter um diese Gegenstände zu kümmern.

Wir kamen bei Sternenscheine zu den mir bekannten Ahornen, fuhren
einen Hügel empor, legten einen Torweg zurück und hielten in einem
Hofe. In demselben standen vier große Bäume, an deren eigentümlichen,
gegen den dunkeln Nachthimmel gehaltenen Bildungen ich erkannte, daß
es Ahorne seien. In ihrer Mitte plätscherte ein Brunnen. Auf das
Rollen des Wagens unter dem hallenden Torwege kamen Diener mit
Lichtern herbei, uns aus dem Wagen zu helfen. Gleich darauf erschien
auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie
geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorsaal, in welchem die
Begrüßungen im allgemeinen wiederholt wurden und von wo aus man uns
unsere Zimmer anwies.

Das meinige war ein großes freundliches Gemach, in welchem bereits
auf dem Tische zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die
Tür hinter sich geschlossen hatte, meinen Hut auf den Tisch, und das
Nächste, was ich tat, war, daß ich mehrere Male schnell in dem Zimmer
auf und nieder ging, um die durch das Fahren ersteiften Glieder wieder
ein wenig einzurichten. Als dieses ziemlich gelungen war, trat ich an
eines der offenen Fenster, um herum zu schauen. Es war aber nicht viel
zu sehen. Die Nacht war schon zu weit vorgerückt und die Lichter im
Zimmer machten die Luft draußen noch finsterer. Ich sah nur so viel,
daß meine Fenster ins Freie gingen. Nach und nach begrenzten sich
vor meinen Augen die dunkeln Gestalten der am Fuße des Hügels
stehenden Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe,
wahrscheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu
unterscheiden als der glänzende Himmel darüber, der von unzähligen
Sternen, aber nicht von dem geringsten Stückchen Mond beleuchtet war.

Nach einer Zeit kam Gustav und holte mich zu dem Abendessen ab. Er
hatte eine große Freude, daß ich in dem Sternenhofe sei. Ich ordnete
aus meinem Reisesacke, der heraufgeschafft worden war, ein wenig meine
Kleider und folgte dann Gustav in das Speisezimmer. Dasselbe war fast
wie das in dem Rosenhause. Mathilde saß wie dort in einem Ehrenstuhle
oben an, ihr zur Rechten mein Gastfreund und Natalie, ihr zur Linken
ich, Eustach und Gustav. Auch hier besorgte eine Haushälterin und eine
Magd den Tisch. Der Hergang bei dem Speisen war der nehmliche wie an
jenen Abenden bei meinem Gastfreunde, an denen wir alle beisammen
gewesen waren.

Um von der Reise ausruhen zu können, trennte man sich bald und suchte
seine Zimmer.

Ich entschlief unter Unruhe, sank aber nach und nach in festeren
Schlummer und erwachte, da die Sonne schon aufgegangen war.

Jetzt war es Zeit, herum zu schauen.

Ich kleidete mich so schnell und so sorgfältig an, als ich konnte,
ging an ein Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein ganz gleicher,
sehr schön grüner Rasen, der durch keine Blumengebüsche oder
dergleichen unterbrochen war, sondern nur den weißen Sandweg enthielt,
breitete sich über die gedehnte Dachung des Hügels, auf der das
Gebäude stand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Gustav
herauf. Ich sah in die schönen jugendlichen Angesichter, sie aber
konnten mich nicht sehen, weil sie ihre Augen nicht erhoben. Sie
schienen in traulichem Gespräche begriffen zu sein, und bei ihrer
Annäherung - an dem Gange, an der Haltung, an den großen dunklen
Augen, an den Zügen der Angesichter - sah ich wieder recht deutlich,
daß sie Geschwister seien. Ich sah auf sie, so lange ich sie erblicken
konnte, bis sie endlich der dunkle Torweg aufgenommen hatte.

Jetzt war die Gegend sehr leer.

Ich blickte kaum auf sie.

Allgemach entwickelten sich aber wieder freundlich Felder, Wäldchen
und Wiesen im Gemisch, ich erblickte Meierhöfe rings herumgestreut,
hie und da erglänzte ein weißer Kirchturm in der Ferne und die Straße
zog einen lichten Streifen durch das Grün. Den Schluß machte das
Hochgebirge, so klar, daß man an dem untern Teile seiner Wand die
Talwindungen, an dem obern die Gestaltung der Kanten und Flächen und
die Schneetafeln wahrnehmen konnte.

Sehr groß und schön waren die Ahorne, die unten am Hügel standen,
deshalb mochten sie schon früher bei meinen Reisen durch diese Gegend
meine Aufmerksamkeit erregt haben. Von ihnen zogen sich Erlenreihen
fort, die den Lauf der Bäche anzeigten.

Das Haus mußte weitläufig sein; denn die Wand, in der sich meine
Fenster befanden und die ich, hinausgebeugt, übersehen konnte, war
sehr groß. Sie war glatt mit vorspringenden steinernen Fenstersimsen
und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der sie offenbar erst in
neuerer Zeit übertüncht worden war.

Hinter dem Hause mußte vielleicht ein Garten oder ein Wäldchen sein,
weil ich Vogelgesang herüber hörte. Auch war es mir zuweilen, als
vernähme ich das Rauschen des Hofbrunnens.

Der Tag war heiter.

Ich harrte nun der Dinge, die kommen sollten.


Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war zu derselben Zeit wie
im Rosenhause. Als ich in das Speisezimmer getreten war, sagte mir
Mathilde, daß es sehr lieb von mir sei, daß ich ihre Freunde und ihren
Sohn in den Sternenhof begleitet habe, sie werde sich bemühen, daß es
mir in demselben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof
anziehend mache, beistehen müsse.

Ich antwortete, daß ich mich auf die Reise in den Sternenhof sehr
gefreut habe und daß ich mich freue, in demselben zu sein. Von einer
Bedeutung sei es nicht, daß mir eine Rücksicht zu Teil werde, ich
bitte nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachsehe.

Nach mir trat Eustach ein. Mathilde begrüßte auch ihn noch einmal.

Gustav, der schon zugegen war, gesellte sich zu mir.

Die Frauen waren häuslich und schön, aber minder einfach als in dem
Rosenhause gekleidet. Meinen Gastfreund sah ich zum ersten Male in
ganz anderen Kleidern als auf seiner Besitzung und auf dem Besuche zu
Ingheim. Er war schwarz, mit einem Fracke, der einen etwas weiteren
und bequemeren Schnitt hatte als gewöhnlich, und sogar einen leichten
Biberhut trug er in der Hand.

Nach dem Frühmahle sagte Mathilde, sie wolle mir ihre Wohnung zeigen.
Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speisezimmer in einen
Vorsaal. Am Ende desselben wurden zwei Flügeltüren aufgetan, und ich
sah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Länge des Hauses
hinlaufen mußte. Als wir eingetreten waren, sah ich, daß in den
Zimmern alles mit der größten Reinheit, Schönheit und Zusammenstimmung
geordnet war. Die Türen standen offen, so daß man durch alle
Zimmer sehen konnte. Die Geräte waren passend, die Wände waren mit
zahlreichen Gemälden geziert, es standen Glaskästen mit Büchern, es
waren musikalische Geräte da, und auf Gestellen, die an den rechten
Orten angebracht waren, befanden sich Blumen. Durch die Fenster sah
die nähere Landschaft und die ferneren Gebirge herein.

Es zeigte sich, daß diese Zimmer ein schöner Spaziergang seien, der
unter dem Dache und zwischen den Wänden hinführte. Man konnte sie
entlang schreiten, von angenehmen Gegenständen umgeben sein und die
Kälte oder das Ungestüm des Wetters oder Winters nicht empfinden,
während man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbst im Sommer
konnte es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenstern gleichsam halb
im Freien und halb in der Kunst zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr
auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geräte besonders auf. Die
waren neu und nach sehr schönen Gedanken gebildet. Sie schickten sich
so in ihre Plätze, daß sie gewissermaßen nicht von Außen gekommen,
sondern zugleich mit diesen Räumen entstanden zu sein schienen. Es
waren an ihnen sehr viele Holzarten vermischt, das erkannte ich sehr
bald, es waren Holzarten, die man sonst nicht gerne zu Geräten nimmt,
aber sie schienen mir so zu stimmen, wie in der Natur die sehr
verschiedenen Geschöpfe stimmen.

Ich machte in dieser Hinsicht eine Bemerkung gegen meinen Gastfreund,
und er antwortete: »Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenstände, die wir
in unserem Schreinerhause neu gemacht haben, in meinem Hause vorhanden
seien, worauf ich geantwortet habe, daß nichts von Bedeutung in
demselben sei, daß sich aber einige gesammelt in einem anderen Orte
befinden, in den ich euch, wenn ihr Lust zu solchen Dingen hättet,
geleiten würde. Diese Zimmer hier sind der andere Ort, und ihr seht
die neuen Geräte, die in unserem Schreinerhause verfertigt worden
sind.«

»Es ist aber zu bewundern, wie sehr sie in ihren Abwechslungen und
Gestalten hieher passen«, sagte ich.

»Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zimmer Mathildens nach
und nach mit neuen Geräten zu bestellen«, erwiderte er, »so wurde die
ganze Reihe dieser Zimmer im Grund- und Aufrisse aufgenommen, die
Farben bestimmt, welche die Wände der einzelnen Zimmer haben sollten,
und diese Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur
Bestimmung der Größe, der Gestalt und der Farbe, mithin der Hölzer der
einzelnen Geräte geschritten. Die Farbezeichnungen derselben wurden
verfertigt und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. Die
Gestalten der Geräte sind nach der Art entworfen worden, die wir vom
Altertume lernten, wie ich euch einmal sagte, aber so, daß wir nicht
das Altertum geradezu nachahmten, sondern selbstständige Gegenstände
für die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an
vergangenen Zeiten. Wir sind nach und nach zu dieser Ansicht gekommen,
da wir sahen, daß die neuen Geräte nicht schön sind und daß die alten
in neue Räume zu wohnlicher Zusammenstimmung nicht paßten. Wir haben
uns selber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Versuchen,
Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie schön sie seien. In der
Kunst, wenn man bei so kleinen Dingen von Kunst reden kann, ist eben
so wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plötzlich etwas so
Neues erfinden wollte, daß weder den Teilen noch der Gestaltung nach
ein Ähnliches da gewesen ist, der würde so töricht sein wie der,
der fordern würde, daß aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich
plötzlich neue, nicht dagewesene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung
die Allmählichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die
der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit, oft
Stillstand, oft Rückschritt erscheint. Was die Hölzer anbelangt, so
sind da fast alle und die schönsten Blätter verwendet worden, die wir
aus den Knollen der Erlen geschnitten haben, die in unserer Sumpfwiese
gewachsen sind. Ihr könnt sie dann betrachten. Wir haben uns aber auch
bemüht, Hölzer aus unserer ganzen Gegend zu sammeln, die uns schön
schienen, und haben nach und nach mehr zusammengebracht, als wir
anfänglich glaubten. Da ist der schneeige, glatte Bergahorn, der
Ringelahorn, die Blätter der Knollen von dunkelm Ahorn - alles aus den
Alizgründen -, dann die Birke von den Wänden und Klippen der Aliz,
der Wachholder von der dürren, schiefen Haidefläche, die Esche, die
Eberesche, die Eibe, die Ulme, selbst Knorren von der Tanne, der
Haselstrauch, der Kreuzdorn, die Schlehe und viele andere Gesträuche,
die an Festigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unseren Gärten
der Wallnußbaum, die Pflaume, der Pfirsich, der Birnbaum, die Rose.
Eustach hat die Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vorgleichung
zusammengestellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe
zeigen und die vielen Arten noch angeben, die ich hier nicht genannt
habe. In der Holzsammlung müssen sie ja auch vorhanden sein.«

Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlenblätter, von denen mir
mein Gastfreund im vorigen Jahre gesagt hatte, daß sie an einem
anderen Orte verwendet worden seien, waren in der Tat außerordentlich,
so feurig und fast erhaben, auch ungemein groß; alles andere Holz,
wie zart, wie schön in der Zusammenstellung, daß man gar nicht ahnen
sollte, daß dies in unseren Wäldern ist. Und die Gestalten der Geräte,
wie leicht, wie fein, wie anschmiegend, sie waren ganz anders als
die jetzt verfertigt werden, und waren doch neu und für unsere Zeit
passend. Ich erkannte, welch ein Wert in den Zeichnungen liege, die
Eustach habe. Ich dachte an meinen Vater, der solche Dinge so liebt.
Ach, wenn er nur hier wäre, daß er sie sehen könnte! Mir war, als
gingen mir neue Kenntnisse auf. Ich wagte einen Blick auf Natalie, ich
wendete ihn aber schnell wieder weg; sie stand so in Gedanken, daß ich
glaube, daß sie errötete, als ich sie anblickte.

Mathilde sagte zu Eustach: »Es ist im Verlaufe der Zeit, ohne daß eine
absichtliche Störung vorgekommen wäre, manches hier anders geworden
und nicht mehr so schön als anfangs. Wir werden es einmal, wenn ihr
Zeit habt und herüber kommen wollt, ansehen, ihr könnt die Fehler
erkennen und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben.«

Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete Tür gelangten wir in
Zimmer, welche in einer anderen Richtung des Hauses lagen. Die
durchwanderten hatten nach Süd gesehen, diese sahen nach West. Es
waren ein großer Saal und zwei Seitengemächer. Waren die früheren
Zimmer lieb und wohnlich gewesen, so waren diese wahrhaft prachtvoll.
Der Saal war mit Marmor gepflastert, die Zimmer hatten altertümliche
Wandbekleidung, altertümliche Fenstervorhänge und altertümliche
Geräte, der Fußboden des Saales enthielt die schönsten, seltensten und
zahlreichsten Gattungen unsers Marmors, nach einer Zeichnung eingelegt
und so geglättet, daß er alle Dinge spiegelte. Es war der ernsteste
und feurigste Teppich. Wir mußten hier auch Filzschuhe anlegen. Auf
diesem Spiegelboden standen die schönsten und wohlerhaltensten alten
Schreine und andere Einrichtungsstücke. Es waren hier die größten
versammelt. In den zwei anstoßenden Gemächern standen auf feurig
farbigen Holzteppichen die kleineren, zarteren und feineren. Waren
gleich die altertümlichen Geräte nicht schöner als die bei meinem
Gastfreunde - ich glaube, schönere wird es kaum geben -, so zeigte
sich hier eine Zusammenstimmung, als müßten die, welche diese Dinge
ursprünglich hatten herrichten lassen, in ihren einstigen Trachten
bei den Türen hereingehen. Es ergriff einen ein Gefühl eines
Bedeutungsvollen.

»Die Marmore«, sagte mein Gastfreund, »sind aller Orten erworben,
geschliffen, geglättet und nach einer altertümlichen Zeichnung vieler
Kirchenfenster eingesetzt worden.«

»Aber daß ihr die Geräte so zusammen gefunden habt, daß sie wie ein
Einziges stimmen, ist zu verwundern«, sagte ich.

»Also empfindet ihr, daß sie stimmen?« erwiderte er. »Seht, das ist
mir lieb, daß ihr das sagt. Ihr seid ein Beobachter, der nicht von der
Sucht nach Altem befangen ist, wie uns unsere Gegner vorwerfen. Ihr
empfangt also das Gefühl von den Gegenständen und tragt es nicht in
dieselben hinein, wie auch unsere Gegner von uns sagen. Die Sache aber
ist nur so: als man die Nichtigkeit und Leere der letztvergangenen
Zeiten erkannte und wieder auf das Alte zurück wies und es nicht
mehr als Plunder und Trödel ansah, sondern Schönes darin suchte: da
geschahen freilich törichte Dinge. Man sammelte wieder Altes und nur
Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenständen kam die neueste
mit alten Gegenständen. Man raffte Schreine, Betschemel, Tische und
dergleichen zusammen, weil sie alt waren, nicht weil sie schön waren,
und stellte sie auf. Da standen nun Dinge beisammen, die in ihren
Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein
Widerwärtiges herauskam und daß die Feinde des Alten, wenn sie Gefühl
hatten, sich abwenden mußten. Nichts aber kann so wenig passen, als
alte Dinge von sehr verschiedenen Zeiten. Die Vorältern legten so sehr
einen eigentümlichen Geist in ihre Dinge - es war der Geist ihres
Gemütes und ihres allgemeinen Gefühlslebens -, daß sie diesem Geiste
sogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen, Kleider und dergleichen
in neue Geräte zweckmäßiger unter als in alte. Man kann daher alte
Geräte von ziemlich gleicher Zeit, aber verschiedenem Zwecke ohne
große Störung des Geistes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen
wohnt, zusammenstellen, während von unseren Geräten, die keinen Geist,
aber einen Zweck haben, sogleich ein Widersinniges ausgeht, wenn man
Dinge verschiedenen Gebrauches in dasselbe Zimmer tut, wie etwa den
Schreibtisch, den Waschtisch, den Bücherschrein und das Bett. Die
größte Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräte aus
derselben und guten Zeit, die also denselben Geist haben, und auch
Geräte des nehmlichen Zweckes, in ein Zimmer bringt. Da spricht nun in
der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unseren neuen Dingen.«

»Und das scheint mir hier der Fall zu sein«, sagte ich.

»Es ist nicht Alles alt«, erwiderte er. »Viele Dinge sind so
unwiederbringlich verloren gegangen, daß es fast unmöglich ist, eine
ganze Wohnung mit Gegenständen aus der selben Zeit einzurichten, daß
kein notwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lieber solche Stücke im
alten Sinn neu gemacht, als alte Stücke von einer ganz anderen Zeit
zugemischt. Damit aber Niemand irre geführt werde, ist an jedem
solchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt, auf welchem die
Tatsache in Buchstaben eingegraben ist.«

Er zeigte mir nun jene Gegenstände, welche in dem Schreinerhause als
Ergänzung hinzugemacht worden sind.

Trotzdem war bei mir der Eindruck immer derselbe, und ich hatte
beständig und beständig den Gedanken an meinen Vater in dem Haupte.
Man führte mich auch zu den alten, schweren, mit Gold und Silber
durchwirkten Fenstervorhängen und zeigte mir dieselben als echt, so
auch die ledernen, mit Farben und Metallverzierungen versehenen Belege
der Zimmerwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen und ihm
Nahrung geben müssen.

Als ich diese ernsten und feierlichen Gemächer genugsam betrachtet
hatte, öffnete Mathilde das schwere Schloß der Ausgangstür, und wir
kamen in mehrere unbedeutende Räume, die nach Norden sahen, worunter
auch der allgemeine Eintrittssaal und das Speisezimmer waren. Von da
gelangten wir in den Flügel, dessen Fenster die Morgensonne hatten.
Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein
größeres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geräten
eingerichtet und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die
Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spielereien sah, mit denen
gerne, zwar nicht bei meinen Eltern, aber an anderen Orten unserer
Stadt, die Zimmer der Frauen angefüllt sind. In jeder der zwei
Wohnungen sah ich eine der Zithern, die in dem Rosenhause gewesen
waren. Bei Natalien herrschten besonders Blumen vor. Es standen
Gestelle herum, auf welche sie von dem Garten herauf gebracht worden
waren, um hier zu verblühen. Auch standen größere Pflanzen, namentlich
solche, welche schöne Blätter oder einen schönen Bau hatten, in einem
Halbkreise und in Gruppen auf dem Fußboden.

In einem Vorsaale, der den Eintritt zu diesen Wohnungen bildete,
befand sich ein Clavier.

Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie
früher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitläufigen
alten Schlössern auszusehen pflegen. Sie waren mit Geräten vieler
Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener
Geschlechter, mit einigen Waffen und mit Bildern, namentlich
Bildnissen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefüllt.
Namentlich waren an den Wänden der Gänge Abbildungen aufgehängt
von großen Fischen, die man einmal gefangen, nebst beigefügter
Beschreibung, von Hirschen, die man geschossen, von Federwild, von
Wildschweinen und dergleichen. Auch Lieblingshunde fehlten nicht. In
diesem Stockwerke waren nach Süden die Gastzimmer, und der Flügel
derselben war geordnet worden. Hier befand sich auch mein Zimmer nebst
dem Gustavs.

Nach der Besichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite
Haupttreppe aus rotem Marmor führte in den Hof hinab. Derselbe zeigte,
wie groß das Gebäude sei. Er war von vier ganz gleichen, langen
Flügeln umschlossen. In seiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor,
in welches sich aus einer Verschlingung von Wassergöttinnen vier
Strahlen ergossen. Um das Becken standen vier Ahorne, welche gewiß
nicht kleiner waren als die, welche den Schloßhügel säumten. Auf
dem Sandplatze unter den Ahornen waren Ruhebänke, ebenfalls aus
grauem Marmor. Von diesem Sandplatze liefen Sandwege wie Strahlen
auseinander. Der übrige Raum war gleichförmiges Rasen, nur daß an den
Mauern des Hauses eine Pflasterung von glatten Steinen herum führte.

Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Tore hinaus. Ich wendete mich,
da wir draußen waren, unwillkürlich um, um das Gebäude zu betrachten.
Über dem Tore war ein ziemlich umfangreiches steinernes Schild
mit sieben Sternen. Sonst sah ich nichts, als was ich bei meinem
Morgenausblicke aus dem Fenster schon gesehen hatte. Wir gingen auf
einem Sandwege des grünen Rasens, wir umgingen das Haus und gelangten
hinter demselben in den Garten. Hier sah ich, was ich mir schon
früher gedacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein Schloß
nennen mußte, nur aus den vier großen Flügeln bestehe, welche ein
vollkommenes Viereck bildeten. Die Wirtschaftsgebäude standen ziemlich
weit entfernt in dem Tale.

Der Garten begann mit Blumen, Obst und Gemüse, zeigte aber, daß er in
der Entfernung mit etwas endigen müsse, das wie ein Laubwald aussah.
Alles war rein und schön gehalten. Der Garten war auch hier mit
gefiederten Bewohnern bevölkert, und man hatte ähnliche Vorrichtungen
wie im Asperhofe. Die Bäume standen daher auch vortrefflich und
gesund. Rosen zeigten sich ebenfalls viele, nur nicht in so besonderen
Gruppierungen wie bei meinem Gastfreunde. Die Gewächshäuser des
Gartens waren ausgedehnt und weit größer und sorgfältiger gepflegt
als auf dem Asperhofe. Der Gärtner, ein junger und, wie es schien,
unterrichteter Mann, empfing uns mit Höflichkeit und Ehrfurcht am
Eingange derselben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit seine Schätze,
als ich mit der Rücksicht auf meine Begleiter, denen nichts neu
war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden
Weltteilen da, sowohl im warmen als im kalten Hause. Besonders erfreut
war er über seine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Platz
in einem Gewächshause einnahmen.

Nicht weit hinter dem Gewächshause stand eine Gruppe von Linden,
welche beinahe so schön und so groß waren wie die in dem Garten des
Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache so rein
gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, liefen auf demselben
Finken, Ammern, Schwarzkehlchen und andere Vögel so traulich hin, wie
auf dem Sande des Rosenhauses. Daß Bänke unter den Linden standen, ist
natürlich. Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit. Wo wäre eine Linde
in deutschen Landen - und gewiß ist es in andern auch so - unter der
nicht eine Bank stände oder auf der nicht ein Bild hinge oder neben
welcher sich nicht eine Kapelle befände. Die Schönheit ihres Baues,
das Überdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in
ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden.

»Das ist eigentlich der schönste Platz in dem Sternenhofe«, sagte
Mathilde, »und jeder, der den Garten besucht, muß hier ein wenig
ruhen, daher sollt ihr auch so tun.«

Mit diesen Worten wies sie auf die Bänke, die fast in einem Bogen
unter den Stämmen der Linden standen und hinter denen sich eine Wand
grünen Gebüsches aufbaute. Wir setzten uns nieder. Das Summen, wie es
jedes Mal in diesen Bäumen ist, war gleichmäßig über unserm Haupte,
das stumme Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor unsern Augen
und ihr gelegentlicher Aufflug in die Bäume tönte leicht in unsere
Ohren.

Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Unterbrechungen ein
leises Rauschen hörbar sei, gleichsam als würde es jetzt von einem
leichten Lüftchen hergetragen, jetzt nicht. Ich äußerte mich darüber.

»Ihr habt recht gehört«, sagte Mathilde, »wir werden die Sache gleich
sehen.«

Wir erhoben uns und gingen auf einem schmalen Sandpfade durch die
Gebüsche, die sich in geringer Entfernung hinter den Linden befanden.
Als wir etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren, öffnete
sich das Dickicht und ein freier Platz empfing uns, der rückwärts mit
dichtem Grün geschlossen war. Das Grün bestand aus Epheu, welcher
eine Mauer von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden
riesenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine große
Öffnung, oben mit einem Bogen begrenzt, gleichsam wie eine große
Nische oder wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieser Wölbung,
die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte eine Gestalt von
schneeweißem Marmor - ich habe nie ein so schimmerndes und fast
durchsichtiges Weiß des Marmors gesehen, das noch besonders merkwürdig
wurde durch das umgebende Grün. Die Gestalt war die eines Mädchens,
aber weit über die gewöhnliche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand
und neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie stützte das Haupt mit
der einen Hand, den anderen Arm hatte sie um ein Gefäß geschlungen,
aus welchem Wasser in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem
Becken fiel das Wasser in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von
welcher es als kleines Bächlein in das Gebüsch lief.

Wir standen eine Weile, betrachteten die Gestalt und redeten über sie.
Eustach und ich kosteten auch mittelst einer alabasternen Schale, die
in einer Vertiefung des Epheus stand, von dem frischen Wasser, welches
sich aus dem Gefäße ergoß.


Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über eine Steintreppe empor
und erstiegen einen kleinen Hügel, auf welchem sich wieder Sitze
befanden, die von verschiedenen Gebüschen beschattet waren. Gegen das
Haus zu aber gewährten sie die Aussicht. Wir mußten uns hier wieder
ein wenig setzen. Zwischen den Eichen, gleichsam wie in einem grünen,
knorrigen Rahmen erschien das Haus. Mit seinem hohen, steilen Dache
von altertümlichen Ziegeln und mit seinen breiten und hochgeführten
Rauchfängen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den
Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch
trug, aber schon die weichen Locken der Perücke auf ihn herabfallen
ließ. Die Schwere einer solchen Erscheinung sprach sich auch in dem
ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die
Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln
Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich
weiter links und störten die Aussicht nicht.

»Man hat sehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieses Schlosses
mit der weißgrauen Tünche überzogen«, sagte mein Gastfreund,
»wahrscheinlich um es freundlicher zu machen, welche Absicht man sehr
gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man
die großen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet sind, nicht
bestrichen hätte, so würde das natürliche Grau derselben mit
dem Rostbraun des Daches und dem Grün der Bäume einen sehr
zusammenstimmenden Eindruck gemacht haben. Jetzt aber steht das Schloß
da wie eine alte Frau, die weiß gekleidet ist. Ich würde den Versuch
machen, wenn das Schloß mein Eigentum wäre, ob man nicht mit Wasser
und Bürsten und zuletzt auf trockenem Wege mit einem feinen Meißel
die Tünche beseitigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf
verwendet, würde jährlich die Aussicht, des widrigen Anblickes
erledigt zu werden, angenehm vermehren.«

»Wir können ja den Versuch nahe an der Erde machen und aus der Arbeit
einen ungefähren Kostenanschlag verfertigen«, sagte Mathilde; »denn
ich gestehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieser Farbe nicht
erfreut, besonders, da die Außenseite der Mauern ganz von Steinen ist,
die mit feinen Fugen an einander stoßen, und man also bei Erbauung des
Hauses auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet hat. Jetzt
ist das Schloß von Innen viel natürlicher und, wenn auch nicht an eine
Kunstzeit erinnernd, doch in seiner Art zusammenstimmender als von
Außen.«

»Das Grau der Mauer mit den grauen Steinsimsen der Fenster, die nicht
ungeschickt gegliedert sind, mit der Höhe und Breite der Fenster,
deren Verhältnis zu den festen Zwischenräumen ein richtiges ist,
würde, glaube ich, dem Hause ein schöneres Ansehen geben, als man
jetzt ahnt«, sagte Eustach.

Mir fielen bei dieser Äußerung die Worte ein, welche mein Gastfreund
einmal zu mir gesagt hatte, daß alte Geräte in neuen Häusern nicht
gut stehen. Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt
eingerichteten Gemächern dieses Schlosses die hohen Fenster, die
breiten Räume zwischen ihnen und die eigentümlich gestalteten
Zimmerdecken den Geräten sehr zum Vorteile gereichten, was in Zimmern
der neuen Art gewiß nicht der Fall gewesen wäre.


Als wir so sprachen, kamen Natalie und Gustav, die bei der Nymphe des
Brunnens zurückgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die
Angesichter waren sanft gerötet, die dunkeln Augen blickten heiter in
das Freie, und die beiden jugendlichen Gestalten stellten sich mit
einer anmutigen Bewegung hinter uns.

Von diesem Hügel der Eichenaussicht gingen wir weiter in den Garten
zurück und gelangten endlich in das Gemisch von Ahornen, Buchen,
Eichen, Tannen und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den Garten
schloß. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenäußerungen
und das Geschmetter der Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir
besuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um diese
Abteilung noch angenehmer zu machen, und Gustav zeigte mir Bänke,
Tischchen und andere Plätze, wo er mit Natalien gesessen war, wo
sie gelernt, wo sie als Kinder gespielt hatten. Wir gingen an den
wunderbar von Licht und Schatten gesprenkelten Stämmen dahin, wir
gingen über die dunkeln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir
gingen an reichen grünenden Büschen, an Ruhebänken und sogar an einer
Quelle vorbei und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte,
an einer Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der
entgegengesetzten Seite von der lag, bei welcher wir das Wäldchen
betreten hatten.

Wir ließen jetzt die zwei großen Eichen links, ebenso die Linden und
gingen auf einem anderen Wege in das Schloß zurück.

Das Mittagessen wurde an dem äußerst schönen Grün des Hügels
unmittelbar vor dem Hause unter einem Dache von Linnen eingenommen.

Am Nachmittage besprachen sich Mathilde und Eustach vorläufig über
das, was in Hinsicht der Beschädigungen geschehen könnte, welche die
neuen Geräte in den Südzimmern sowie die Fußböden und zum Teile auch
die alten Geräte in den Westzimmern in der Zeit erlitten hatten. Gegen
Abend wurden der Meierhof und die Wirtschaftsgebäude besucht.

So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Anteil des
Hauswesens sich bekümmert, alles, was dahin einschlug, besehen und
Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so tat es mein Gastfreund
in dem Sternenhofe mit allem, was auf die äußere Verwaltung des
Besitzes Bezug hatte, worin er mehr Erfahrung zu haben schien als
Mathilde. Er ging in alle Räume, besah die Tiere und ihre Verpflegung
und besah die Anstalten zur Bewahrung oder Umgestaltung der
Wirtschaftserzeugnisse. War mir dieses Verhältnis schon in dem
Rosenhause ersichtlich gewesen, so war es hier noch mehr der Fall. In
den Handlungen meines Gastfreundes und in dem kleinen Teile, den ich
von seinen Gesprächen mit Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte
er sich als ein Mann, der mit der Bewirtschaftung eines großen
Besitzes vertraut ist und die Pflichten, die ihm in dieser Hinsicht
zufallen, mit Eifer, mit Umsicht und mit einem Blicke über das Ganze
erfüllt, ohne eben deshalb die Grenzen zu berühren, innerhalb welcher
die Geschäfte einer Frau liegen. Das geschah so natürlich, als müßte
es so sein und als wäre es nicht anders möglich.

Von dem Meierhofe gingen wir in die Wiesen und auf die Felder, welche
zu der Besitzung gehörten. Wir gingen endlich über die Grenzen des
Besitztumes hinaus, gingen über den Boden anderer Menschen, die wir
zum Teile arbeitend auf den Feldern trafen und mit denen wir redeten.
Wir gelangten endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umsicht
gewährte. Wir blieben hier stehen. Das erste, auf das wir blickten,
war das Schloß mit seinem grünen Hügel und im Schoße seiner
umgürtenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir
auf andere Punkte über.

Man zeigte und nannte mir die einzelnen Häuser, die zerstreut in der
Landschaft lagen und durch die Linien von Obstbäumen, die hier überall
durch das Land gingen, wie durch grüne Ketten zusammenhingen. Dann kam
man auf die entfernteren Ortschaften, deren Türme hier zu erblicken
waren. In diesem Stoffe konnte ich schon mehr mitreden, da mir die
meisten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unsern Augen in die
Gebirge gelangten, war ich fast der Bewandertste. Ich geriet nach und
nach in das Reden, da man mich um verschiedene Punkte fragte, und sah,
daß ich Antwort zu geben wußte. Ich nannte die Berge, deren Spitzen
erkennbar hervortraten, ich nannte auch Teile von ihnen, ich
bezeichnete die Täler, deren Windungen zu verfolgen waren, zeigte die
Schneefelder, bemerkte die Einsattlungen, durch welche Berge oder
ganze Gebirgszüge zusammenhingen oder getrennt waren, und suchte die
Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortschaften
lagen oder bekannte Menschenstämme wohnten. Natalie stand neben mir,
hörte sehr aufmerksam zu und fragte sogar um Einiges.

Als die Sonne untergegangen war und die sanfte Glut von den Gipfeln
der Hochgebirge sich verlor, gingen wir in das Schloß zurück.

Das Abendessen wurde in dem Speisezimmer eingenommen.

So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren,
mitunter belehrenden Gesprächen hin.

Endlich rüsteten wir uns zur Abreise. Am frühesten Morgen war der
Wagen bespannt. Mathilde und Natalie waren aufgestanden, um uns
Lebewohl zu sagen. Mein Gastfreund nahm Abschied von Mathilde und
Natalie, Eustach und Gustav verabschiedeten sich, und ich glaubte auch
einige Worte des Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten zu
müssen. Sie gab eine freundliche Antwort und lud mich ein, bald wieder
zu kommen. Selbst zu Natalie sagte ich ein Wort des Abschiedes, das
sie leise erwiderte.

Wie sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten
Anblicke auf den Gedanken gekommen war, daß der Mensch doch der
höchste Gegenstand für die Zeichnungskunst sei, so süß gehen ihre
reinen Augen und so lieb und hold gehen ihre Züge in die Seele des
Betrachters.

Wir stiegen in den Wagen, fuhren den grünen Rasenhügel hinab, wendeten
unsern Weg gegen Norden und kamen spät in der Nacht im Rosenhause an.

Mein Bleiben war nun in diesem Hause nicht mehr lange; denn ich hatte
keine Zeit mehr zu verlieren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete
die Kisten und Koffer, welchen Weg sie zu nehmen hätten, besuchte
alle, von denen ich glaubte, Abschied nehmen zu müssen, dankte
meinem Gastfreunde für alle Güte und Freundlichkeit, leistete das
Versprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über den
Rosenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit geschah, in welcher Gustav
frei war, begleiteten er und Eustach mich eine Stunde Weges.



Die Erweiterung

Ich ging an den Ort, wo ich meine Arbeiten abgebrochen hatte. Die
Leute, welche von meiner Absicht, wieder zu kommen, unterrichtet
waren, hatten mich schon lange erwartet. Der alte Kaspar, welcher mein
treuester Begleiter auf meinen Gebirgswanderungen war und meistens in
einem Ledersacke die wenigen Lebensmittel trug, welche wir für einen
Tag brauchten, hatte schon mehrere Male in dem Ahornwirtshause um mich
gefragt und war gewöhnlich, wie mir die Wirtin sagte, ehe er eintrat,
ein wenig auf der Gasse stehen geblieben und hatte auf die vielen
Fenster, welche von der hölzernen Zimmerung des Hauses auf die Ahorne
hinausschauten, empor geblickt, um zu sehen, ob nicht aus einem
derselben mein Haupt hervorrage. Jetzt saß er wieder bei mir an dem
langen Eichtentische unter den grünen Bäumen, und die andern, denen er
Botschaft getan hatte, fanden sich ein. Ich war sehr erfreut und es
rührte mein Herz, als ich sah, daß diese Leute mit Vergnügen mein
Wiederkommen ansahen und sich schon auf die Fortsetzung der Arbeit
freuten.

Ich ging sehr rüstig daran, gleichsam als ob mich mein Gewissen
drängte, das, was ich durch die längere Abwesenheit versäumt hatte,
einzubringen. Ich arbeitete fleißiger und tätiger als in allen
früheren Zeiten, wir durchforschten die Bergwände längs ihrer
Einlagerungen in die Talsohlen und in ihren verschiedenen Höhepunkten,
die uns zugänglich waren oder die wir uns durch unsere Hämmer und
Meißel zugänglich machten. Wir gingen die Täler entlang und spähten
nach Spuren ihrer Zusammensetzungen, und wir begleiteten die Wasser,
die in den Tiefen gingen, und untersuchten die Gebilde, welche von
ihnen aus entlegenen Stellen hergetragen und immer weiter und weiter
geschoben wurden. Der Hauptsammelplatz für uns blieb das Ahornhaus,
und wenn wir auch oft länger von demselben abwesend waren und in
anderen Gebirgswirtshäusern oder bei Holzknechten oder auf einer Alpe
oder gar im Freien übernachteten, so kamen wir in Zwischenräumen
doch immer wieder in das Ahornhaus zurück, wir wurden dort als
Eingebürgerte betrachtet, meine Leute fanden ihre Schlafstellen im
Heu, ich hatte mein beständiges wohleingerichtetes Zimmer und hatte
ein Gelaß, in welches ich meine gesammelten Gegenstände konnte bringen
lassen.

Oft, wenn ich von dem Arbeiten ermüdet war oder wenn ich glaubte,
in dem Einsammeln meiner Gegenstände genug getan zu haben, saß
ich auf der Spitze eines Felsens und schaute sehnsüchtig in die
Landschaftsgebilde, welche mich umgaben, oder blickte in einen der
Seen nieder, wie sie unser Gebirge mehrere hat, oder betrachtete die
dunkle Tiefe einer Schlucht, oder suchte mir in den Moränen eines
Gletschers einen Steinblock aus und saß in der Einsamkeit und schaute
auf die blau oder grüne oder schillernde Farbe des Eises. Wenn
ich wieder talwärts kam und unter meinen Leuten war, die sich
zusammenfanden, war es mir, als sei mir alles wieder klarer und
natürlicher.

Von einem Jägersmanne, welcher aber mehr ein Herumstreicher war, als
daß er an einem Platze durch lange Zeit als ein mit dem Bezirke und
mit dem Wildstande vertrauter Jäger gedient hätte, ließ ich mir eine
Zither über die Gebirge herüber bringen. Er kannte, eben weil er
nirgends lange blieb und an allen Orten schon gedient hatte, das ganze
Gebirge genau und wußte, wo die besten und schönsten Zithern gemacht
würden. Er konnte dies darum auch am besten beurteilen, weil er
der fertigste und berühmteste Zitherspieler war, den es im Gebirge
gab. Er brachte mir eine sehr schöne Zither, deren Griffbrett von
rabenschwarzem Holze war, in welchem sich aus Perlenmutter und
Elfenbein eingelegte Verzierungen befanden, und auf welchem die Stege
von reinem glänzenden Silber gemacht waren. Die Bretter, sagte mein
Bote, könnten von keiner singreicheren Tanne sein; sie ist von dem
Meister gesucht und in guten Zeichen und Jahren eingebracht worden.
Die Füßlein der Zither waren elfenbeinerne Kugeln. Und in der Tat,
wenn der Jägersmann auf ihr spielte, so meinte ich, nie einen süßeren
Ton auf einem menschlichen Geräte gehört zu haben. Selbst was Mathilde
und Natalie in dem Rosenhause gespielt hatten, war nicht so gewesen;
ich hatte weit und breit nichts gehört, was an die Handhabung der
Zither durch diesen Jägersmann erinnerte. Ich ließ ihn gerne in meiner
Gegenwart auf meiner Zither spielen, weil ihm keine so klang wie diese
und weil er sagte, sie müsse eingespielt werden.

Er wurde mein Lehrer im Zitherspiele, und ich nahm mir vor, da ich
sah, daß er meine Zither allen anderen vorzog, ihm, wenn ich Ursache
hätte, mit unseren Lehrstunden zufrieden zu sein, eine gleiche zu
kaufen.

Er hatte nehmlich erzählt, daß der Meister mehrere aus dem gleichen
Holze wie die meinige und in gleicher Art gefertigt habe. Da sie
nun ziemlich teuer gewesen war, so schloß ich, daß der Meister die
gleichen nicht so schnell werde verkaufen können und daß noch eine
werde übrig sein, wenn ich meinem Lehrer zu dem gewöhnlichen Lohne,
den ich ihm in Geld zugedacht habe, noch dieses Geschenk würde
hinzufügen wollen.


Ich begann in demselben Sommer auch, mir eine Sammlung von Marmoren
anzulegen. Die Stücke, die ich gelegentlich fand oder die ich mir
erwarb, wurden zu kleinen Körpern geschliffen, gleichsam dicken
Tafeln, die auf ihren Flächen die Art des Marmors zeigten. Wenn ich
größere Stücke fand, so bestimmte ich sie außer dem, daß ich die
gleiche Art in Tafeln in die Sammlung tat, zu allerlei Gegenständen,
zu kleinen Dingen des Gebrauches auf Schreibtischen, Schreinen,
Waschtischen oder zu Teilen von Geräten oder zu Geräten selbst. Ich
hoffte, meinem Vater und meiner Mutter eine große Freude zu machen,
wenn ich nach und nach als Nebengewinn meiner Arbeiten eine Zierde in
ihr Haus oder gar in den Garten brächte; denn ich sann auch darauf,
aus einem Blocke, wenn ich einen fände, der groß genug wäre, ein
Wasserbecken machen zu lassen.

Im Lauterthale fand ich einmal Roland, den Bruder Eustachs. Er hatte
in einer alten Kirche gezeichnet und war jetzt damit beschäftigt, im
Gasthause des Lauterthales diese Zeichnungen und einige andere, welche
er in der Nähe entworfen hatte, mehr in das Reine zu bringen. Es
befand sich nehmlich nicht weit von Lauterthal ein einsamer Hof
oder eigentlich mehr ein festes, steinernes, schloßartiges Haus,
welches einmal einer Familie gehört hatte, die durch Handel mit
Gebirgserzeugnissen und durch immer ausgedehnteren Verkehr in viele
Gegenden der Erde wohlhabend und durch Entartung ihrer Nachkommen,
durch den Leichtsinn derselben und durch Verschwendung wieder arm
geworden war. Einer dieses Geschlechtes hatte das große steinerne Haus
gebaut. Es gehörte jetzt einem fremden Herrn aus der Stadt, welcher
es seiner Lage und seiner Seltenheiten willen gekauft hatte und
es zuweilen besuchte. In dem Hause waren schöne Bauwerke, schöne
Steinarbeiten und schöne Arbeiten aus Holz, teils in Zimmerdecken,
Türen und Fußböden, teils in Geräten. Die Holzarbeit mußte einmal im
Gebirge viel blühender gewesen sein als jetzt. Von diesen Gegenständen
durfte nichts aus dem Hause gebracht werden, auch wurde von ihnen
nichts verkauft. Roland hatte die Erlaubnis erhalten, zu zeichnen, was
ihm als zeichnungswürdig erscheinen würde. Dieses Zweckes halber hielt
er sich im Lanterthalwirtshause auf. Ich besuchte mit ihm öfter das
Haus, und wir gerieten in mannigfache Gespräche, namentlich, wenn
wir abends, nachdem wir beide unser Tagewerk getan hatten, an dem
Wirtstische in der großen Stube zusammen kamen. Ich fand in ihm einen
sehr feurigen Mann von starken Entschlüssen und von heftigem Begehren,
sei es, daß ein Gegenstand der Kunst sein Herz erfüllte oder daß er
sonst etwas in den Bereich seines Wesens zu ziehen strebte. Er verließ
diese Stätte früher als ich.

Ehe mich meine Geschäfte aus der Gegend führten, fand ich noch etwas,
das mich meines Vaters willen sehr freute. Kaspar hatte öfters meinen
und Rolands Gesprächen zugehört und mitunter sogar in die Zeichnungen
geblickt. Einmal sagte er mir, daß, wenn ich an alten Dingen so ein
Vergnügen hätte, er mir etwas zeigen könne, das sehr alt und sehr
merkwürdig wäre.

Es gehöre einem Holzknechte, der ein Haus, einen Garten und
ein kleines Feldwesen habe, das von seinem Weibe und seinen
heranwachsenden Kindern besorgt werde. Wir gingen einmal auf meine
Anregung in das Haus hinauf, das jenseits eines Waldarmes mitten in
einer trockenen Wiese nicht weit von kleinen Feldern und hart an einem
großen, vereinzelten Steinblocke lag, wie sie sich losgerissen oft im
Innern von fruchtbaren Gründen befinden. Das alte Werk, welches ich
hier traf, war die Vertäfelung von zwei Fensterpfeilern, ungefähr
halbmanneshoch. Es war offenbar der Rest einer viel größeren
Vertäfelung, welche in der angegebenen Höhe auf dem Fußboden längs der
ganzen Wände eines Zimmers herum gelaufen war. Hier bestanden nur mehr
die Verkleidungen von zwei Fensterpfeilern; aber sie waren vollkommen
ganz. Halberhabne Gestalten von Engeln und Knaben, mit Laubwerk
umgeben, standen auf einem Sockel und trugen zarte Simse. Der Besitzer
des Häuschens hatte die zwei Verkleidungen in seiner Prunkstube so
aufgestellt, daß sie mit der unverzierten Höhlung gegen die Stube
schauten. In diese Höhlung hatte er geschnitzte und bemalte
Heiligenbilder aus neuerer Zeit gestellt. Vermutlich war das Werk
einmal in dem steinernen Hause gewesen und war dort weggekommen, da
etwa Nachfolger Veränderungen machten und Gegenstände verschleuderten.
Der Besitzer des Wiesenhauses sagte uns, daß sein Großvater die
Dinge in einer Versteigerung der Hagermühle gekauft habe, die wegen
Verschwendung des Müllers war eingeleitet worden. Meine Nachfragen um
die Ergänzungen zu diesen Verkleidungen waren vergeblich, und durch
Vermittlung Kaspars erkaufte ich von dem Besitzer die übergebliebenen
Reste. Ich ließ Kisten machen, legte die gefugten Teile auseinander,
packte sie selber ein und sendete sie unterdessen in das Ahornhaus zu
meinen anderen Dingen.


Ich blieb wirklich in jenem Herbste sehr lange im Gebirge. Es lag
nicht nur der Schnee schon auf den Bergen, sondern er deckte auch
bereits das ganze Land, und man fuhr schon in Schlitten statt in
Wägen, als ich von dem Ahornhause Abschied nahm. Ich hatte alle meine
Sachen gepackt und hatte sie voraus gesendet, weil ich im künftigen
Jahre nicht mehr in diesem freundlichen Hause, sondern irgend wo
anders meinen Aufenthalt würde aufschlagen müssen. Ich sagte allen
meinen Leuten Lebewohl und ging auf der glattgefrorenen Bahn neben dem
rauschenden Flusse, der schon Stücke Ufereis ansetzte, in die ebneren
Länder hinaus. Mein Weg führte mich in seinem Verlaufe auf Anhöhen
dahin, von welchen ich im Norden die Gegend des Rosenhauses und im
Süden die des Sternenhofes erblicken konnte. In dem weißen Gewande,
welches sich über die Gefilde breitete und welches von den
dunkeln Bändern der Wälder geschnitten war, konnte ich kaum die
Hügelgestaltungen erkennen, innerhalb welcher das Haus meines Freundes
liegen mußte, noch weniger konnte ich die Umgebungen des Sternenhofes
unterscheiden, da ich nie im Winter in dieser Gegend gewesen war. Das
aber wußte ich mit Gewißheit, in welcher Richtung das Haus liegen
müsse, an dem im vergangenen Sommer so viele Rosen geblüht haben und
in welcher das Schloß, hinter dem die alten Linden standen und die
Quelle floß, an der die weibliche Gestalt aus weißem Marmor Wache
hielt. Die wohltuenden Fäden, die mich nach beiden Richtungen zogen,
wurden von dem stärkeren Bande aufgehoben, das mich zu den lieben,
teuren Meinigen führte.

Als ich das flache Land erreicht hatte und an dem Orte eingetroffen
war, in welchem mich meine Kisten erwarten sollten, übergab ich
dieselben, die ich unverletzt vorfand, meinem Frächter zur Beförderung
an den Strom und empfahl sie ihm, besonders die mit den Altertümern,
auf das Angelegentlichste. Am anderen Tage reiste ich in einem Wagen
nach. Am Strome ließ ich die Kisten sorgfältig in ein Schiff bringen
und fuhr am nächsten Morgen mit dem nehmlichen Schiffe meiner
Vaterstadt zu.

Ich langte glücklich dort an, ließ meine Habseligkeiten in unser Haus
schaffen, packte zuerst die Kiste mit den Altertümern aus und war
beruhigt, als die Holzschnitzereien unversehrt daraus hervor gingen.
Die Freude meines Vaters war außerordentlich, die Mutter freute sich
des Vaters willen, und die Schwester, deren glänzende Augen bald auf
mich, bald auf den Vater schauten, zeigte, daß sie mit mir zufrieden
sei. Dieses ließ mir manches vergessen, das beinahe wie eine Sorge in
meinem Herzen war. Ich befand mich wieder bei meinen Angehörigen, die
mit allen Kräften ihrer Seele an meinem Wohle Anteil nahmen, und dies
erfüllte mich mit Ruhe und einer süßen Empfindung, die mir in der
letzten Zeit beinahe fremd geworden war.

Ich sah am anderen Tage, als ich in das Speisezimmer ging, den Vater,
wie er vor den Verkleidungen stand und sie betrachtete. Bald neigte er
sich näher zu ihnen, bald kniete er nieder und befühlte manches mit
der Hand oder untersuchte es genauer mit den Augen.

Mir klopfte das Herz vor Freude, und die weißen Haare, welche unter
den dunkeln immer häufiger auf seinem Haupte zum Vorschein kamen,
erschienen mir doppelt ehrwürdig, und die leichte Falte der Sorge
auf seiner Stirne, die in der Arbeit für uns auf diesem Sitze seiner
Gedanken entstanden war, während ich meiner Freude nachgehen und die
Welt und die Menschen genießen konnte, und während meine Schwester wie
eine prachtvolle Rose erblühen durfte, erfüllte mich beinahe mit einer
Andacht. Die Mutter kam dazu, er zeigte ihr manches, er erklärte ihr
die Stellungen der Gestalten, die Führung und die Schwingung der
Stengel und der Blätter und die Einteilung des Ganzen. Die Mutter
verstand diese Dinge durch die langjährige Übung viel besser als ich,
und ich sah jetzt, daß ich dem Vater etwas weit Schöneres gebracht
habe, als ich wußte. Ich nahm mir vor, im nächsten Frühlinge viel
genauer nach den zu diesen Verkleidungen noch gehörenden Teilen zu
forschen; ich hatte früher nur im allgemeinen gefragt, jetzt wollte
ich aber auf das Sorgfältigste in der ganzen Gegend suchen. Nachdem
wir noch eine Weile über das Werk geredet hatten, führte mich die
Mutter durch alle meine Zimmer und zeigte mir, was man während meiner
Abwesenheit getan habe, um mir den Winteraufenthalt recht angenehm zu
machen. Die Schwester kam dazu, und da die Mutter fortgegangen war,
schlang sie beide Arme um meinen Hals, küßte mich und sagte, daß ich
so gut sei und daß sie mich nach Vater und Mutter unter allen Dingen,
die auf der Welt sein können, am meisten und am außerordentlichsten
liebe. Mir wären bei dieser Rede bald die Tränen in die Augen
getreten.

Als ich später in meinem Zimmer allein auf und ab ging, wollte mir
mein Herz immer sagen: »Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut.«

Ich kaufte mir am andern Tage eine spanische Sprachlehre, welche mir
ein Freund, der sich seit mehreren Jahren mit diesen Dingen abgegeben
hatte, anriet. Ich begann neben meinen anderen Arbeiten vorerst für
mich in diesem Buche zu lernen, mir vorbehaltend, später, wenn ich es
für nötig halten sollte, auch einen Lehrer im Spanischen zu nehmen.
Auch fuhr ich nicht nur fort, in den Schauspielen Shakespeares zu
lesen, sondern ich wendete die Zeit, die mir von meinen Arbeiten übrig
blieb, auch der Lesung anderer dichterischer Werke zu. Ich suchte die
Schriften der alten Griechen und Römer wieder hervor, von denen ich
schon Bruchstücke während meiner Studienjahre als Pflichterfüllung
hatte lesen müssen. Damals waren mir die Gestaltungen dieser Völker,
die ich mit ruhigen und kühlen Kräften hatte erfassen können, sehr
angenehm gewesen, deshalb nahm ich jetzt die Bücher dieser Art wieder
vor.

Meine Zither gereichte der Schwester zur Freude. Ich spielte ihr die
Dinge vor, die ich bereits auf diesen Saiten hervorzubringen im Stande
war, ich zeigte ihr die Anfangsgründe, und als für uns beide in dieser
Übung auch ein Meister aus der Stadt in das Haus kam, lieh ich ihr die
Zither und versprach ihr, eine eben so schöne und gute oder eine noch
schönere und bessere für sie aus dem Gebirge zu schicken, wenn sie zu
bekommen wäre. Ich erzählte ihr, daß der Mann, der mir in dem Gebirge
Unterricht im Zitherspiele gebe, bei weitem schöner, wenn auch nicht
so gekünstelt spiele als der Meister in der Stadt. Ich sagte, ich
wolle in dem Gebirge sehr fleißig lernen und ihr, wenn ich wieder
komme, Unterricht in dem erteilen, was ich unterdessen in mein
Eigentum verwandelt hätte.

Unter diesen Beschäftigungen und unter andern Dingen, welche schon
frühere Winter eingeleitet hatten, ging die kältere Jahreszeit dahin.
Als die Frühlingslüfte wehten und die Erde abzutrocknen begann, trat
ich meine Sommerwanderung wieder an. Ich wählte doch abermals das
Ahornhaus zu meinem Aufenthalte, wenn ich auch wußte, daß ich oft weit
von ihm weggehen und lange von ihm würde entfernt bleiben müssen.
Es war nur schon zur Gewohnheit geworden, und es war mir lieb und
angenehm in ihm.

Das erste, was ich vernahm, war, daß ich Botschaft nach meinem
Zitherspieljägersmanne aussandte. Da er überall zu finden ist,
kam er sehr bald, und wir verabredeten, wie wir unsere Übungen
im Zitherspiele fortsetzen würden. Gleichzeitig begann ich die
Forschungen nach jenen Teilen der Wandverkleidungen, welche zu den
meinem Vater überbrachten Pfeilerverkleidungen als Ergänzung gehörten.
Ich forschte in dem Hause nach, in welchem Roland im vergangenen
Sommer gezeichnet hatte, ich forschte bei dem Holzknechte, von welchem
mir die Pfeilerverkleidungen waren verkauft worden, ich dehnte meine
Forschungen in alle Teile der umliegenden Gegend aus, gab besonders
Männern Aufträge, welche oft in die abgelegensten Winkel von Häusern
und anderen Gebäuden kommen, wie zum Beispiele Zimmerleuten, Maurern,
daß sie mir sogleich Nachricht gäben, wenn sie etwas aus Holz
Geschnitztes entdeckten, ich reiste selber an manche Stellen, um
nachzusehen: allein es fand sich nichts mehr vor. Als beinahe
nicht zu bezweifeln stellte sich heraus, daß die von mir gekauften
Verkleidungen einmal zu dem steinernen Hause der ausgestorbenen
Gebirgskaufherren gehört haben, in welchem sie die Unterwand eines
ganzen Saales umgeben haben mochten. Bei einer einmal vorgenommenen
sogenannten Verschönerung späterer, verschwenderisch gewordener
Nachkommen hat man sie wahrscheinlich weg getan und sie fremden Händen
überlassen, die sie in abwechselnden Besitz brachten.

Die Pfeilerverkleidungen, welche gleichsam Nischen bildeten, in die
man Heiligenbilder tun konnte, sind übrig geblieben, die anderen
geraden Teile sind verkommen oder sogar mutwillig zerschlagen oder
verbrannt worden.

Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes ging ich auch mit
meinem Jägersmanne von dem Ahornhause über das Echergebirge in das
Echertal, wo der Meister wohnte, von dem der Jäger die Zither für mich
gekauft hatte und von dem ich auch eine für meine Schwester kaufen
wollte. Dieser Mann verfertigte Zithern für das ganze umliegende
Gebirge und zur Versendung. Er hatte noch zwei mit der meinigen ganz
gleiche. Ich wählte eine davon, da in der Arbeit und in dem Tone gar
keine Verschiedenheit wahrgenommen werden konnte. Der Meister sagte,
er habe lange keine so guten Zithern gemacht und werde lange keine
solchen mehr machen. Sie seien alle drei von gleichem Holze, er habe
es mit vieler Mühe gesucht und mit vielen Schwierigkeiten gefunden. Er
werde vielleicht auch nie mehr ein solches finden. Auch werde er kaum
mehr so kostbare Zithern machen, da seine entfernten Abnehmer nur
oberflächliche Ware verlangten und auch die Gebirgsleute, die wohl die
Güte verstehen, doch nicht gerne teure Zithern kauften.

Von dem Zitherspiele, welches mein Jäger mit mir übte, schrieb ich mir
so viel auf, als ich konnte, um es der Schwester zum Einlernen und zum
Spielen zu bringen.


Gegen die Zeit der Rosenblüte ging ich in den Asperhof und fand die
zwei Zimmer schon für mich hergerichtet, welche ich im vorigen Sommer
bewohnt hatte.

Am ersten Tage erzählte mir schon der Gärtner Simon, der von seinem
Gewächshause zu mir herüber gekommen war, daß der Cereus peruvianus in
dem Asperhofe sei. Der Herr habe ihn von dem Inghofe gekauft, und da
ich gewiß Ursache dieser Erwerbung sei, so müsse er mir seinen Dank
dafür abstatten. Ich hatte allerdings mit meinem Gastfreunde über den
Cereus geredet, wie ich es dem Gärtner versprochen hatte; aber ich
wußte nicht, wie viel Anteil ich an dem Kaufe hätte, und sagte daher,
daß ich den Dank nur mit Zurückhaltung annehmen könne. Ich mußte dem
Gärtner in das Cactushaus folgen, um den Cereus anzusehen. Die Pflanze
war in freien Grund gestellt, man hatte für sie einen eigenen Aufbau,
gleichsam ein Türmchen von doppeltem Glas, auf dem Cactushause
errichtet und hatte durch Stützen oder durch Lenkung der
Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewächses Anstalten getroffen,
daß der Cereus, der sich an der Decke des Gewächshauses im Inghofe
hatte krümmen müssen, wieder gerade wachsen könne. Ich hätte nicht
gedacht, daß diese Pflanze so groß sei und daß sie sich so schön
darstellen würde.

Weil mein Vater an altertümlichen Dingen eine so große Freude hatte,
weil ihn die Verkleidungen so sehr erfreut hatten, welche ich ihm im
vergangenen Herbste gebracht hatte, so tat ich an meinen Gastfreund,
da ich eine Weile in seinem Hause gewesen war, eine Bitte. Ich hatte
die Bitte schon länger auf dem Herzen gehabt, tat sie aber erst jetzt,
da man gar so gut und freundlich mit mir in dem Rosenhause war. Ich
ersuchte nehmlich meinen Gastfreund, daß er erlaube, daß ich einige
seiner alten Geräte zeichnen und malen dürfe, um meinem Vater die
Abbilder zu bringen, die ihm eine deutlichere Vorstellung geben
würden, als es meine Beschreibungen zu tun im Stande wären.

Er gab die Einwilligung sehr gerne und sagte: »Wenn ihr eurem Vater
ein Vergnügen bereiten wollet, so zeichnet und malet, wie ihr wollt,
ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern werde auch Sorge tragen,
daß in den Zimmern, die ihr benützen wollt, gleich alles zu eurer
Bequemlichkeit hergerichtet werde. Sollte euch Eustach an die Hand
gehen können, so wird er es gewiß sehr gerne tun.«

Am folgenden Tage war in dem Zimmer, in welchem sich der große
Kleiderschrein befand. mit dem ich anfangen wollte, eine Staffelei
aufgestellt und neben ihr ein Zeichnungstisch, ob ich mich des einen
oder des andern bedienen wollte. Der Schrein war von seiner Stelle weg
in ein besseres Licht gerückt, und alle Fenster bis auf eines waren
mit ihren Vorhängen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung auf
den Gegenstand geleitet wurde, der gezeichnet werden sollte. Eustach
hatte alle seine Farbstoffe zu meiner Verfügung gestellt, wenn etwa
die von mir mitgebrachten irgendwo eine Lücke haben sollten. Das
zeigte sich sogleich klar, daß die Zeichnungen jedenfalls mit Farben
gemacht werden müßten, weil sonst gar keine Vorstellung von den
Gegenständen hätte erzeugt werden können, die aus verschiedenfarbigem
Holze zusammengestellt waren.

Ich ging sogleich an die Arbeit. Mein Gastfreund hatte auch für meine
Ruhe gesorgt. So oft ich zeichnete, durfte niemand in das Zimmer
kommen, in dem ich war, und so lange sich überhaupt meine
Gerätschaften in demselben befanden, durfte es zu keinem andern
Gebrauche verwendet werden. Um desto mehr glaubte ich meine Arbeit
beschleunigen zu müssen.


Es waren indessen Mathilde und Natalie in dem Asperhofe angekommen,
und sie lebten dort, wie sie im vorigen Jahre gelebt hatten.

Ich zeichnete fleißig fort. Niemand stellte das Verlangen, meine
Arbeit zu sehen. Eustach hatte ich gebeten, daß ich ihn zuweilen um
Rat fragen dürfe, was er bereitwillig zugestanden hatte. Ich führte
ihn daher zu Zeiten in das Zimmer, und er gab mir mit vieler
Sachkenntnis an, was hie und da zu verbessern wäre. Nur Gustav ließ
Neugierde nach der Zeichnung blicken; nicht daß ihm geradezu eine
Äußerung in dieser Hinsicht entfallen wäre; aber da er sich so an mich
angeschlossen hatte und da sein Wesen sehr offen und klar war, so
erschien es nicht schwer, den Wunsch, den er hegte, zu erkennen. Ich
lud ihn daher ein, mich in dem Zimmer zu besuchen, wenn ich zeichnete,
und ich richtete es so ein, daß meine Zeichnungszeit in seine freien
Stunden fiel. Er kam fleißig, sah mir zu, fragte um allerlei und
geriet endlich darauf, auch ein solches Gemälde versuchen zu wollen.
Da mein Gastfreund nichts dawider hatte, so überließ ich ihm meine
Farben zur Benützung, und er begann auf einem Tische neben mir sein
Geschäft, indem er den nehmlichen Schrein abbildete wie ich. Im
Zeichnen war er sehr unterrichtet, Eustach war sein Lehrmeister;
dieser hatte aber bisher noch immer nicht zugegeben, daß sein Zögling
den Gebrauch der Farben anfange, weil er von dem Grundsatze ausging,
daß zuvor eine sehr sichere und behende Zeichnung vorhanden sein
müsse. Die Spielerei aber mit dem Schreine - denn es war nichts weiter
als eine Spielerei - ließ er als eine Ausnahme geschehen.

Ich wurde in Kurzem mit der ersten Arbeit fertig. Das Bild sah in den
genau und gewissenhaft nachgeahmten Farben fast noch lieblicher und
reizender aus als der Gegenstand selber, da alles ins Kleinere und
Feinere zusammengerückt war.

Da ich die Zeichnung vollendet hatte, legte ich sie meinem Gastfreunde
und Mathilde vor. Sie billigten dieselbe und schlugen einige kleine
Änderungen vor. Da ich die Notwendigkeit derselben einsah, nahm ich
sie sogleich vor. Hierauf wurde von ihnen so wie von Eustach die
Abbildung für fertig erklärt.

Nach dem Kleiderschreine nahm ich den Schreibtisch mit den Delphinen
vor.

Weil ich durch die erste Zeichnung schon einige Fertigkeit erlangt
hatte, so ging es bei der zweiten schneller, und alles geriet mit mehr
Leichtigkeit und Schwung. Ich war fertig geworden und legte auch diese
Abbildung Mathilden, meinem Gastfreunde und Eustach vor. Gustav hatte
in der Zeit auch seine Zeichnung des großen Schreines vollendet und
brachte sie herbei. Er wurde ein wenig ausgelacht, und andererseits
wurden ihm auch Dinge angegeben, die er noch zu verändern und hinein
zu machen hätte. Auch bei mir wurden Verbesserungen vorgeschlagen. Als
wir beide mit unsern Ausfeilungen fertig waren, wurden in dem Zimmer,
in welchem wir gezeichnet hatten, die Geräte wieder an den Platz
gerückt, und die Staffelei und unsere Malergerätschaften wurden daraus
entfernt. Ich hatte mir in diesem Zimmer nur die zwei Gegenstände
abzubilden vorgenommen.

Hierauf versuchte ich noch einige kleinere Gegenstände.

Unterdessen waren manche Leute zum Besuche in das Rosenhaus gekommen,
wir selber hatten auch einige Nachbarn aufgesucht, hatten Spaziergänge
gemacht, und an mehreren Abenden saßen wir im Garten oder vor den
Rosen oder unter dem großen Kirschbaume und es wurde von verschiedenen
Dingen gesprochen.


Eustach sagte mir einmal, da ich von den Geräten in dem Sternenhofe
redete und die Äußerung machte, daß meinen Vater Abbildungen von ihnen
sehr freuen würden, es könne keinen Schwierigkeiten unterliegen, daß
ich in dem Sternenhofe ebenso zeichnen dürfe wie in dem Asperhause.
Ich ging auf die Sache nicht ein, da ich nicht den Mut hatte, mit
Mathilde darüber zu sprechen. Am andern Tage zeigte mir Eustach die
Einwilligung an, und Mathilde lud mich auf das Freundlichste ein und
sagte, daß mir in ihrem Hause jede Bequemlichkeit zu Gebote stehen
würde. Ich dankte sehr freundlich für die Güte, und nach mehreren
Tagen fuhr ich mit den Pferden meines Gastfreundes in den Sternenhof,
während Mathilde und Natalie noch in dem Rosenhause blieben.

Im Sternenhofe fand ich zu meiner Überraschung schon alles zu meinem
Empfange vorbereitet. Da Bilder in dem Schlosse waren, hatte man auch
mehrere Staffeleien, welche man mir zur Auswahl in das große Zimmer
gestellt hatte, in welchem die altertümlichen Geräte standen. Auch ein
Zeichnungstisch mit allem Erforderlichen war in das Zimmer geschafft
worden. Ich wählte unter den Staffeleien eine und ließ die übrigen
wieder an ihre gewöhnlichen Orte bringen. Den Zeichnungstisch behielt
ich zur Bequemlichkeit neben der Staffelei bei mir. Es war nun zum
Malen beinahe alles so eingerichtet wie im Asperhofe. Auch durfte ich
mir die Geräte, die ich zu zeichnen vorhatte, in das Licht rücken
lassen wie ich wollte. Zum Wohnen und Schlafen hatte man mir das
nehmliche Zimmer hergerichtet, in welchem ich bei meinem ersten
Besuche gewesen war. Zum Speisen wurde mir der Saal, in dem ich
arbeitete, oder mein Wohnzimmer frei gestellt. Ich wählte das Letzte.

Ich betrachtete mir vorerst die Geräte und wählte diejenigen aus, die
ich abbilden wollte. Hierauf ging ich an die Arbeit. Ich malte sehr
fleißig, um die Unordnung, welche meine Arbeiten notwendig in dem
Hause machen mußten, so kurz als möglich dauern zu lassen. Ich blieb
daher den ganzen Tag in dem Saale, nur des Abends, wenn es dämmerte,
oder Morgens, ehe die Sonne aufging, begab ich mich in das Freie oder
in den Garten, um einen Gang in der erquickenden Luft zu machen oder
gelegentlich auch, stille stehend oder auf einer Ruhebank sitzend, die
weite Gegend um mich herum zu betrachten. Oft, wenn ich die Pinsel
gereinigt und all das unter Tags gebrauchte Malergeräte geordnet und
an seinen Platz gelegt hatte, saß ich unter den alten hohen Linden
im Garten und dachte nach, bis das späte Abendrot durch die Blätter
derselben herein fiel und die Schatten auf dem Sandboden so tief
geworden waren, daß man die kleinen Gegenstände, die auf diesem Boden
lagen, nicht mehr sehen konnte. Noch öfter aber war ich auf dem Platze
hinter der Epheuwand, von welchem aus das Schloß in die großen Eichen
eingerahmt zu erblicken war und neben und hinter dem Schlosse sich die
Gegend und die Berge zeigten. Es war die Stille des Landes, wenn der
heitere Späthimmel sich über das Schloß hinzog, wenn die Spitzen von
dessen Dachfähnchen glänzten, sich in Ruhe das Grün herum lagerte und
das Blau der Berge immer sanfter wurde.

Zuweilen, in besonders heißen Tagen, ging ich auch in die Grotte, in
welcher die Marmornymphe war, freute mich der Kühle, die da herrschte,
sah das gleiche Rinnen des Wassers und sah den gleichen Marmor, auf
dem nur zuweilen ein Lichtchen zuckte, wenn sich ein später Strahl in
dem Wasser fing und auf die Gestalt geworfen wurde.

In dem Schlosse war es sehr einsam, die Diener waren in ihren
abgelegenen Zimmern, ganze Reihen von Fenstern waren durch
herabgelassene Vorhänge bedeckt, und zu dem Hofbrunnen ging selten
eine Gestalt, um Wasser zu holen, daher er zwischen den großen Ahornen
eintönig fortrauschte. Diese Stille machte, daß ich desto mehr der
Bewohnerinnen dachte, die jetzt abwesend waren, daß ich meinte, ihre
Spuren entdecken zu können, und daß ich dachte, ihren Gestalten
irgendwo begegnen zu müssen. Besser war es, wenn ich in die Landschaft
hinausging. Dort lebten die Klänge der Arbeit, dort sah ich heitere
Menschen, die sich beschäftigten, und regsame Tiere, die ihnen halfen.

Es war eine Art von Verwalter in dem Schlosse, der den Auftrag haben
mußte, für mich zu sorgen, wenigstens tat er alles, was er zu meiner
Bequemlichkeit für nötig erachtete. Er fragte oft nach meinen
Wünschen, ließ mehr Speisen und Getränke auf meinen Tisch stellen als
nötig war, sorgte stets für frisches Wasser, Kerzen und andere Dinge,
ließ eine Menge Bücher, die er aus der Büchersammlung des Schlosses
genommen haben mochte, in mein Zimmer bringen und meinte zuweilen, daß
es die Höflichkeit erfordere, daß er mehrere Minuten mit mir spreche.
Ich machte so wenig als möglich Gebrauch von allen für mich in diesem
Schlosse eingeleiteten Anstalten und ging nicht einmal in die Meierei,
in welcher es sehr lebhaft war, um durch meine Gegenwart oder durch
mein Zuschauen nicht jemanden in seiner Arbeit zu beirren.

Als ich mit den ausgewählten Gegenständen fertig war, hörte ich nicht
auf; denn aus ihnen entwickelten sich wieder andere Arbeiten, was
seinen Grund darin hatte, daß ein Gegenstand den andern verlangte,
was wieder daher rührte, daß die Geräte dieses Zimmers und der
Nebengemächer ein Ganzes bildeten, welches man nicht zerstückt denken
konnte. Was mir aber zu statten kam, war die große Übung, die ich nach
und nach erlangte, so daß ich endlich in einem Tage mehr vor mich
brachte als sonst in dreien.

Eustach kam einmal herüber, mich zu besuchen. Ich sah darin ein
Zeichen, daß man mir Gelegenheit geben wollte, mich seines Rates zu
bedienen. Ich tat dieses auch, freute mich der Worte, die er sprach,
und folgte den Ansichten, die er entwickelte. Er erzählte mir auch,
daß Mathilde und Natalie noch lange in dem Asperhofe zu bleiben
gedächten. Da, wie ich wußte, ihr Besuch in dem vorigen Sommer im
Rosenhause viel kürzer gewesen war, so verfiel ich auf den Gedanken,
ob sie nicht etwa gerade darum heuer länger in demselben verweilten,
um mir Muße zu meinen Arbeiten in dem Sternenhofe zu geben. Ob es nun
so sei oder nicht, wußte ich nicht, es konnte aber so sein, und darum
beschloß ich, mein Malen abzukürzen. Endlich mußte ich doch einmal
schließen, da ich doch nicht alle Gegenstände abbilden konnte. Ich
sagte Eustach die Zeit, in der ich fertig sein würde. Er blieb zwei
Tage in dem Schlosse, vermaß Manches, untersuchte Einiges in manchen
Zimmern und kehrte dann wieder in das Rosenhaus zurück.

Ehe ich ganz fertig war, kamen alle vom Asperhofe herüber und blieben
einige Tage. Auch Eustach kam wieder mit. Ich legte vor, was ich
gemacht hatte, und es geschah das Nehmliche, was in dem Rosenhause
geschehen war. Man billigte im Allgemeinen die Arbeit und stellte
hie und da etwas aus, was zu verbessern wäre. Ich hatte schon zu der
Abbildung der Geräte im Asperhofe Ölfarben angewendet, weil ich in
Behandlung derselben nach und nach eine größere Fertigkeit erlangt
hatte als in der der Wasserfarben und weil die Wirkung eine viel
größere war. Die Geräte des Sternenhofes hatte ich nun auch mit
Ölfarben abgebildet, und diese Abbildungen waren viel gelungener als
die im Rosenhause. Ich erkannte die Vorschläge, welche mir gemacht
worden waren, an und bemerkte mir sie zur Ausführung.

Eustach ging von dem Sternenhofe wieder in das Rosenhaus zurück; mein
Gastfreund, Mathilde, Natalie und Gustav machten eine kleine Reise.

Auch mein Bleiben war nicht mehr lange in dem Schlosse. Ich machte
noch fertig, was fertig zu machen war, ich verbesserte, was zu
verbessern vorgeschlagen worden war und was mir selber noch in der
Zeit als verbeßrungswürdig einfiel und wartete dann ab, bis alles gut
getrocknet wäre, um es einpacken und für den Vater in Bereitschaft
halten zu können. Da dies geschehen war, dankte ich dem Verwalter sehr
verbindlich für alle seine Aufmerksamkeit, gab den Mädchen, die für
mich zu tun gehabt hatten, Geschenke, welche ich mir zu diesem Zwecke
schon früher angeschafft hatte, und bestieg den Wagen, den mir der
Verwalter zu meiner Zurückfahrt in das Rosenhaus zur Verfügung
gestellt hatte.

Als ich in dem Rosenhause ankam, traf ich meinen Gastfreund und seine
Gesellschaft von der Reise schon zurückgekehrt an. Ich blieb noch
mehrere Tage bei ihnen, nahm dann Abschied und begab mich in das
Ahornhaus zu meinen Arbeiten zurück.


Ich suchte diese Arbeiten rasch zu betreiben; aber alles war jetzt
anders und nahm eine andere Färbung in meinem Herzen an.

Als ich in dem Frühling die Hauptstadt verlassen hatte und dem langsam
über einen Berg empor fahrenden Wagen folgte, war ich einmal bei einem
Haufen von Geschiebe stehen geblieben, das man aus einem Flußbette
genommen und an der Straße aufgeschüttet hatte, und hatte das Ding
gleichsam mit Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den roten, weißen,
grauen, schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter
plattgerundete Gestalten hatten, die Boten von unserem Gebirge, ich
erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt
hatte und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter
Kameraden, deren Geburtsstätte oft viele Meilen von der seinigen
entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle
harrten, daß sie zerschlagen und zu der Straße verwendet würden.

Besonders kamen mir die Gedanken, wozu dann alles da sei, wie es
entstanden sei, wie es zusammenhänge, und wie es zu unserem Herzen
spreche.

Einmal gelangte ich zu dem See hinunter und betrachtete an dem
sonnigen Nachmittage die Tatsache, daß die Schönheit der absteigenden
Berge meistens gegen einen Seespiegel am größten ist. Kömmt das aus
Zufall, haben die abstürzenden, dem See zueilenden Wässer die Berge
so schön gefurcht, gehöhlt, geschnitten, geklüftet, oder entspringt
unsere Empfindung von dem Gegensatze des Wassers und der Berge, wie
nehmlich das erste eine weiche, glatte, feine Fläche bildet, die durch
die rauhen absteigenden Riffe, Rinnen und Streifen geschnitten wird,
während unterhalb nichts zu sehen ist und so das Rätsel vermehrt wird?
Ich dachte bei dieser Gelegenheit: wenn das Wasser durchsichtiger
wäre, zwar nicht so durchsichtig wie die Luft, doch beinahe so, dann
müßte man das ganze innere Becken sehen, nicht so klar wie in der
Luft, sondern in einem grünlichen, feuchten Schleier. Das müßte sehr
schön sein. Ich blieb in Folge dieses Gedankens länger an dem See,
mietete mich in einem Gasthofe ein und machte mehrere Messungen der
Tiefe des Wassers an verschiedenen Stellen, deren Entfernung vom Ufer
ich mittelst einer Meßschnur bezeichnete. Ich dachte, auf diese Weise
könnte man annähernd die Gestalt des Seebeckens ergründen, könnte
es zeichnen und könnte das innere Becken von dem äußeren durch eine
sanftere, grünlichere Farbe unterscheiden. Ich beschloß, bei einer
ferneren Gelegenheit die Messungen fortzusetzen.

Diese Bestrebungen brachten mich auf die Betrachtung der Seltsamkeiten
unserer Erdgestaltungen. In dem Seegrunde sah ich ein Tal, in
dessen Sohle, die sich bei andern Tälern mit dem vieltausendfachen
Pflanzenreichtume und den niedergestürzten Gebirgsteilen füllt und
so einen schönen Wechsel von Pflanzen und Gestein darstellt, kein
Pflanzengrund sich entwickelt, sondern das Gerölle sich sachte mehrt,
der Boden sich hebt und die ursprünglichen Klüftungen ausfüllt.
Dazu kommen die Stücke, die unmittelbar von den Wänden in den See
stürzen, dazu kommen die Hügel, die außer der gewöhnlichen Ordnung
von bedeutenden Hochwassern in den See geschoben und von dem
nachträglichen Wellenschlage wieder abgeflacht werden. In
Jahrtausenden und Jahrtausenden füllt sich das Becken immer mehr, bis
einmal, mögen hundert oder noch mehr Jahrtausende vergangen sein,
kein See mehr ist, auf der ungeheuren Dicke der Geröllschichten der
menschliche Fuß wandelt, Pflanzen grünen und selbst Bäume stehen. So
kannte ich manche Stellen, die einst Seegrund gewesen waren.

Der Fluß, der Vater des Sees, hatte sich in seinem Weiterlaufe tiefer
gewühlt, er hatte den Seespiegel niederer gelegt, der Seegrund hatte
sich gehoben, bis nichts mehr war als ein Tal, an dem jetzt die Ufer
als grüne Wälle in langen Strecken stehen, mit kräftigen Kräutern,
blühenden Büschen und mancher lachenden Wohnung von Menschen prangen,
während das, was einmal ein mächtiges Wasser gebildet hatte, jetzt
als ein schmales Bändlein in glänzenden Schlangenlinien durch die
Landschaft geht.

Ich betrachtete vom See aus die Schichtungen der Felsen. Was bei
Kristallen der Blätterdurchgang ist, das zeigt sich hier in großen
Zügen. An manchen Stellen ist die Neigung diese, an manchen ist sie
eine andere. Sind diese ungeheuren Blätter einst gestürzt worden,
sind sie erhoben worden, werden sie noch immer erhoben? Ich zeichnete
manche Lagerungen in ihren schönen Verhältnissen und in ihren
Neigungen gegen die wagrechte Fläche. Wenn ich so die Blätter
durchging und die Gestaltungen ansah, war es mir wie eine unbekannte
Geschichte, die ich nicht enträtseln konnte und zu der es doch
Anhaltspunkte geben mußte, um die Ahnungen in Nahrung zu setzen.

Wenn ich die Stücke unbelebter Körper, die ich für meine Schreine
sammelte, ansah, so fiel mir auf, daß hier diese Körper liegen, dort
andere, daß ungeheure Mengen desselben Stoffes zu großen Gebirgen
aufgetürmt sind und daß wieder in kleinen Abständen kleine Lagerungen
mit einander wechseln. Woher sind sie gekommen, wie haben sie sich
gehäuft? Liegen sie nach einem Gesetze, und wie ist dieses geworden?
Oft sind Teile eines größeren Körpers in Menge oder einzeln an
Stellen, wo der Körper selber nicht ist, wo sie nicht sein sollen,
wo sie Fremdlinge sind. Wie sind sie an den Platz gekommen? Wie ist
überhaupt an einer Stelle gerade dieser Stoff entstanden und nicht ein
anderer? Woher ist die Berggestalt im Großen gekommen? Ist sie noch in
ihrer Reinheit da oder hat sie Veränderungen erlitten, und erleidet
sie dieselben noch immer? Wie ist die Gestalt der Erde selber
geworden, wie hat sich ihr Antlitz gefurcht, sind die Lücken groß,
sind sie klein?

Wenn ich auf meinen Marmor kam - wie bewunderungswürdig ist der
Marmor! Wo sind denn die Tiere hin, deren Spuren wir ahnungsvoll in
diesen Gebilden sehen? Seit welcher Zeit sind die Riesenschnecken
verschwunden, deren Andenken uns hier überliefert wird? Ein Andenken,
das in ferne Zeiten zurück geht, die niemand gemessen hat, die
vielleicht niemand gesehen hat und die länger gedauert haben als der
Ruhm irgend eines Sterblichen.


Eine Tatsache fiel mir auf. Ich fand tote Wälder, gleichsam
Gebeinhäuser von Wäldern, nur daß die Gebeine hier nicht in eine Halle
gesammelt waren, sondern noch aufrecht auf ihrem Boden standen. Weiße,
abgeschälte, tote Bäume in großer Zahl, so daß vermutet werden mußte,
daß an dieser Stelle ein Wald gestanden sei. Die Bäume waren Fichten
oder Lärchen oder Tannen. Jetzt konnte an der Stelle ein Baum gar
nicht mehr wachsen, es sind nur Kriechhölzer um die abgestorbenen
Stämme, und auch diese selten. Meistens bedeckt Gerölle den Boden oder
größere, mit gelbem Moose überdeckte Steine. Ist diese Tatsache eine
vereinzelte, nur durch vereinzelte Ortsursachen hervorgebracht? Hängt
sie mit der großen Weltbildung zusammen? Sind die Berge gestiegen, und
haben sie ihren Wälderschmuck in höhere, todbringende Lüfte gehoben?
Oder hat sich der Boden geändert, oder waren die Gletscherverhältnisse
andere? Das Eis aber reichte einst tiefer: wie ist das alles geworden?

Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern? In welch
schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner
Gewässer das Gebirge beständig zerbröckelt wird, wenn die Trümmer
herabfallen, wenn sie weiter zerklüftet werden und der Strom sie
endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausführt, wie
weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? Unermeßliche
Schichten von Geschieben in ebenen Ländern bejahen es. Wird es noch
lange dauern? So lange Luft, Licht, Wärme und Wasser dieselben
bleiben, so lange es Höhen gibt, so lange wird es dauern. Werden
die Gebirge also einstens verschwunden sein? Werden nur flache,
unbedeutende Höhen und Hügel die Ebenen unterbrechen, und werden
spelbst diese auseinander gewaschen werden? Wird dann die Wärme in den
feuchten Niederungen oder in tiefen, heißen Schluchten verschwinden,
so wie die kalte Luft in Höhen auf die Erde ohne Einfluß sein wird,
so daß alle Glieder in unsern Ländern von demselben lauen Stoffe
umflossen sind und sich die Verhältnisse aller Gewächse ändern? Oder
dauert die Tätigkeit, durch welche die Berge gehoben wurden, noch
heute fort, daß sie durch innere Kraft an Höhe ersetzen oder
übertreffen, was sie von Außen her verlieren? Hört die Hebungskraft
einmal auf? Ist nach Jahrmillionen die Erde weiter abgekühlt, ist ihre
Rinde dicker, so daß der heiße Fluß in ihrem Innern seine Kristalle
nicht mehr durch sie empor zu treiben vermag? Oder legt er langsam und
unmerklich stets die Ränder dieser Rinde auseinander, wenn er durch
sie seine Geschiebe hinan hebt? Wenn die Erde Wärme ausstrahlt
und immer mehr erkaltet, wird sie nicht kleiner? Sind dann die
Umdrehungsgeschwindigkeiten ihrer Kreise nicht geringer? Ändert das
nicht die Passate? Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders? Wie viele
Millionen Jahre müssen verfließen, bis ein menschliches Werkzeug die
Änderung messen kann?

Solche Fragen stimmten mich ernst und feierlich, und es war, als wäre
in mein Wesen ein inhaltreicheres Leben gekommen. Wenn ich gleich
weniger sammelte und zusammentrug als früher, so war es doch,
als würde ich in meinem Innern bei weitem mehr gefördert als in
vergangenen Zeiten.

Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens wert ist, so ist
es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste,
die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein
Einschiebsel ist und wer weiß es, welch ein kleines, da sie von
anderen Geschichten vielleicht höherer Wesen abgelöset werden kann.
Die Quellen zu der Geschichte der Erde bewahrt sie selber wie in einem
Schriftengewölbe in ihrem Inneren auf, Quellen, die vielleicht in
Millionen Urkunden niedergelegt sind und bei denen es nur darauf
ankömmt, daß wir sie lesen lernen und sie durch Eifer und Rechthaberei
nicht verfälschen. Wer wird diese Geschichte einmal klar vor Augen
haben? Wird eine solche Zeit kommen oder wird sie nur der immer ganz
wissen, der sie von Ewigkeit her gewußt hat?


Von solchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern. Wenn ich von langen
Wanderungen in das Ahornhaus zurück kam oder wenn ich ferne von dem
Ahornhause in irgend einem Stübchen eines Alpengebäudes wohnte, so
las ich in den Werken eines Mannes, der nicht Fragen löste, sondern
Gedanken und Gefühle gab, die wie eine Lösung in holder Umhüllung
waren und wie ein Glück aussahen. Ich hatte mannigfaltige solcher
Männer. Unter den Büchern waren auch solche, in denen Schwulst
enthalten war. Sie gaben die Natur in und außer dem Menschen nicht so
wie sie ist, sondern sie suchten sie schöner zu machen und suchten
besondere Wirkungen hervorzubringen. Ich wendete mich von ihnen ab.
Wem das nicht heilig ist was ist, wie wird der Besseres erschaffen
können als was Gott erschaffen hat? In der Naturwissenschaft war ich
gewohnt geworden, auf die Merkmale der Dinge zu achten, diese Merkmale
zu lieben und die Wesenheit der Dinge zu verehren. Bei den Dichtern
des Schwulstes fand ich gar keine Merkmale, und es erschien mir
endlich lächerlich, wenn einer schaffen wollte, der nichts gelernt
hat.

Die Männer gefielen mir, welche die Dinge und die Begebenheiten mit
klaren Augen angeschaut hatten und sie in einem sicheren Maße in dem
Rahmen ihrer eigenen inneren Größe vorführten. Andere gaben Gefühle in
schöner Sittenkraft, die tief auf mich wirkten. Es ist unglaublich,
welche Gewalt Worte üben können; ich liebte die Worte und liebte
die Männer und sehnte mich oft nach einer unbestimmten, unbekannten
glücklichen Zukunft hinaus.

Die Alten, die ich einst zu verstehen geglaubt hatte, kamen mir doch
jetzt anders vor als früher. Es schien mir, als wären sie natürlicher,
wahrer, einfacher und größer als die Männer der neuen Zeit und als
lasse sie der Ernst ihres Wesens und die Achtung vor sich selbst nicht
zu den Überschreitungen gelangen, welche spätere Zeiten für schön
hielten. Ich trug Homeros, Äschylos, Sophokles, Thukydides fast
auf allen Wanderungen mit mir. Um sie zu verstehen, nahm ich alle
griechischen Sprachwerke, die mir empfohlen waren, vor und lernte
in ihnen. Am förderlichsten im Verstehen war aber das Lesen selber.
Bei den Alten nahm ich Geschichtschreiber gerne unter Dichter, sie
schienen mir dort einander näher zu stehen als bei den Neuen.

Da geriet auch ich auf das Malen. Die Gebirge standen im Reize und im
Ganzen vor mir, wie ich sie früher nie gesehen hatte. Sie waren meinen
Forschungen stets Teile gewesen. Sie waren jetzt Bilder, so wie früher
bloß Gegenstände. In die Bilder konnte man sich versenken, weil sie
eine Tiefe hatten, die Gegenstände lagen stets ausgebreitet zur
Betrachtung da. So wie ich früher Gegenstände der Natur für
wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen
Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor
Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt
auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte
Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder
Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich,
daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es
sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen
Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die
Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur
einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm
eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten
Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab,
sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte
wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche
nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur
Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß
sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher
wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was
in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem
Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir
selbst.

Ich blieb so lange in dem Gebirge, als es nur möglich wurde und als
die zunehmende Kälte einen Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar
verbot.

Im spätesten Herbste ging ich noch einmal zu meinem Gastfreunde in
das Rosenhaus. Es war zur Zeit, da in dem Gebirge schon mannigfaltige
Schneelasten auf den Höhen lagen und das flache Land sich schon jedes
Schmuckes entäußert hatte. Der Garten meines Freundes war kahl,
die Bienenhütte war in Stroh eingehüllt, in den laublosen Zweigen
schrillte mir noch manche vereinzelte Kohlmeise oder ein Wintervogel,
und über ihnen zogen in dem grauen Himmel die grauen Dreiecke der
Gänse nach dem Süden. Wir saßen in den langen Abenden bei dem Feuer
des Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhüllung und Einwinterung
der Gegenstände, die es bedurften, oder machten an manchem Nachmittage
einen Spaziergang, wenn der regsame Nebel die Hügel und die Täler und
die Ebenen umwandelte.

Ich zeigte meinem Gastfreunde meine Versuche im landschaftlichen
Malen, weil ich es gewissermaßen für eine Falschheit gehalten hätte,
ihm nichts von der Veränderung zu sagen, die in mir vorgegangen war.
Ich scheute mich sehr, die Versuche vorzulegen, ich tat es aber doch,
und zwar zu einer Zeit, da auch Eustach zugegen war. Als Einleitung
erklärte ich, wie ich nach und nach dazu gekommen wäre, diese Dinge zu
machen.

»Es geht allen so, welche die Gebirge öfter besuchen und welche
Einbildungskraft und einiges Geschick in den Händen haben«, sagte mein
Gastfreund, »ihr braucht euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen,
es war zu erwarten, daß ihr nicht bloß bei eurem Sammeln von Steinen
und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist
so gut.«

Die Entwürfe wurden mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen,
als sie verdienten. Da sowohl mein Gastfreund als auch Eustach
jedes Blatt öfter betrachtet hatten, sprachen sie mit mir
darüber. Ihr Urteil ging einstimmig darauf hinaus, daß mir das
Naturwissenschaftliche viel besser gelungen sei als das Künstlerische.
Die Steine, die sich in den Vordergründen befänden, die Pflanzen, die
um sie herum wuchsen, ein Stück alten Holzes, das da läge, Teile von
Gerölle, die gegen vorwärts säßen, selbst die Gewässer, die sich
unmittelbar unter dem Blicke befänden, hätte ich mit Treue und mit den
ihnen eigentümlichen Merkmalen ausgedrückt. Die Fernen, die großen
Flächen der Schatten und der Lichter an ganzen Bergkörpern und das
Zurückgehen und Hinausweichen des Himmelsgewölbes seien mir nicht
gelungen. Man zeigte mir, daß ich nicht nur in den Farben viel zu
bestimmt gewesen wäre, daß ich gemalt hätte, was nur mein Bewußtsein
an entfernten Stellen gesagt, nicht mein Auge, sondern daß ich auch
die Hintergründe zu groß gezeichnet hätte, sie wären meinen Augen
groß erschienen, und das hätte ich durch das Hinaufrücken der Linien
angeben wollen. Aber durch Beides, durch Deutlichkeit der Malerei
und durch die Vergrößerung der Fernen hätte ich die letzteren näher
gerückt und ihnen das Großartige benommen, das sie in der Wirklichkeit
besäßen. Eustach riet mir, eine Glastafel mit Canadabalsam zu
überziehen, wodurch sie etwas rauher würde, so daß Farben auf ihr
haften, ohne daß sie die Durchsichtigkeit verlöre und durch diese
Tafel Fernen mit den an sie grenzenden näheren Gegenständen mittelst
eines Pinsels zu zeichnen, und ich würde sehen, wie klein sich die
größten und ausgedehntesten entfernten Berge darstellen und wie groß
das zunächstliegende Kleine würde. Dieses Verfahren aber empfehle
er nur, damit man zur Überzeugung der Verhältnisse komme und einen
Maßstab gewinne, nicht aber, daß man dadurch künstlerische Aufnahmen
von Landschaften mache, weil durch einen solchen Vorgang die
künstlerische Freiheit und Leichtigkeit verloren würde, welche in
Bezug auf Darstellung das Wesen und das Herz der Kunst sei. Das Auge
soll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele müsse schaffen, das
Auge soll ihr dienen. In Hinsicht der Farbgebung der Fernen riet er
mir, dort, wo ich einen Zweifel hätte, ob ich etwas sähe oder nur
wisse, es lieber nicht anzugeben und überhaupt in der Farbe lieber
unbestimmter als bestimmter zu sein, weil dadurch die Gegenstände an
Großartigkeit gewinnen. Sie werden durch die Unbestimmtheit ferner
und durch dieses allein größer. Durch Linien des Zeichnenstiftes auf
dem kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand könne man nichts groß
machen. Durch Verdeutlichung werden die Körper näher gerückt und
verkleinert. Wenn überhaupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht
werden müsse - und kein Mensch könne Dinge, namentlich Landschaften,
in ihrer völligen Wesenheit geben -, so sei es besser, die Gegenstände
großartiger und übersichtlicher zu geben als in zu viele einzelne
Merkmale zerstreut. Das erste sei das Künstlerischere und Wirksamere.

Ich sah sehr gut ein, was sie sagten, und wußte auch, woher die Fehler
kämen, von denen sie redeten. Ich hatte bisher alle Gegenstände in
Hinblick auf meine Wissenschaft gezeichnet, und in dieser waren
Merkmale die Hauptsache. Diese mußten in der Zeichnung ausgedrückt
sein und gerade die am schärfsten, durch welche sich die Gegenstände
von verwandten unterschieden. Selbst bei meinem Zeichnen von
Angesichtern hatte ich deren Linien, ihr Körperliches, ihre Licht- und
Schattenverteilung unmittelbar vor mir.

Daher war mein Auge geübt, selbst bei fernen Gegenständen das, was sie
wirklich an sich hatten, zu sehen, wenn es auch noch so undeutlich
war, und dafür auf das, was ihnen durch Luft, Licht und Dünste
gegeben wurde, weniger zu achten, ja diese Dinge als Hindernisse der
Beobachtung eher weg zu denken als zum Gegenstande der Aufmerksamkeit
zu machen. Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand
plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos
erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft,
Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die
Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die
veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum
Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar
in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise
dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge,
die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern
schwimmen. Ich sagte das meinen Freunden, und sie billigten meinen
Entschluß. Wenn der Nebel oder überhaupt die trübe Jahreszeit einen
Blick in die Ferne gestattete, wurde das, was mit Worten gesagt wurde,
auch an wirklichen Beispielen erörtert, und wir sprachen über die Art
und Weise, wie sich die entfernten Gebirge oder Teile von ihnen oder
näher gehende von der Hauptkette sich ablösende Gründe darstellten.
Es ist unglaublich, wie sehr ich in jenem kurzen Herbstaufenthalte
unterrichtet wurde.


Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern, welche ich
las, und erzählte ihm von dem großen Eindrucke, welchen ihre Worte auf
mich machten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in sein Bücherzimmer,
er führte mich vor die Schreine, in welchen die Dichter standen, und
zeigte mir, was er in dieser Hinsicht besaß. Er sagte auch, ich möchte
während des Aufenthaltes in seinem Hause von den Büchern Gebrauch
machen, wie ich wollte; ich könnte sie im Lesezimmer benützen oder
auch in meine Wohnung mit hinübernehmen. Es waren Werke in den
ältesten Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und Italien,
es waren Werke der neueren Zeiten da und auch der neuesten. Am
zahlreichsten waren natürlich die der Deutschen.

»Ich habe diese Bücher gesammelt«, sagte er, »nicht als ob ich sie
alle verstände; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd;
aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter, wenn
sie es im rechten Sinne sind, zu den größten Wohltätern der Menschheit
zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln
als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über
Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche
Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben
es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach
hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle
Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie
an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik
an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die
Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an
die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder
mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen
Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung,
das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Träger des Gedankens, wie
etwa die Luft den Klang an unser Ohr führt. Die Dichtkunst ist daher
die reinste und höchste unter den Künsten. Da ich nun meine, daß
es so ist, wie ich sage, so habe ich die Männer, welche die Stimme
der Zeiten als große in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier
zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht
verstand, dazu getan, wenn ich nur wußte, daß sie in der Geschichte
ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn ich von einem
Fachmanne das Zeugnis hatte, daß ich in dem Buche den Dichter besitze,
den ich meine. Sie mögen unverstanden hier stehen oder es mag wohl
einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht
und liest. Ich habe wohl auch solche Bücher hieher gestellt, die
mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst
festzustellen sein. In diesen Büchern habe ich viel Glück gefunden und
in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend
die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzücken
aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwärmerei und mit
Sehnsucht in dem Busen trägt, so ist es doch fast stets mehr die
Wärme des eigenen Gefühles, die sie empfindet, als daß sie die fremde
Weisheit und Größe in ein besonnenes, betrachtendes, abwägendes Herz
aufnehmen könnte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit
der Dichtung mag euch fördern und euer Herz jedem künftigen Großen
öffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber
ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die
verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes
leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem
Glanze färbt, so wie es eine Tatsache ist, daß die innige, wahre und
treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt als
die lodernde Leidenschaft der jungen, schönen, schimmernden Braut.
Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und
Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das
Abgängige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt.
Daher kömmt die Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener
Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß
Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine Wiederspieglung der
Jugendblüte sind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden
selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen,
wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und
Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der
Gegenliebe, oder die Träume künftiger Taten und künftiger Größe, der
Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste
Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel
seiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der
sie in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der grauen Wimper
mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Träne hängen als
der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des
Jünglings springt und keine Spur hinterläßt. Ich lese jetzt selten
mehr die größten Geister im Zusammenhange - mit kleineren tue ich es
wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind -, aber
ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in
ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit großen
Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich
ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhängen, als wären sie von meinen
eigenen Rosen geflochten. Deshalb gebe ich auch kein Buch aus dem
Hause, weil ich nicht weiß, ob ich es nicht in nächster Zeit selber
brauchen werde. Im Hause stehen sie jedem, der davon Gebrauch machen
will, zu Gebote. Nur für Gustav wird eine Auswahl getroffen, weil er
noch zu jung ist und nicht alles sondern kann. Er würde hier zwar
nichts gänzlich Schlechtes finden; aber nicht alles Gute würde er
verstehen, und dann wäre die daran gewendete Zeit verloren; oder er
könnte es mißverstehen, und dann wäre der Erfolg ein unrichtiger. Das
Schlechte, das sich Dichtkunst nennt, ist der Jugend sehr gefährlich.
In der Wissenschaft zeigt es sich viel leichter auf. In der Mathematik
liegt es in der Darstellung, da solche Werke wohl kaum vorkommen
dürften, in denen sogar der Stoff fehlerhaft wäre, in der
Naturwissenschaft liegt es in der Darstellung wie im Stoffe, in welch
letzterem es sich in der Gestalt gewagter Behauptungen ausspricht; nur
in der sogenannten Weisheitslehre kann es verborgener sein gleichwie
in der Dichtkunst, weil manche Weisheitslehre wie Dichtkunst zusammen
gestellt ist und wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dichtkunst
versteckt es sich vor dem blühenden Gemüte des Jünglings, dieser
breitet seine Blüten und seine Begierden darüber und saugt das Gift in
sich. Ein klarer Verstand, der sich von Kindheit an eben zur Klarheit
hingeübt hat, und ein gutes, reines Herz sind Schutzwehren vor
Schlechtigkeit und Sittenlosigkeit von Dichtungen, weil der klare
Verstand den hohlen Schwulst von sich abweist und das reine Herz
die Unsittlichkeit ablehnt. Aber Beides geschieht nur gegen die
Entschiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize verhüllt ist und mit
Reinem gemischt, dort ist es am bedenklichsten, und da müssen Ratgeber
und väterliche Freunde zu Hilfe stehen, daß sie teils aufklären,
teils von vornherein die Annäherung des Übels aufhatten. Gegen die
Schlechtigkeit in der Darstellung oder gegen die lange Weile braucht
man kein Mittel als sie selber. Ihr seid zwar noch jung; aber ihr
seid nicht so jung zu dem Lesen von Dichtern gekommen wie die meisten
unserer Jünglinge, und ihr habt so viel in Wissenschaften gelernt, daß
ich glaube, daß man euch alle Dichter in die Hände geben kann, ohne
Gefahr zu befürchten, selbst bei solchen, die in ihrem Amte sehr
zweifelhaft sind. Euer Geist wird sich wohl heraus finden und gerade
dadurch noch mehr klären. Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche
man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem
griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muß ich euch sagen, was ihr
wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt,
daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen
und eigentümlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke
derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel
mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne
gegebener Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar
widerwärtig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem
Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie
nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbüchern, am wenigsten aus den
neuen - jetzt lese ich gar keine mehr - gelernt, sondern ich habe sie
aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die
gegenständlichste Dichtung vorkömmt.«


Als ich meinen Gastfreund so reden hörte, erinnerte ich mich, daß ich
ihn in der Tat viel lesen gesehen habe. Oft war er mit einem Buche
unter einem schattigen Baume gesessen oder in rauherer Jahreszeit auf
einer sonnigen Bank, oft hatte er sich mit einem auf einen Spaziergang
begeben, er ist sehr häufig in dem Lesezimmer gewesen, und er trug
Bücher in seine Arbeitsstube. Als wir die letzte Fahrt in den
Sternenhof gemacht hatten, hatte er Bücher mitgenommen, und ich glaube
von Gustav gehört zu haben, daß er auf jede Reise Bücher einpacke.

Ich ging bei meinem jetzigen Aufenthalte in dem Rosenhause sehr oft in
das Bücherzimmer, und wie ich früher vor den Schränken gestanden war,
die die Werke der Naturwissenschaften enthielten, und wie ich damals
manches Buch in das Lesezimmer mitgenommen hatte, so stand ich jetzt
vor den Schreinen mit den Dichtern, sah viele einzelne der vorhandenen
Bücher an, trug manches in das Lesezimmer oder mit Bewilligung meines
Gastfreundes in meine Stube und schrieb mir die Aufschrift von manchem
in mein Gedenkbuch, um es mir, wenn ich nach Hause gekommen wäre, zu
kaufen.

Gegen das Ende meines Aufenthaltes, da noch einige sonnige Tage kamen,
zeichnete und malte ich auch mehrere Stücke der schönen getäfelten
Fußböden, die in diesem Hause anzutreffen waren. Ich tat dies, um
dem Vater von allen Dingen, welche ich gesehen hatte, einiger Maßen
Abbildungen bringen zu können.

Als es schon bald zu meiner Abreise kam, sagte mein Gastfreund, er
hätte noch etwas mit mir zu reden, und er sprach: »Weil euch euere
Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um
euch gesteckt habt, weil ihr zu euren früheren Bestrebungen noch
den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das
Landschaftsmalen als ein Übergang in das Kunstfach ein Schritt aus
eurem Kreise war, so erlaubet mir, daß ich als Freund, der euch wohl
will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere
Grundlage legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zugleich in
allen oder vielen Richtungen tätig sind, so wird der Mensch, eben weil
alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn
eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird
dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in
einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das
Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche. Später,
wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem Einzigen
zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird
dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muß man
sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich
zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das Tiefste des Lebens
in allen Richtungen versenken müsse, wie zum Beispiele in allen
Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das wäre
überwältigend oder tötend, ohne dabei möglich zu sein; sondern daß
man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine
Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen,
unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der
Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natürliche
Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege
desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des
Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfaßt,
unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger
wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen
Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren
Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land,
lebt einmal eine Weile müßig bei uns, das heißt tut, was euch der
Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den
Garten genießen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch
zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vorüber
fließen lassen, wie sie fließen.«

Ich dankte ihm für seine Bemerkungen, sagte, daß ich selber so etwas
Ähnliches in mir empfinde, daß ich wohl etwas unbeholfen gegen das
Leben sei, daß meine Eltern und wohlmeinenden Freunde wohl Nachsicht
mit mir haben müssen und daß ich für jeden Wink dankbar sei. Besonders
freue mich die Einladung in sein Haus, und ich werde ihr mit vieler
Freude Folge leisten.

Als die Zeit meiner Abreise herangekommen war, packte ich die
Zeichnungen und alles, was ich in dem Rosenhause hatte, ein, nahm den
herzlichsten Abschied von dem alten Manne, Gustav, Eustach, Roland,
der gekommen war, verabschiedete mich von allen Bewohnern des Hauses,
Gartens und Meierhofes und reisete zu meinen Angehörigen in die
Hauptstadt zurück.

Das Erste, was ich dort nach dem innigsten und aufrichtigsten
Bewillkommen sah, war, daß mein Vater das teils gläserne, teils
hölzerne Häuschen, in welchem die alten Waffen hingen, um welches
sich der Epheu rankte und welches im Grunde den äußersten Ansatz oder
gleichsam einen Erker des rechten Flügels des Hauses gegen den Garten
bildete, in dem vergangenen Sommer hatte umbauen lassen. Er hatte es
bedeutend vergrößert, aber die Leisten, Spangen und Rahmen, in denen
das Glas befestigt war, hatte er in der früheren Art gelassen, nur
waren sie dem Stoffe nach neu gemacht und mit schönen Verzierungen
und Schnitzereien versehen. Die Simse des Daches waren nach
mittelalterlicher Weise verfertigt, schön geschnitzt und verziert.
Der Epheu war wieder an Leisten empor geleitet worden und blickte an
manchen Stellen durch das Glas herein. Die Fenster waren nicht mehr
nach Außen und Innen zu öffnen wie früher, sondern zum Verschieben.
Die größte Veränderung aber war die, daß der Vater zwei Säulen hatte
aufführen lassen, während früher die beiden Wände, welche nach Außen
geschaut hatten, aus Glas verfertigt gewesen waren. Diese zwei Pfeiler
hatten genau die Abmessungen, daß die zwei Verkleidungen, welche ich
ihm in dem vorigen Herbste gebracht hatte, auf dieselben paßten. Die
Verkleidungen waren aber noch nicht auf ihnen, weil das Mauerwerk
zuerst austrocknen mußte, daß das Holz an demselben keinen Schaden
nehmen konnte. Der Vater hatte mir nur den ganzen Plan und die
Vorrichtungen zu seiner Ausführung gesagt. So wie es mich einerseits
freute, daß der Vater das Holzkunstwerk so schätzte, daß er eigens zu
dem Zwecke, es anbringen zu können, das Häuschen hatte umbauen lassen,
so war es mir andererseits erst recht schmerzlich, daß ich die
Ergänzungen zu den Verkleidungen nicht aufzufinden im Stande gewesen
war. Ich sagte dem Vater von meinen Bemühungen und von meinem
Leidwesen wegen des schlechten Erfolges. Er und die Mutter trösteten
mich und sagten, es sei alles auch in der vorhandenen Gestalt recht
schön, was verschwunden ist und nicht mehr erlangt werden kann,
müsse man nicht eigensinnig anstreben, sondern sich an dem, was eine
gute Gunst uns noch erhalten habe, freuen. Das Häuschen werde eine
Erinnerung sein, und so oft man sich in demselben, wenn es vollkommen
in den Stand gesetzt sein werde, befinden werde, werde einem die Zeit
vorschweben, in welcher das Holzwerk gemacht worden sei, und die,
in welcher ein lieber Sohn es zur Freude des Vaters ans dem Gebirge
gebracht habe.

Ich mußte mich wohl, obgleich ungern, beruhigen. Es erschien mir
jetzt erst recht schön, wenn die Verkleidungen am ganzen Innern des
Häuschens herum liefen und über ihnen einerseits die Pfeiler und
andererseits die Fenster schimmerten.

Nach einigen Tagen, in welchen die ersten Besprechungen geführt
wurden, die nach einer Reise eines Familiengliedes im Schoße
einer Familie immer vorfallen, wenn auch die Reise eine jährlich
wiederkommende ist, legte ich dem Vater, da unterdessen auch meine
Koffer und Kisten angekommen waren, die Abbildungen vor, welche ich
von den Geräten und Fußböden im Rosenhause und im Sternenhofe gemacht
hatte. Ich war auf die Wirkung sehr neugierig. Ich hatte einen Sonntag
abgewartet, an welchem er Zeit hatte und an welchem er gerne nach dem
Mittagessen eine geraume Weile in dem Kreise seiner Familie zubrachte.
Ich legte die Blätter vor ihm auf einem Tische auseinander. Er schien
mir bei ihrem Anblick - ich kann sagen - betroffen. Er sah die Blätter
genau an, nahm jedes mehrere Male in die Hand und sagte längere Zeit
kein Wort. Endlich ging seine Empfindung in eine unverhohlene Freude
über. Er sagte, ich wisse gar nicht, was ich gemacht hätte, ich wisse
gar nicht, welchen Wert diese Dinge hätten, ich hätte in früherer Zeit
die Schönheit und Zusammenstimmigkeit dieser Dinge mit Worten gar
nicht so in das rechte Licht gestellt, wie es sich jetzt in Farbe und
Zeichnung, wenn auch beides mangelhaft wäre, beurkunde. Im ersten
Augenblicke hielt der Vater die Geräte, welche ich in dem Sternenhofe
abgebildet hatte, für wirklich alte; als ich ihn aber auf die
tatsächlichen Verhältnisse derselben aufmerksam machte, sagte er, das
müsse ein außerordentlicher Mensch sein, der diese Entwürfe gemacht
habe, er müsse nicht nur mit der alten Bauart und Zusammenstellung der
Geräte sehr vertraut sein, sondern er müsse auch ein ungewöhnliches
Schönheitsgefühl haben, um aus der Menge der überlieferten Gestalten
das zu wählen, was er gewählt habe. Und die Zusammenreihung der Geräte
sei so aus einem Gusse, als wären sie einstens zu einem Zweck und
in einer Zeit verfertigt worden. Auch die wirklich alten Geräte im
Rosenhause seien von einer Schönheit, wie er sie nie gesehen habe,
obgleich ihm die vorzüglichsten und berühmtesten Sammlungen der Stadt
und mancher Schlösser bekannt wären. Zwei so auserlesene Stücke wie
den großen Kleiderschrein und den Schreibschrein mit den Delphinen
dürfte man kaum irgendwo finden. Sie wären wert, in einem kaiserlichen
Gemache zu stehen.


Ich erzählte ihm, um den Mann, der die Entwürfe für den Sternenhof
gemacht hatte, näher zu bezeichnen, daß ich viele Bauzeichnungen und
Zeichnungen von anderen Dingen in dem Rosenhause gesehen habe, welche
weit höhere Gegenstände darstellen und auch mit einer ungleich
größeren Vollendung ausgeführt seien, als ich bei meinen Abbildungen
anzubringen im Stande gewesen wäre. Diese Arbeiten seien bei dem Manne
Vorbildungen gewesen, damit er die Entwürfe hätte machen können, die
er gemacht habe.

Er schien auf meine Worte nicht zu achten, sondern legte irgend ein
Blatt hin, nahm ein anderes auf und betrachtete es.

»So weit ich aus den Abbildungen urteilen kann«, sagte er, »sind die
altertümlichen Gegenstände, welche du mir da veranschaulicht hast,
nicht nur an sich sehr vortrefflich, sondern sie sind auch höchst
wahrscheinlich, wie Farbe und Zeichnung dartut, sehr zweckmäßig wieder
hergestellt. Meine Habseligkeiten sinken dagegen zu Unbedeutenheiten
herab, und ich sehe aus diesen Blättern, wie man die Sache anfassen
muß, wenn man die Zeit, die Kenntnisse und die Mittel dazu hat.«

Mich freute es jetzt recht sehr, daß ich auf den Gedanken gekommen
war, dem Vater diese Dinge nachzubilden, um ihm eine Vorstellung von
ihnen zu geben; mich freute sein Anteil, den er an ihnen nahm, und die
Freude, die er darüber hatte.

»Es sind nun zwei Wege, die zu gehen sind«, meinte die Mutter,
»entweder kannst du dir nach diesen Gemälden die Dinge, die sie
darstellen, machen lassen, um dich immerwährend daran zu ergötzen,
oder du kannst in den Asperhof und Sternenhof reisen und sie in
Wirklichkeit sehen, um eine Freude zu haben, so lange du sie siehst,
und in der Erinnerung dich zu laben, wenn du wieder weggereist bist.«

Der Vater antwortete: »Die Geräte, die hier gezeichnet sind,
nachmachen zu lassen, ist eine Unzukömmlichkeit; denn erstens müßte
hiezu die Einwilligung des Eigentümers erlangt werden, und wenn sie
auch erlangt worden wäre, so hätten zweitens die nachgebildeten
Gegenstände in meinen Augen nicht den Wert, den sie haben sollten,
weil sie doch nur, wie die Maler sagen, Copien wären. Es böte sich
auch noch der Gedanke, mit Einwilligung des Eigentümers nach diesen
Abbildungen neue Zusammenstellungen entwerfen und in Wirklichkeit
ausführen zu lassen; allein das verlangt eine so große
Geschicklichkeit, welche ich nicht nur mir nicht zutraue, sondern
welche ich auch an den Arbeitern in ähnlichen Dingen, die ich in
unserer Stadt kenne, nicht aufzufinden hoffe. Und zuletzt wären die
verfertigten Gegenstände doch noch immer nichts mehr als halbe Copien.
Das Verfertigen geht also nicht. Was deinen zweiten Weg anbelangt,
Mutter, so werde ich ihn gewiß gehen. Ich habe mir schon früher bei
den Erzählungen von diesen Dingen vorgenommen, die Reise zu ihnen zu
machen; jetzt aber, da ich die Abbildungen sehe, werde ich die Reise
nicht nur um so gewisser, sondern auch in viel näherer Zeit machen,
als es wohl sonst hätte geschehen können.«

»Das wird recht schön sein«, riefen wir fast alle aus einem Munde.

Die Mutter sagte: »Du solltest gleich die Zeit bestimmen und solltest
gleich mit deinem Sohne verabreden, daß er dich in derselben zu dem
alten Manne in das Rosenhaus führe, welcher dich schon auch in den
Sternenhof geleiten würde.«

»Nun, so dränget nur nicht«, erwiderte er, »es wird geschehen, das
ist genug; binden, wißt ihr, kann sich ein Mann nicht, der von seinem
Geschäfte abhängt und nicht wissen kann, welche Umstände einzutreten
vermögen, die von ihm Zeit und Handlungen fordern.«

Die Mutter kannte ihn zu gut, um weiter in ihn zu dringen, er würde
bei seinem ausgesprochenen Satze geblieben sein. Sie beruhigte sich
mit dem Erlangten.

Sowohl sie als die Schwester dankten mir, daß ich dem Vater die Bilder
gebracht hatte, die ihm ein solches Vergnügen bereiteten.

»Die Fußböden müssen auch vortrefflich sein«, rief er aus.

»Sie sind viel schöner als die ungefähre Malerei andeuten kann«,
erwiderte ich, »mein Pinsel kann noch immer nicht den Glanz und die
Zartheit und das Seidenartige der Holzfasern ausdrücken, was man alles
dort so liebt, daß nur mit Filzschuhen auf diesen Böden gegangen
werden darf.«

»Das kann ich mir denken«, antwortete er, »das kann ich mir denken.«

Hierauf mußte ich ihm alle Hölzer nennen, die hier mit Farben
angegeben waren und aus denen die abgebildeten Gegenstände bestanden.
Die meisten kannte er ohnehin, was mich freute, weil es der Beweis
war, daß ich die Farben nicht unsachgemäß angewendet habe. Die er
nicht kannte, nannte ich ihm. Ich wußte sie fast alle ganz genau
anzugeben.

Er verwunderte sich wieder und immer aufs Neue und suchte sich die
Gegenstände recht lebhaft vorzustellen.

Die Mutter und Schwester fragten mich, ob ich recht lange zu dieser
Arbeit gebraucht hätte und ob ich nicht dabei beklommen gewesen wäre.

Ich antwortete, daß ich des Zweckes willen sehr fleißig gewesen sei,
daß es anfänglich langsam gegangen sei, daß ich aber nach und nach
Übung erlangt hätte und daß ich dann weit schneller vorwärtsgekommen
sei, als ich selber geahnt habe. Und was die Beklemmung anbelangt, so
hätte ich sie freilich im Anfange gehabt; aber da die Dinge einmal auf
mich gewirkt hätten, da ich in Eifer geraten wäre, da sich hie und
da ein Gelingen eingestellt hätte, namentlich da mir durch die
Entschiedenheit der Erscheinung mancher Holzgattung die Farbe
gleichsam von selber in die Hand gegeben worden wäre, so hätte sich
bald die Unbefangenheit eingefunden und nach und nach sich die Lust
hinzu gesellt.

Nach diesen Worten zeigte mir der Vater auch manchen Fehler, den ich
in den Arbeiten gemacht hätte, und setzte mir auseinander, wie ich
selbe, falls ich wieder ähnliche Dinge entwerfen sollte, vermeiden
könnte. Da er Gemälde hatte, da er sich seit Jahren mit denselben
beschäftigt hatte, so durfte ihm wohl ein Urteil in dieser Hinsicht
zugewachsen sein, und ich erkannte das, was er sagte, als vollkommen
richtig an und glaubte mich aber auch befähigt zu fühlen, es in
Zukunft besser zu machen.

Nach den Fehlern ging der Vater auch auf die Vorzüge der Arbeit über
und sagte, daß er nach den Zeichnungen von Köpfen, die ich vor einiger
Zeit gemacht hätte, zu schließen, von mir nicht erwartet hätte, daß
ich etwas so Sachgemäßes in Ölfarben würde ausführen können.

Dieser Sonntagsnachmittag war eine sehr liebe, angenehme Zeit.

Die Freundlichkeit der Schwester, die sie besonders an diesem
Nachmittage an den Tag legte, war mir ein schönerer Lohn, als wenn ein
Kenner gesagt hätte, daß meine Blätter ausgezeichnet seien, das Lob
der Mutter, daß ich auf den Vater und das väterliche Haus gedacht habe
und aus Liebe zu beiden, um Freude zu bereiten, eine beschwerliche
Arbeit unternommen habe, erregte mir die angenehmsten Gefühle, und da
auch der Vater mit einigen gewählten Worten seinen Dank aussprach und
sagte, daß er dieses Zartgefühl nicht vergessen werde, konnte ich nur
mit großer Gewalt die Tränen bemeistern.

Ich gab ihm alle Blätter als Eigentum, und er reihte sie seiner
Sammlung von Merkwürdigkeiten ein.

Am nächsten Tage packte ich die Zithern aus, legte beide der Schwester
vor und ließ ihr die Wahl, ob sie die meinige oder die neuangekaufte
als für sie gehörig annehmen wolle. Sie wählte die neue und freute
sich darüber sehr. Ich zeigte ihr auch die Stücke, welche ich mir nach
dem Spiele meines Gebirgslehrmeisters geschrieben hatte, und ließ sie
ihr in ihrem Zimmer, daß sie sie abschreiben lassen könne und daß sie
ihre Übungen darnach begönne. Ich versprach ihr, in diesem Winter ihr
Lehrer in dieser Kunst zu sein.

Nach einiger Zeit brachte ich auch meine Malereien von
Gebirgslandschaften zum Vorscheine. Ich hatte bis dahin immer nicht
den Mut dazu gehabt; aber endlich machte mir mein Gewissen zu bittere
Vorwürfe, daß ich gegen meine Angehörigen Heimlichkeiten habe. Ich
zeigte meinem Vater die Blätter auch an einem Sonntagsnachmittage. Ich
blickte ihm erstaunt in das Angesicht, als er dieselben gesehen hatte
und das Nehmliche sagte, was mein Gastfreund im Rosenhause und was
Eustach gesagt hatten. Bei diesen letzten beiden hatte es mich nicht
gewundert, da ich sie für Kenner hielt und da sie Gebirgsbewohner
waren. Der Vater aber, der zwar Bilder besaß, war ein Kaufherr und
war nie lange in dem Gebirge gewesen. Es erhöhte dies meine Ehrfurcht
gegen ihn noch mehr. Er zeigte mir, wo ich unwahr gewesen war,
und setzte mir auseinander, wie es hätte sein sollen, was ich
augenblicklich begriff. Das was er lobte und richtig fand, gefiel mir
selber nachher doppelt so wohl.

Klotilden mußte ich die Blätter noch einmal und allein in ihrem Zimmer
zeigen. Sie verlangte, daß ich ihr beinahe alles erkläre. Sie war nie
in höherem oder im Urgebirge gewesen, sie wollte sehen, wie diese
Dinge beschaffen seien, und sie reizten ihre Aufmerksamkeit sehr.
Obgleich meine Malereien keine Kunstwerke waren, wie ich jetzt immer
mehr einsah, so hatten sie doch einen Vorzug, den ich erst später
recht erkannte und der darin bestand, daß ich nicht wie ein Künstler
nach Abrundung noch zusammenstimmender Wirkung oder Anwendung von
Schulregeln rang, sondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen
hingab und sie so darzustellen suchte, wie ich sie sah. Dadurch
gewannen sie, was sie auch an Schmelz und Einheit verloren, an
Naturwahrheit in einzelnen Stücken und gaben dem Nichtkenner und dem,
der nie die Gebirge gesehen hatte, eine bessere Vorstellung als schöne
und künstlerisch vollendete Gemälde, wenn sie nicht die vollendetsten
waren, die dann freilich auch die Wahrheit im höchsten Maße trugen.
Aus diesem Grunde sagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter Ahnung,
sie wisse jetzt, wie die Berge aussehen, was sie aus vielen und guten
Bildern nicht gewußt hätte. Sie äußerte auch den Wunsch, einmal die
hohen Berge selber sehen zu können, und meinte, wenn der Vater die
Reise in das Rosenhaus und in den Sternenhof mache und bei dieser
Gelegenheit auch die Gebirge besuche, werde sie ihn bitten, sie
mitreisen zu lassen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Bergen,
beschrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte sie mit manchen
Eigentümlichkeiten derselben bekannt und setzte ihr meine
verschiedenen Reisen in denselben und meine Bestrebungen ausführlicher
als sonst auseinander. Ich hatte nie so viel von den Gebirgen mit
ihr geredet. Nach diesen Worten verlangte sie auch, daß ich sie
unterrichte, ebensolche Abbildungen verfertigen zu können, wie sie
hier vor ihr liegen. Sie wolle sich Farben und alle andere dazu
notwendigen Gerätschaften verschaffen. Da sie ohnehin ziemlich gut
zeichnen konnte, so war die Sache nicht so schwierig als sie beim
ersten Anscheine ausgesehen hatte. Ich versprach ihr meinen Beistand,
wenn die Eltern einwilligen würden.

Wir fragten nach einiger Zeit die Eltern. Sie hatten im Ganzen
nichts dagegen, nur die Mutter verlangte ausdrücklich, daß diese
Arbeiten nur Nebendinge sein sollen, Dinge zum Vergnügen, nicht
Hauptbeschäftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes sei ihr Haus,
diese Dinge können zwar auch recht wohl in das Haus gehören; aber
einseitig oder gar mit Leidenschaft betrieben, untergraben sie eher
das Haus, als sie es bauen helfen. Klotilde aber sei schon so alt, daß
sie sich ihrem künftigen Berufe zuwenden müsse.

Wir begriffen das alles und versprachen, nichts ins Übermaß gehen
lassen zu wollen.

Es wurden alle Erfordernisse angeschafft, und wir begannen in
gegönnten Zeiten die Arbeit.

Auch spanisch wollte die Schwester von mir lernen. Ich betrieb es
fort, und da ich ihr voraus war, wurde ich auch hierin ihr Lehrer,
was die Mutter mit derselben Einschränkung wie das Landschaftsmalen
gelten ließ. Es waren also in unserem Hause für dieses Jahr mehr
Beschäftigungen für mich vorhanden als in anderen Zeiten.

Es war mir in jenem Herbste besonders wunderbar, daß weder Vater noch
Mutter genauer nach meinem Gastfreunde fragten. Sie mußten entweder
nach meinen Erzählungen ein entschiedenes Vertrauen in ihn setzen
oder sie wollten durch zu vieles Einmischen die Unbefangenheit meiner
Handlungen nicht stören.


Bei allen häuslichen Bestrebungen fing ich bei dem herannahenden
Winter doch ein etwas anderes Leben an, als ich es bisher geführt
hatte, und zwar ein etwas mannigfaltigeres. Ich hatte in vergangener
Zeit nur solche Stadtkreise besucht, in welche meine Eltern geladen
worden waren oder in welche ich durch Freunde, die ich gewann, gezogen
wurde. Diese Kreise bestanden größtenteils aus Leuten von ähnlichem
Stande mit dem meines Vaters. Ich spürte Neigung in mir, nun auch
Sitten und Gebräuche so wie Ansichten und Meinungen solcher Menschen
kennen zu lernen, die sich auf glänzenderen Lebenswegen befanden. Der
Zufall gab bald hier, bald da Gelegenheit dazu, und teils suchte ich
auch Gelegenheiten. Es geschah, daß ich Bekanntschaften machte und
mitunter auch fortsetzen konnte. Ich lernte Leute von höherem Adel
kennen, lernte sehen, wie sie sich bewegen, wie sie sich gegenseitig
behandeln und wie sie sich gegen solche, die nicht ihres Standes sind,
benehmen.

Es lebte eine alte, edle, verwittwete Fürstin in unserer Stadt, deren
zu früh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten großen
Kriegen geführt hatte. Sie war häufig mit ihm im Felde gewesen und
hatte da die Verhältnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen
gelernt, sie war in den größten Städten Europas gewesen und hatte
die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Händen die ganzen
Zustände des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die
hervorragendsten Männer und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden
Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugänglich waren,
geschrieben haben, und sie hatte alles Schöne genossen, was die Künste
hervorbringen. Einstens war sie in den höheren Kreisen eine der
außerordentlichsten Schönheiten gewesen, und noch jetzt konnte man
sich kaum etwas Lieblicheres denken als die freundlichen, klugen und
innigen Züge dieses Angesichtes. Ein Mann, der sich viel mit Gemälden
und ihrer Beurteilung abgab und oft in die Nähe der Fürstin kam, sagte
einmal, daß nur Rembrandt im Stande gewesen wäre, die feinen Töne und
die kunstgemäßen Übergänge ihres Angesichtes zu malen. Sie hatte jetzt
eine Wohnung an der Ostgrenze der innern Stadt, damit die Morgensonne
ihre Zimmer füllte und damit sie den freien Blick über das frische
Grün und auf die entfernten Vorstädte hätte. Blühende Söhne in hohen
kriegerischen Würden besuchten die alte, ehrwürdige Mutter hier, so
oft ihr Dienst ihre Anwesenheit in der Stadt gestattete und so oft
während dieser Anwesenheit ein Augenblick es erlaubte. Schöne Enkel
und Enkelinnen gingen bei ihr aus und ein, und eine zahlreiche
Verwandtschaft wurde bald in diesen, bald in jenen Mitgliedern in
ihren Zimmern gesehen. Aber geistige Erholung oder Anstrengung -
wie man den Ausdruck nehmen will - war ihr ein Bedürfnis geblieben.
Sie wollte nicht bloß das wissen, was jetzt noch auf den geistigen
Gebieten hervor gebracht wurde, und in dieser Beziehung, wenn irgend
ein Werk Ruhm erlangte und Aufsehen machte, suchte sie auch an dessen
Pforte zu klopfen und zu sehen, ob sie eintreten könnte; sondern sie
nahm oft auch ein Buch von solchen Personen in die Hand, die in ihre
Jugendzeit gefallen und dort bedeutsam gewesen waren, sie ging das
Werk durch und forschte, ob sie auch jetzt noch die zahlreichen, mit
Rotstift gemachten Zeichen und Anmerkungen wieder in derselben Art
machen oder ob sie andere an ihre Stelle setzen würde; ja sie nahm
Werke der ältesten Vergangenheit vor, die jetzt die Leute, außer sie
wären Gelehrte, nur in dem Munde führen, nicht lesen; sie wollte doch
sehen, was sie enthielten, und wenn sie ihr gefielen, wurden sie
nach manchen Zwischenzeiten wieder hervorgeholt. Von dem, was in den
Verhältnissen der Staaten und Völker vorging, wollte sie beständig
unterrichtet sein. Sie empfing daher von manchen ihrer Verwandten und
Bekannten Briefe, und die vorzüglichsten Zeitungsblätter mußten auf
ihren Tisch kommen. Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach
waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen müssen, bei
ihrem Alter doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine
Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den größten, des Lesestoffes
auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine bloße
Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die
mit ihr über das Gelesene sprach und die eine solche Bildung besaß,
daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so
wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile
von Männern, die über solche Dinge sprechen können, war die
Gesellschafterin von außerordentlicher Begabung, sie war im Stande,
jedes Große in sich aufzunehmen und wiederzugeben, so wie ihre eigenen
Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den
beachtenswertesten der Zeit gehörten. Sie blieb immer um die Fürstin,
auch wenn diese im Sommer auf ein Landgut, das in einem entfernten
Teile des Reiches lag und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging, oder wenn
sie sich auf Reisen befand oder eine Zeit an einer schönen Stelle
unsers Gebirges weilte, wie sie gerne tat. An manchen Abenden zu der
Zeit, da sie in der Stadt war, sammelte die Fürstin einen kleinen
Kreis um sich, in welchem entweder etwas vorgelesen wurde oder in
welchem man über wissenschaftliche oder gesellige oder Staatsdinge
oder Dinge der Kunst sprach. Die Kreise waren regelmäßig an gleichen
Tagen der Woche, sie waren in der Stadt bekannt, wurden sehr hoch
geachtet oder verspottet, wie eben der Beurteilende war, wurden
gesucht und bestanden zuweilen aus sehr bedeutenden Personen. In diese
Kreise hatte ich Zutritt erlangt. Die Fürstin hatte mich einige Male
getroffen, es war einmal von meiner Wissenschaft die Rede gewesen, sie
war sehr neugierig, was man denn von der Geschichte der Erdbildung
wisse und aus welchen Umständen man seine Schlüsse ziehe, und sie
hatte mich in ihre Nähe gezogen. Ich hörte aufmerksam zu, wenn ich an
den bestimmten Abenden in ihrem Gesellschaftszimmer war, sprach selber
wenig und meistens nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. Die Fürstin
saß in schwarzem oder aschgrauem Seidenkleide - lichtere trug sie nie
- in ihrem Polsterstuhle und hatte einen Schemel unter ihren Füßen.
Die Lampe trug gegen ihre Seite hin einen grünen Schirm und goß ihr
Licht in die Gegend der Vorleserin oder des Vorlesers, wenn eben
gelesen wurde. Die Andern saßen nach ihrer Bequemlichkeit herum.
Meistens bildete sich von selber eine Art Kreis. Man hörte in tiefer
Stille dem Vorlesen zu und nahm an den Gesprächen, die nach dem Lesen
folgten oder die, wenn gar keine Vorlesung war, den ganzen Abend
erfüllten, den eifrigsten Anteil. Die Fürstin konnte ihnen den
lebhaftesten und tiefsten Fortgang geben. Es schien, daß das, was die
vorzüglichsten Männer in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt
wurde und daß ihre größte Gabe darin bestand, das, was in Anderen war,
hervor zu rufen. Sie saß dabei mit ihrer äußerst zierlichen Gestalt
auf die anmutigste Weise in ihrem Stuhle und bewegte noch als
hochbetagte Frau die Gesellschaft mit ihrer herrlichen Schönheit.
Zuweilen, wenn sich ihr Inneres erregte, stand sie auf, hielt sich
an ihrem Stuhle und erklärte und sprach zu den Anwesenden mit ihrer
klaren, zarten, wohllautenden Stimme.

Ich lernte verschiedene Menschen in den Zimmern der Fürstin
kennen. Zuweilen war es ein hervorragender Künstler, den man dort
sprechen hörte, zuweilen ein Staatsmann, der mit den wichtigsten
Angelegenheiten unseres Landes betraut war, oder es war sonst eine
bedeutende Persönlichkeit der Gesellschaft, oder es waren die Säulen
und die Führer unseres tapferen Heeres. Ich hörte bei der Fürstin
Aussprüche, die ich mir merken wollte, die ich mir aufschrieb und die
mir ein unveräußerliches Eigentum bleiben sollten. Ich gestehe es,
daß ich nie ohne eine gewisse Beklemmung in das Zimmer mit den
blaubemalten Wänden und den dunkelblauen Geräten und den einigen
Bildern, worunter mich besonders das anzog, welches ihren Landsitz
darstellte, trat, und ich gestehe es, daß ich nie das Zimmer ohne Ruhe
und Befriedigung verließ. Ich empfand, daß jene Abende für mich von
großer Bedeutung, daß sie eine Zukunft seien.

Außer den besonders hervorragenden Menschen lernte ich bei der Fürstin
auch noch andere Personen, des höheren Adels unseres Reiches, kennen,
kam manches Mal mit den Kreisen desselben in Berührung und sah seine
Art, seine Lebensweise und seine Sitten.


Neben diesen Abteilungen der menschlichen Gesellschaft kam ich auch
mit anderen zusammen. Es war in der Stadt ein öffentlicher Ort,
welcher hauptsächlich von Künstlern aller Art besucht wurde, welche
sich dort besprachen, Erfrischungen zu sich nahmen, Zeitungen lasen
oder sich mit körperlichen Spielen ergötzten. Diesen Ort besuchte ich
gerne. Da war der eine oder der andere Schauspieler von der Hofbühne
oder von der Oper, da war ein Maler, dessen Namen damals hoch
gepriesen wurde, da waren Tonkünstler, sowohl ausübende als dichtende,
da waren Bildhauer und Baumeister, vorzüglich aber waren es
Schriftsteller und Dichter, und es befanden sich darunter auch
Vorstände und Mitarbeiter an Zeitungsanstalten.

Von anderen Personen waren höhere Staatsdiener, Bürger, Kaufleute und
überhaupt solche vorhanden, die einen Anteil an Kunst und Wissenschaft
und an einem dahin abzielenden Umgange nahmen. Wenn auch eigentlich
nur eine ungezwungene Heiterkeit herrschte, wenn auch nur Spiele zu
körperlicher Bewegung und daneben das Schachspiel vorzuherrschen
schienen, so waren doch auch Gespräche und, wie es bei solchen Männern
zu erwarten war, Gespräche sehr lebhafter Natur im Gange, und waren
doch im Grunde die Hauptsache. Da konnte man in leichten Worten den
tiefen Geist des Einen sehen oder den ruhigen, der alles zersetzt
und in seine Bestandteile auflöst, oder den lebhaften, der darüber
weggeht, oder den leichtfertigen, der alles verlacht, oder den, dessen
Sitten selbst ein wenig bedenklich waren. Oft war es nur ein Wort, ein
Witz, der den Grund geben konnte, um Schlüsse zu bauen. Trotz meiner
Schüchternheit, die mich ferne hielt, geriet ich doch in Gespräche
und lernte den einen und andern Mann von denen kennen, die sich hier
einfanden. Selbst das äußere Benehmen und Gebaren von Männern, die
sonst solche Geltung haben, schien mir nicht gleichgiltig.

Ich besuchte in jenem Winter auch gerne Orte, an welchen sich
viele Menschen zu ihren Vergnügungen versammeln, um die Art ihrer
Erscheinung, ihr Wesen und ihr Verhalten als eines Ganzen sehen zu
können. Vorzüglich ging ich dahin, wo das eigentliche Volk, wie man es
jetzt häufig zum Gegensatze der sogenannten Gebildeten nennt, zusammen
kömmt. Die man gebildet nennt, sind fast überall gleich; das Volk
aber ist ursprünglich, wie ich es bei meinen Wanderungen schon kennen
lernte, und hat seine zugearteten Bräuche und Sitten.

Ich ging in die guten Darstellungen von Musikstücken, ich fuhr im
Besuche des Hoftheaters fort, ging jetzt auch in die Oper und besuchte
manche öffentliche wissenschaftliche Vorträge, dann Kunst- und
Büchersammlungen, hauptsächlich aber zur Vervollkommnung meiner
eigenen künftigen Arbeiten die Sammlungen von Gemälden.

Den Umgang mit meinem neuen Freunde, dem Sohne des Juwelenhändlers,
setzte ich fort. Wir begannen endlich in der Tat einen eigenen
Unterrichtsgang über Edelsteine und Perlen. Zwei Tage in der Woche
waren festgesetzt, an denen ich zu einer bestimmten, für ihn
verfügbaren Stunde kam und so lange blieb, als es eben seine Zeit
gestattete. Er führte mich zuerst in die Kenntnis aller jener
Mineralien ein, welche man Edelsteine nennt und vorzüglich zu Schmuck
benützt. Ebenso zeigte er mir alle Gattungen von Perlen. Hierauf
unterrichtete er mich in dem Verfahren, die Juwelen zu erkennen und
von falschen zu unterscheiden. Später erst ging er auf die Merkmale
der schönen und der minder schönen über. Bei diesem Unterrichte kamen
mir meine Kenntnisse in den Naturwissenschaften sehr zu statten, ja
ich war sogar im Stande, durch Angaben aus meinem Fache die Kenntnisse
meines Freundes zu erweitern, besonders was das Verhalten der
Edelsteine zum Lichtdurchgang, zur doppelten Brechung und zu der
sogenannten Polarisation des Lichtes anbelangt. Ich hatte aber noch
immer nicht den Mut, über die gebräuchliche Fassung der Edelsteine mit
ihm zu sprechen und meine Gedanken hierüber ihm mitzuteilen.

Unter diesen Dingen ging neben meinen eigentlichen Arbeiten der
Unterricht, den ich meiner Schwester gab, regelmäßig fort. In der
Malerei hatte sie noch viel größere Schwierigkeiten als ich, weil sie
einesteils weniger geübt war und weil sie andernteils die Urbilder
nicht gesehen, sondern nur fehlerhafte Abbilder vor sich hatte. Im
Zitherspiel ging es weit besser. Ich wurde heuer ein wirksamerer
Lehrer, als ich es in dem vergangenen Jahre gewesen war, und konnte
nach dem, was ich gelernt hatte, überhaupt ein besserer Lehrer für
sie sein, als einer in der Stadt zu finden gewesen wäre, obwohl diese
Schwierigkeiten überwanden, deren Besiegung mir und Klotilden eine
Unmöglichkeit gewesen wäre. Nach meinen Ansichten, die ich in den
Bergen gelernt hatte, kam es aber darauf nicht an. Wir lernten
endlich wechselweise von einander und brachten manche freudige und
empfindungsreiche Stunde an der Zither zu.

Ich mußte zuletzt Klotilden auch im Spanischen unterrichten. Da ich
immer einige Schritte von ihr voraus war, so konnte ich allerdings
einen Lehrer für sie wenigstens in den Anfangsgründen vorstellen. Wie
es im weiteren Verlaufe zu machen wäre, würde sich zeigen. Wir lebten
uns in ein wechselseitiges Tätigkeitsleben hinein.

So verging der Winter, und ich blieb damals bis ziemlich tief in das
Frühjahr hinein bei den Meinigen in der Stadt.



Die Annäherung

Obwohl fast den ganzen Winter hindurch davon die Rede gewesen war,
daß mich der Vater in dem nächsten Frühlinge in das Gebirge begleiten
werde und daß er bei dieser Gelegenheit den Mann im Rosenhause
besuchen wolle, um dessen Seltenheiten und Kostbarkeiten zu sehen, so
hatte er doch, als der Frühling gekommen war, nicht Zeit, sich von
seinen Geschäften zu trennen, und ich mußte wie in allen früheren
Jahren meine Reise allein antreten.

Als ich zu meinem Gastfreunde gekommen war, war das Erste, daß ich
ihm von den Wandverkleidungen erzählte. Ich hatte früher ihrer nicht
erwähnt, weil ich sie doch nicht für so wichtig gehalten hatte. Ich
erzählte ihm, daß ich sie in dem Lauterthale gefunden und gekauft
habe und daß sie aus Schnitzarbeit von Gestalten und Verzierungen
bestanden. Der Vater, dem ich sie gebracht, habe eine große Freude
darüber gehabt, habe sie nicht nur mit großem Vergnügen empfangen,
sondern habe auch einen Teil eines Nebenbaues unseres Hauses umgebaut,
um die Verkleidungen geschickt anbringen zu können. Dieses letztere
habe mir erst gezeigt, wie wert der Vater diese Dinge halte, und
dies habe mich bestimmt, noch genauer nachzuforschen, ob ich denn
die Ergänzungen zu dem Getäfel nicht aufzufinden vermöge; denn
das, was der Vater habe, seien nur Bruchstücke, und zwar zwei
Pfeilerverkleidungen, das übrige fehle. Ich habe wohl schon
Nachforschungen in der besten Art, wie ich glaube, angestellt; aber
ich wolle sie doch noch fortsetzen und versuchen, ob ich nicht noch
neue Mittel und Wege auffinden könne, zu meinem Ziele, wenn es noch
vorhanden sei, zu gelangen oder die größtmögliche Gewißheit zu
erhalten, daß das Gesuchte nicht mehr bestehe.

Ich beschrieb meinem Gastfreunde, so gut ich es aus der Erinnerung
konnte, die Vertäflungen und machte ihn mit dem Fundorte und den
Nebenumständen bekannt. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich das darum
tue, daß er mir einen Rat geben möge, wie ich etwa weiter vorzugehen
habe. Es handle sich um einen Gegenstand, der meinem Vater nahe gehe.
Nicht vorzüglich, weil diese Dinge schön seien, obwohl dies auch ein
Antrieb für sich sein könnte, sondern hauptsächlich darum suche ich
darnach zu forschen, weil sie dem Vater Freude machen. Je älter er
werde, desto mehr schließe er sich in einem engen Raume ab, sein
Geschäftszimmer und sein Haus werden nach und nach seine ganze Welt,
und da seien es vorzüglich Werke der bildenden Kunst und die Bücher,
mit denen er sich beschäftige und die Wirkung, welche diese Dinge auf
ihn machen, wachse mit den Jahren. Er habe sich von dem Schnitzwerke
in den ersten Tagen kaum trennen können, er habe es in allen Teilen
genau betrachtet und sei zuletzt so mit demselben bekannt geworden,
als wäre er bei dessen Verfertigung zugegen gewesen. Darum wolle ich
so vorgehen, daß ich mich nicht in die Lage setze, mir einen Vorwurf
machen zu müssen, daß ich in meinen Nachforschungen etwas versäumt
habe. Bisher seien sie freilich fruchtlos gewesen.

Mein Gastfreund fragte mich noch um einige Teile des Werkes und seines
Auffindens, die ich ihm nicht dargestellt hatte oder die ihm dunkel
geblieben waren, und ließ sich die Örtlichkeiten des Auffindens noch
einmal auf das Umständlichste beschreiben. Hierauf sagte er mir, ich
möge an meinen Vater ungesäumt einen Brief senden und ihn bitten, die
genauen Ausmaße des Schnitzwerkes nach Außen und nach Innen zu nehmen
und mir zu schicken. Ich begriff augenblicklich die Zweckmäßigkeit der
Maßregel und schämte mich, daß sie mir selber nicht früher eingefallen
war. Er selber wolle vorläufig an Roland schreiben und ihm dann,
wenn sie eingelangt wären, die Ausmaße schicken. Auch wolle er seine
Geschäftsführer in jener Gegend beauftragen, sich um die Sache zu
bemühen. Wenn das Gesuchte zu finden ist, so dürfte Roland der
geeignetste Mithelfer sein, und die anderen Männer, die er noch
auffordern werde, hätten sich schon in den verschiedensten
Gelegenheiten sehr erprobt.

Ich dankte meinem Gastfreunde auf das Verbindlichste für seine
Gefälligkeit und versprach, in nichts säumig zu sein.

Am nächsten Morgen trug ein Bote meinen Brief an den Vater und die
Briefe meines Gastfreundes an Roland und andere Männer auf die nächste
Post. Mein Gastfreund mußte bis in die tiefe Nacht geschrieben haben,
denn es war ein ganzes Päckchen von Briefen. Mich rührte diese Güte
außerordentlich, denn ich wußte nicht, wie ich sie verdient hatte.


Daß ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in dem Rosenhause
gleich an alle Orte ging, die mir lieb waren, begreift sich.

In dem Zeichnungszimmer Eustachs fand ich den Musiktisch fertig. Es
war seit seiner Vollendung erst eine kurze Zeit verflossen, deshalb
stand er noch an dieser Stelle. Ich hatte nicht geahnt, daß das Werk,
das ich bei Beginn seiner Wiederherstellung gesehen hatte, sich so
darstellen würde, wenn es fertig wäre. Ich hatte Bilder, Bauwerke,
Zeichnungen und dergleichen in jüngster Zeit in großer Menge gesehen
und selber ähnliche Dinge verfertigt, ich konnte mir daher in solchen
Sachen ein kleines Urteil zutrauen; aber, wenn ich nicht gewußt hätte,
daß der Rahmen und das Gestelle des Tisches neu gemacht worden sei, so
hätte ich es nie erkannt, so sehr paßte beides im Baue, in der ganzen
Art und selbst in der Farbe des Holzes zu der Platte. Das ganze
Werk stand rein, glänzend und klar vor den Augen. Die Farbe der
verschiedenen Hölzer an den Verzierungen, am Laubwerke, am Obste und
an den Geräten trat unter der Macht des Harzes kräftig und scharf
hervor. Selbst die Mißverhältnisse der Größen in den verschiedenen
eingelegten Geräten, zum Beispiele zwischen der Flöte, der Geige, der
Trommel, welche mir bei meinem ersten Besuche in dem Schreinerhause
Anstoß gegeben hatten, erschienen mir jetzt als naiv und hatten etwas
Anziehendes für mich, welches mir die Tischplatte lieber machte als
wenn sie ganz fehlerfrei oder etwa nach neuen Kunstbegriffen gemacht
gewesen wäre. Ich fragte Eustach, wohin der Tisch zu stehen kommen
würde. Er konnte es mir nicht sagen. Es sei darüber nichts eröffnet
worden, ob er in dem Hause bleiben oder ob er irgend wohin versendet
werden würde. Jetzt bleibe er hier stehen, damit alle Nachtrocknungen
in jener allmählichen Stufenfolge vor sich gehen können, wie sie bei
jedem neuverfertigten Geräte eintreten müssen, daß es nicht Schaden
leide. Die meisten der neuverfertigten oder wiederhergestellten Werke
seien zu diesem Zwecke in dem Zeichnungszimmer stehen geblieben, wenn
sie anders dort Platz hatten. Ich betrachtete den Tisch noch eine
Weile und ging dann zu andern Gegenständen über.

Auch die Gärtnerleute besuchte ich, die Leute des Meierhofes, die
Gartenarbeiter, die Dienstleute des Hauses und einige Nachbaren, zu
denen wir früher öfter gekommen waren und die ich näher kennen gelernt
hatte.

Obwohl ich nach dem Rate und der Einladung meines Gastfreundes
entschlossen war heuer meine Berufsarbeit, wenigstens jenes Berufes,
den ich mir selber aufgelegt hatte, ruhen zu lassen, sondern einen
Teil des Sommers in dem Rosenhause zu verleben und mich meiner Laune
und dem Augenblicke hinzugeben: hatte ich doch nicht den Willen, gar
nichts zu tun, was mir die größte Qual gewesen wäre, sondern mich bei
meinen Handlungen von meinem Vergnügen und der Gelegenheit leiten
zu lassen. Mein Gastfreund hatte mir die nehmlichen zwei Zimmer
eingeräumt, welche ich bisher stets inne gehabt hatte, und freute
sich, daß ich seinen Rat befolgen und einmal auch anderswohin sehen
wolle als immer einseitig auf meine Arbeiten, und daß ich einmal
zu einem allgemeineren Bewußtsein kommen wolle, als zu dem ich
mich bisher gebannt hätte. Ich hatte viele Bücher und Schriften
mitgebracht, hatte alle Werkzeuge zur Ölmalerei bei mir und hatte doch
aus Vorsicht auch einige Vorrichtungen zu Vermessungen und dergleichen
eingepackt.

Wenn man von dem Rosenhause über den Hügel, auf dem der große
Kirschbaum steht, nordwärts geht, so kömmt man in die Wiese, durch
welche der Bach fließt, an dem mein Gastfreund jene Erlengewächse
zieht, welche ihm das schöne Holz liefern, das er neben anderen
Hölzern zu seinen Schreinerarbeiten verwendet. Wir waren öfter zu
diesem Bache gekommen und seinen Ufern entlang gegangen. Er floß aus
einem Gehölze hervor, in welchem mein Gastfreund einige Wasserwerke
hatte aufführen lassen, um die Wiese vor Überschwemmungen zu sichern
und die Verwilderung des Baches zu verhindern. Im Innern des Gehölzes
befindet sich ein ziemlich großer Teich, eigentlich ein kleiner See,
da er nicht mit Kunst angelegt, sondern größtenteils von selber
entstanden war. Nur Geringes hatte man hinzu gefügt, um nicht
Versumpfungen an seinen Rändern und Überflutungen bei seinem Ausflusse
entstehen zu lassen. Das Wasser dieses Waldbeckens ist so klar, daß
man in ziemlicher Tiefe noch alle die bunten Steine sehen kann, welche
auf dem Grunde liegen. Nur schienen sie grünlich blau gefärbt, wie es
bei allen Wässern der Fall ist, die aus unsern Kalkalpen oder in deren
Nähe fließen. Rings um dieses Wasser ist das Gezweige so dicht, daß
man keinen Stein und kaum einen Uferrand sehen kann, sondern die
Zweige aus dem Wasser zu ragen scheinen. Die Bäume, die da stehen,
sind eines Teils Nadelholz, das mit seinem Ernste sich in die
Heiterkeit mischt, die auf den Ästen, Blättern und Wipfeln der
Laubbäume ruht, die den vorherrschenden Teil bilden. Vorzugsweise ist
die Erle, der Ahorn, die Buche, die Birke und die Esche vorhanden.
Zwischen den Stämmen ist reichliches Wuchergestrippe. Der Bach in der
Erlenwiese meines Gastfreundes verdankt dem See sein Dasein; aber
da dieser aus Quellzuflüssen lebt, so ist der ausfließende Bach
oft so trocken, daß man, ohne sich die Sohle zu netzen, über seine
hervorragenden Steine gehen kann. Wo er aus dem See geht, ist eine
kleine Hütte erbaut, die den Hauptzweck hat, daß die, welche in dem
See sich baden wollen, in ihr sich entkleiden können. Der Seegrund
geht mit seinen schönen Kieseln so sachte in die Tiefe, daß man
ziemlich weit vorwärts gehen und das wallende Wasser genießen kann
ohne den Grund zu verlieren. Auch zum Lernen des Schwimmens ist dieser
Teil sehr geeignet, weil man an allen Stellen Grund findet und sich
unbefangener den Übungen hingeben kann. Weiter draußen beginnt das
Gebiet derer, die ihrer Arme und ihrer Bewegungen schon vollständig
Herr sind. Gustav ging an Sommertagen fast jeden zweiten Tag mit
Eustach oder mit jemand anderm oder zuweilen auch mit meinem
Gastfreunde zu dem See hinaus, um in demselben zu schwimmen. Diese
Tätigkeit, so wie die andern Körperbewegungen und Übungen, die für
ihn in dem Rosenhause angeordnet waren, schienen ihm viele Freude zu
machen. Mein Gastfreund hielt auf körperliche Übungen sehr viel, da
sie zur Entwicklung und Gesundheit unumgänglich notwendig seien. Er
lobte diese Übungen sehr an den Griechen und Römern, welche beiden
Völker er auf eine hervorragende Weise ehrte. Das liege auf der Hand,
pflegte er zu sagen, daß, so wie die Krankheit des Körpers den Geist
zu etwas anderem mache, als er in der Gesundheit des Körpers ist, ein
kräftiger und in hohem Maße entwickelter Körper die Grundlage zu allem
dem abgebe, was tüchtig und herzhaft heißt. Bei den alten Römern ist
ein großer Teil ihrer Erfolge in der Geschichte und ihres früheren
Glückes in der Pflege und Entwicklung ihres Körpers zu suchen. Ihr
Glück dauerte auch nur so lange, als die vernünftige Pflege ihrer
Leibesübungen dauerte. In neuen Schulen vernachlässige man diese
Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger wäre, als sich durch
das Zusammengehäuftsein in dunstigen und heißen Stuben ohnehin Übel
erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden
auch die Geisteskräfte von Schülern der neuen Zeit nicht entwickelt
wie sie sollten und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern
schweifen, freilich auf Kosten ihres höheren Wesens, wirklich sind.
Daher stamme ein Teil der Schalheit und Trägheit unserer Zeiten. Ich
ging mit Gustav jetzt, da ich viele Muße hatte, sehr fleißig zu dem
Wäldchen, und da ich in der Kunst des Schwimmens eine große Fertigkeit
hatte, so sah er an mir ein Vorbild, dem er nachstreben konnte, und
lernte Gelenkigkeit und Ausdauer mehr, als er es ohne mich gekonnt
hätte.

Überhaupt gewann Gustav eine immer größere Neigung zu mir. Es mochte,
wie ich mir schon früher gedacht hatte, zuerst der Umstand eingewirkt
haben, daß ich ihm an Alter nicht so sehr ferne stand. Dazu mochte
sich gesellt haben, daß ich, der ich eigentlich sehr einsam und
abgeschlossen erzogen worden war, viel tiefer in spätere Jahre hinein
die Merkmale der Kindheit bewahrt haben mochte als andere Leute,
die gleichen Alters mit mir waren, und zuletzt konnte jetzt
auch das wirken, daß ich bei meiner Geschäftlosigkeit viel
mehr Berührungspunkte mit ihm fand, als es bei meinen früheren
Anwesenheiten in dem Rosenhause der Fall gewesen war.

Ich schrieb nun auf dem Asperhofe mehr Briefe als sonst, ich las in
Dichtern, betrachtete alles um mich herum, schweifte oft weit in die
Gegend hinaus; aber diese Lebensweise wurde mir bald beschwerlich, und
ich suchte etwas hervor, was mich tiefer beschäftigte. Die Dichter als
das Edelste, was mir jetzt begegnete, riefen wieder das Malen hervor.
Ich richtete meine Zeichnungsgeräte und meine Vorrichtungen zur
Malerei in den Stand und begann wieder meine Übungen im Malen der
Landschaft. Ich malte je nach der Laune bald ein Stück Himmel, bald
eine Wolke, bald einen Baum oder Gruppen von Bäumen, entfernte Berge,
Getreidehügel und dergleichen. Auch schloß ich menschliche Gestalten
nicht aus und versuchte Teile derselben. Ich versuchte das Antlitz
des Gärtners Simon und das seiner Gattin auf die Leinwand zu bringen.
Die beiden Leute hatten eine große Freude über das Ding, und ich gab
ihnen die Bilder in ihre Stube, nachdem ich vorher nette Rahmen dazu
bestellt und in der Zeit, bis sie eintrafen, mir Abbilder von den
Köpfen für meine eigene Mappe gemacht hatte. Ich malte die Hände oder
Büsten verschiedener Leute, die sich in dem Rosenhause oder in dem
Meierhofe befanden. Meinen Gastfreund oder Eustach oder Gustav zu
bitten, daß sie mir als Gegenstand meiner Kunstbestrebungen dienen
sollten, hatte ich nicht den Mut, weil die Erfolge noch gar zu
unbedeutend waren.


Gustav nahm unter allen den größten Anteil an diesen Dingen. So wie er
im vorigen Jahre Geräte mit mir gemalt hatte, versuchte er es heuer
auch mit den Landschaften. Sein Ziehvater und sein Zeichnungslehrer
hatten nichts dagegen, da nur freie Stunden zu diesen Beschäftigungen
verwendet wurden, da seine Körperübungen nicht darunter zu leiden
hatten und da sich dadurch das Band zwischen mir und ihm noch mehr
befestigte, was mein Gastfreund nicht ungern zu sehen schien, da
doch zuletzt der Jüngling niemanden hatte, an wen er das Gefühl der
Freundschaft leiten sollte, das in seinen Jahren so gerne erwacht und
das sich in sanftem Zuge an einen Gegenstand richtet. Da unter seiner
Hand ein Baum, ein Stein, ein Berg, ein Wässerchen in lieblichen
Farben hervorging, hatte er eine unaussprechliche Freude. Bei Eustach
hatte er nur größtenteils Bau- und Gerätezeichnungen gesehen, und
Roland hatte auch nur Ähnliches von seinen Reisen zurück gebracht. Was
von Landschaften in der Gemäldesammlung seines Ziehvaters hing, auf
denen er wohl grüne Bäume, weiße Wolken, blaue Berge beobachten
konnte, hatte er nie um seine Entstehung angeschaut, sondern die Dinge
waren da, wie auch andere Dinge da sind, das Haus, der Getreidehügel,
der Berg, der ferne Kirchturm, und er hatte nicht daran gedacht, daß
auch er solche Gegenstände hervorzubringen vermochte. Er redete auf
Spaziergängen davon, wie dieser Baum sich baue, wie jener Berg sich
runde, und er erzählte mir, daß ihm oft von dem Zeichnen lebhaft
träume.

Man ließ den Jüngling auch auf größere Entfernungen von dem Rosenhause
mit mir gehen. Seine Arbeiten wurden dabei so eingerichtet, daß,
wenn sie auch unterbrochen werden mußten, ein wesentlicher Schaden
sich nicht einstellen konnte. Dafür gewann er an Gesundheit und
körperlicher Abhärtung bedeutend. Wir waren nicht selten mehrere Tage
abwesend, und Gustav vergnügte es sehr, wenn wir Abends nach unserem
leichten Mahle in einem Gasthause in unser Zimmer gingen, wenn er
durch die Fenster auf eine fremde Landschaft hinausschauen konnte,
wenn er sein Ränzlein und seine Reisesachen auf dem Tische zurecht
richten und dann die ermüdeten Glieder auf dem Gastbette ausstrecken
durfte. Wir bestiegen hohe Berge, wir gingen an Felswänden hin, wir
begleiteten den Lauf rauschender Bäche und schifften über Seen.

Er wurde stark, und das zeigte sich sichtbar, wenn wir von einer
Gebirgswanderung - denn fast immer gingen wir in das Gebirge -
zurückkehrten, wenn seine Wangen gebräunt waren, als wollten
sie beinahe schwarz werden, wenn seine Locken die dunkle Stirne
beschatteten und die großen Augen lebhaft aus dem Angesichte hervor
leuchteten. Ich weiß nicht, welcher innere Zug von Neigung mich zu dem
Jünglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe
war, den ich über die einfachsten Dinge täglicher Erfahrung belehren
mußte, namentlich, wenn es Wanderungsangelegenheiten waren, und der
mir in seiner Seele nichts bieten konnte, wodurch ich erweitert und
gehoben werden mußte, es müßte nur das Bild der vollkommensten Güte
und Reinheit gewesen sein, das ich täglich mehr an ihm sehen, lieben
und verehren konnte.

Ich ging auch einige Male zu dem Lautersee. Ich hatte im vorigen Jahre
angefangen, seine Tiefe an verschiedenen Stellen zu messen, um ein
Bild darzustellen, in welchem sich die Berge, die den See umstanden,
sichtbar auch unter der Wasserfläche fortsetzten und nur durch einen
tieferen Ton gedämpft waren. Der Reiz, den diese Aufnahme herbei
geführt hatte, stellte sich wieder ein, und ich setzte die Messungen
nach einem Plane fort, um die Talsohle des Sees immer richtiger zu
ergründen und das Bild einer größeren Sicherstellung entgegen zu
führen. Gustav begleitete mich mehrere Male und arbeitete mit den
Männern, die ich gedungen hatte, das Schiff zu lenken, die Schnüre
auszuwerfen, die Kloben zu richten, an denen sich die Senkgewichte
abwickelten, oder andere Dinge zu tun, die sich als notwendig
erwiesen.

Besondere Freude machte es mir, daß ich nach und nach die Feinheiten
des menschlichen Angesichtes immer besser behandeln lernte, besonders,
was mir früher so schwer war, wenn der leichte Duft der Farbe über die
Wangen schöner Mädchen ging, die sich sanft rundeten, schier keine
Abwechslung zeigten und doch so mannigfaltig waren. Mir waren die
Versuche am angenehmsten, das Liebliche, Sittige, Schelmische, das
sich an manchen jungen Land- oder Gebirgsmädchen darstellte, auf der
Leinwand nachzuahmen.


Eines Abends, da Blitze fast um den ganzen Gesichtskreis leuchteten
und ich von dem Garten gegen das Haus ging, fand ich die Tür, welche
zu dem Gange des Amonitenmarmors, zu der breiten Marmortreppe und zu
dem Marmorsaale führte, offen stehen. Ein Arbeiter, der in der Nähe
war, sagte mir, daß wahrscheinlich der Herr durch die Tür hinein
gegangen sei, daß er sich vermutlich in dem steinernen Saale befinden
werde, in welchen er gerne gehe, wenn Gewitter am Himmel ständen, und
daß die Tür vielleicht offen geblieben sei, damit Gustav, wenn er
käme, auch hinaufgehen könnte. Ich blickte in den Marmorgang, sah
hinter der Schwelle mehrere Paare von Filzschuhen stehen und beschloß,
auch in den steinernen Saal hinauf zu gehen, um meinen Gastfreund
aufzusuchen. Ich legte ein Paar von passenden Filzschuhen an und ging
den Gang des Amonitenmarmors entlang. Ich kam zu der Marmortreppe
und stieg langsam auf ihr empor. Es war heute kein Tuchstreifen über
sie gelegt, sie stand in ihrem ganzen feinen Glanze da und erhellte
sich noch mehr, wenn ein Blitz durch den Himmel ging und von der
Glasbedachung, die über der Treppe war, hereingeleitet wurde. So
gelangte ich bis in die Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung
und Erweiterung, gleichsam wie in einer Halle, nicht weit von der
Wand die Bildsäule von weißem Marmor steht. Es war noch so licht, daß
man alle Gegenstände in klaren Linien und deutlichen Schatten sehen
konnte. Ich blickte auf die Bildsäule, und sie kam mir heute ganz
anders vor. Die Mädchengestalt stand in so schöner Bildung, wie sie
ein Künstler ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstellen
oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann, auf dem niedern Sockel
vor mir, welcher eher eine Stufe schien, auf die sie gestiegen war, um
herumblicken zu können. ich vermochte nun nicht weiter zu gehen und
richtete meine Augen genauer auf die Gestalt. Sie schien mir von
heidnischer Bildung zu sein. Das Haupt stand auf dem Nacken, als
blühete es auf demselben. Dieser war ein wenig, aber kaum merklich
vorwärts gebogen, und auf ihm lag das eigentümliche Licht, das nur der
Marmor hat und das das dicke Glas des Treppendaches hereinsendete. Der
Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den Nacken niederging,
schnitt diesen mit einem flüchtigen Schatten, der das Licht noch
lieblicher machte. Die Stirne war rein, und es ist begreiflich, daß
man nur aus Marmor so etwas machen kann. Ich habe nicht gewußt, daß
eine menschliche Stirne so schön ist. Sie schien mir unschuldvoll zu
sein und doch der Sitz von erhabenen Gedanken. Unter diesem Throne war
die klare Wange ruhig und ernst, dann der Mund, so feingebildet, als
sollte er verständige Worte sagen oder schöne Lieder singen, und
als sollte er doch so gütig sein. Das Ganze schloß das Kinn wie ein
ruhiges Maß. Daß sich die Gestalt nicht regte, schien bloß in dem
strengen, bedeutungsvollen Himmel zu liegen, der mit den fernen
stehenden Gewittern über das Glasdach gespannt war und zur Betrachtung
einlud. Edle Schatten wie schöne Hauche hoben den sanften Glanz der
Brust, und dann waren Gewänder bis an die Knöchel hinunter. Ich dachte
es sei Nausikae, wie sie an der Pforte des goldenen Saales stand und
zu Odysseus die Worte sagte: »Fremdling, wenn du in dein Land kömmst,
so gedenke meiner.« Der eine Arm war gesenkt und hielt in den Fingern
ein kleines Stäbchen, der andere war in der Gewandung zum Teile
verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war eher eine schön
geschlungene Hülle als ein nach einem gebräuchlichen Schnitte
verfertigtes. Es erzählte von der reinen, geschlossenen Gestalt und
war so stofflich treu, daß man meinte, man könne es falten und in
einen Schrein verpacken. Die einfache Wand des grauen Amonitenmarmors
hob die weiße Gestalt noch schärfer ab und stellte sie freier. Wenn
ein Blitz geschah, floß ein rosenrotes Licht an ihr hernieder, und
dann war wieder die frühere Farbe da. Mir dünkte es gut, daß man diese
Gestalt nicht in ein Zimmer gestellt hatte, in welchem Fenster sind,
durch die alltägliche Gegenstände herein schauen und durch die
verworrene Lichter einströmen, sondern daß man sie in einen Raum getan
hat, der ihr allein gehört, der sein Licht von oben bekömmt und sie
mit einer dämmerigen Halle wie mit einem Tempel umfängt. Auch durfte
der Raum nicht einer des täglichen Gebrauchs sein, und es war sehr
geeignet, daß die Wände rings herum mit einem kostbaren Steine
bekleidet sind. Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem
lebenden schweigenden Wesen stände, und hatte fast einen Schauer, als
ob sich das Mädchen in jedem Augenblicke regen würde. Ich blickte die
Gestalt an und sah mehrere Male die rötlichen Blitze und die graulich
weiße Farbe auf ihr wechseln. Da ich lange geschaut hatte, ging
ich weiter. Wenn es möglich wäre, mit Filzschuhen noch leichter
aufzutreten als es ohnehin stets geschehen muß, so hätte ich es getan.
Ich ging mit dem lautlosen Tritte langsam über die glänzenden Stufen
des Marmors bis zu dem steinernen Saale hinan. Seine Tür war halb
geöffnet. Ich trat hinein.

Mein Gastfreund war wirklich in demselben. Er ging in leichten Schuhen
mit Sohlen, die noch weicher als Filz waren, auf dem geglätteten
Pflaster auf und nieder.

Da er mich kommen sah, ging er auf mich zu und blieb vor mir stehen.

»Ich habe die Tür zu dem Marmorgange offen gesehen«, sagte ich, »man
hat mir berichtet, daß ihr hier oben sein könntet, und da bin ich
herauf gegangen, euch zu suchen.«

»Daran habt ihr recht getan«, erwiderte er.

»Warum habt ihr mir denn nicht gesagt«, sprach ich weiter, »daß die
Bildsäule, welche auf eurer Marmortreppe steht, so schön ist?«

»Wer hat es euch denn jetzt gesagt?« fragte er.

»Ich habe es selber gesehen«, antwortete ich.

»Nun dann werdet ihr es um so sicherer wissen und mit desto größerer
Festigkeit glauben«, erwiderte er, »als wenn euch jemand eine
Behauptung darüber gesagt hätte.«

»Ich habe nehmlich den Glauben, daß das Bildwerk sehr schön sei«,
antwortete ich, mich verbessernd.

»Ich teile mit euch den Glauben, daß das Werk von großer Bedeutung
sei«, sagte er.

»Und warum habt ihr denn nie zu mir darüber gesprochen?« fragte ich.

»Weil ich dachte, daß ihr es nach einer bestimmten Zeit selber
betrachten und für schön erachten werdet«, antwortete er.

»Wenn ihr mir es früher gesagt hättet, so hätte ich es früher gewußt«,
erwiderte ich.

»Jemandem sagen, daß etwas schön sei«, antwortete er, »heißt nicht
immer, jemandem den Besitz der Schönheit geben. Er kann in vielen
Fällen bloß glauben. Gewiß aber verkümmert man dadurch demjenigen das
Besitzen des Schönen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen
wäre. Dies setzte ich bei euch voraus, und darum wartete ich sehr
gerne auf euch.«

»Aber was müßt ihr denn die Zeit her über mich gedacht haben, daß ich
diese Bildsäule sehen konnte und über sie geschwiegen habe?« fragte
ich.

»Ich habe gedacht, daß ihr wahrhaftig seid«, sagte er, »und ich habe
euch höher geachtet als die, welche ohne Überzeugung von dem Werke
reden, oder als die, welche es darum loben, weil sie hören, daß es von
Andern gelobt wird.«

»Und wo habt ihr denn das herrliche Bildwerk hergenommen?« fragte ich.

»Es stammt aus dem alten Griechenlande«, antwortete er, »und seine
Geschichte ist sonderbar. Es stand viele Jahre in einer Bretterbude
bei Cumä in Italien. Sein unterer Teil war mit Holz verbaut, weil man
den Platz, an dem es stand, und der teils offen, teils gedeckt war, zu
häufigem Ballschlagen verwendete, und die Bälle nicht selten in die
Bude der Gestalt flogen. Deshalb legte man von der Brust abwärts einen
dachartigen Schutz an, der die Bälle geschickt herab rollen machte und
über den sich die Gestalt wie eine Büste darstellte. Es waren in dem
Raume, teils an den Bretterbuden, teils an Mauerstücken, aus denen
er bestand, noch andere Gestalten angebracht, ein kleiner Herkules,
mehrere Köpfe und ein altertümlicher Stier von etwa drei Fuß Höhe;
denn der Platz wurde auch zu Tänzen benutzt und war an den Stellen,
die keine Wand hatten, mit Schlinggewächsen und Trauben begrenzt, an
andern war er offen und blickte über Myrten, Lorbeer, Eichen auf die
blauen Berge und den heiteren Himmel dieses Landes hinaus. Gedeckt
waren nur Teile des Raumes, besonders dort, wo die Gestalten standen.
Diese hatten Dächer über sich wie die niedlichen Täfelchen, welche
italienische Mädchen auf dem Kopfe tragen. Im Übrigen war die
Bedeckung das Gezelt des Himmels. Mich brachte ein günstiger Zufall
nach Cumä, und zu diesem Ballplatze, auf dem sich eben junges Volk
belustigte. Gegen Abend, da sie nach Hause gegangen waren, besichtigte
ich das Mauerwerk, welches aus Resten alter Kunstbauten bestand, und
die Gestalten, welche sämmtlich aus Gips waren, wie sie in Italien
so häufig alten edlen Kunstwerken nachgebildet werden. Den Herkules
kannte ich insbesondere sehr gut, nur war er hier viel kleiner
gebildet. Die Büste des Mädchens - für eine solche hielt ich die
Gestalt - war mir unbekannt; allein sie gefiel mir sehr. Da ich
mich über die reizende Lage dieses Plätzchens aussprach, sagte die
Besitzerin, eine wahrhaftige altrömische Sibylle, es werde hier in
Kurzem noch viel schöner werden. Ihr Sohn, der sich durch Handel Geld
erworben, werde den Platz in einen Saal mit Säulen verwandeln, es
werden Tische herum stehen, und es werden vornehme Fremde kommen, sich
hier zu ergötzen. Die Gestalten müssen weg, weil sie ungleich seien
und weil Menschen und Tiere unter einander stehen, ihr Sohn habe schon
die schönsten Gipsarbeiten bestellt, die alle gleich groß wären.
Sie führte mich zu dem Mädchen und zeigte mir durch eine Spalte der
Bretter, daß dasselbe in ganzer Gestalt da stehe und also die andern
Dinge weit überrage. Man habe darum an dem oberen Rande der Balken,
mit denen die Gestalt umbaut ist, einen hölzernen, bemalten Sockel
angebracht, von dem der Oberleib wie eine Büste herab schaue. Dadurch
sei die Sache wieder zu den anderen gestimmt worden. Ich fragte, wann
ihr Sohn hieherkomme und wann das Umbauen beginnen würde. Da sie mir
das gesagt hatte, entfernte ich mich. Zur Zeit des mir von der Alten
angegebenen Beginnes des Umbaues fand ich mich auf dem Platze wieder
ein. Ich traf den Sohn der Wittwe - eine solche war sie - hier an, und
der Bau hatte schon begonnen. Die alten reizenden Mauerstücke waren
zum Teile abgetragen, und ihre Stoffe waren geschichtet, um zu dem
neuen Baue verwendet zu werden. Die Schlinggewächse und Reben waren
ausgerottet, die Gesträuche vor dem Platze vernichtet, und man ebnete
ihre Stelle, um dort Rosen anzulegen. Auf der Südseite baute man schon
die Sockelmauern, auf welche die Säulen von Ziegeln zu stehen kommen
sollten. Die Gestalt des Mädchens, von der man die Balkenverhüllung
weggenommen hatte, lag in einer Hütte, welche größtenteils Baugeräte
enthielt. Neben ihr lagen der Herkules, der Stier und die Köpfe,
die, wie ich jetzt sah, alte Römer darstellten. Mir gefiel nun auch
die früher nicht gesehene übrige Gestalt des Mädchens, die nicht
wesentlich verletzt war, außerordentlich, und ich erhandelte sie, da
die Dinge zum Zwecke des Verkaufes in der Bretterhütte lagen. Aber
der Verkäufer sagte, er gebe von der Sammlung nichts einzeln weg,
und ich mußte den Stier, den Herkules und die Köpfe mit kaufen. Der
Kaufschilling war nicht geringe, da mein Gegenmann die Schönheit der
Gestalt recht gut kannte und sie geltend machte; aber ich fügte mich.
Ich ließ Kisten machen, um die Dinge fortzuschaffen. Den Stier, den
Herkules und die Köpfe verkaufte ich in Italien um ein Geringes, die
Mädchengestalt sendete ich wohlverpackt, daß der Gips nicht leide, an
meinen damaligen Aufenthaltsort; ich kann euch den Namen jetzt nicht
nennen, es war ein kleines Städtchen an dem Gebirge. Mir fiel schon
damals auf, daß das Fahrgeld für die Gestalt sehr hoch sei und daß
man sich über ihr Gewicht beklagt habe; allein ich hielt es für
italienische List, um von mir, dem Fremden, etwas mehr heraus zu
pressen. Als ich aber nach Deutschland zurückgekehrt war und als eines
Tages die Gipsgestalt, für deren gute Verpackung und Überbringung ich
durch mir wohlbekannte Versendungsvermittler gesorgt hatte, in dem
Asperhofe ankam, überzeugte ich mich selber von dem ungemeinen
Gewichte der Last. Da der Bretterverschlag, in welchem sich die
Gestalt befand, nicht so schwer sein konnte, so entstand in mir und
Eustach, der damals schon in dem Asperhofe war, der Gedanke, die
Gestalt möchte etwa naß geworden sein und durch die Nässe gelitten
haben. Wir ließen das Standbild in die hölzerne Hütte schaffen, welche
ich teils zu seinem Empfange, teils zur Reinigung von den vielen
Schmutzflecken, die es an seinem früheren Standorte erhalten hatte,
vor dem Eingange in den Garten hatte aufbauen lassen. Da es dort von
den Brettern und von allen seinen andern Hüllen befreit worden war,
sahen wir, daß sich unsere Furcht nicht bestätigte. Die Gestalt war so
trocken, wie Gips nur überhaupt zu sein vermag. Wir setzten nach und
nach die Vorrichtungen in Gebrauch, durch die wir die Gestalt in die
Nähe der Glaswand der Hütte auf eine drehbare Scheibe stellen konnten,
um sie nach Bequemlichkeit betrachten und reinigen zu können. Da sie
auf der Scheibe stand und wir uns von der Sicherheit ihres Standes
überzeugt hatten, gingen wir zu ihrer Betrachtung über. Eustach war
über ihre Schönheit entzückt und machte mich auf Manches aufmerksam,
was mir auf dem Tanz- und Ballplatze bei Cumä und später in der
Bauhütte entgangen war. Freilich stand die Gestalt jetzt viel
vorteilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glaswand das klare
Licht auf sie fiel und alle Schwingungen und Schwellungen der
Gestaltung deutlich machte. Da wir die Überzeugung gewonnen hatten,
daß ein edles Werk in das Haus gekommen sei, beschlossen wir, sofort
zu dessen Reinigung zu schreiten. Wir nahmen uns vor, dort, wo der
Schmutz nur locker auf der Oberfläche liege und dem reinen Wasser und
dem Pinsel weiche, auch nur Wasser und den Pinsel anzuwenden. Leichtes
Übertünchen und sanftes Glätten würde die letzte Nachhülfe geben. Für
tiefer gehende Verunreinigung wurde die Anwendung des Messers und der
Feile beschlossen; nur sollte die äußerste Vorsicht beobachtet und
lieber eine kleine Verunreinigung gelassen werden, als daß eine
sichtbare Umgestaltung des Stoffes vorgenommen würde. Eustach machte
in meiner Gegenwart Versuche, und ich billigte sein Verfahren. Es
wurde nun sogleich ans Werk geschritten und die Arbeit in der nächsten
Zeit fortgesetzt. Eines Tages kam Eustach zu mir herauf und sagte, er
müsse mich auf einen sonderbaren Umstand aufmerksam machen. Er sei auf
dem Schulterblatte mit dem feinen Messer auf einen Stoff gestoßen, der
nicht das Taube des Gipses habe, sondern das Messer gleiten mache und
etwas wie die Ahnung eines Klanges merken lasse. Wenn die Sache nicht
so unwahrscheinlich wäre, würde er sagen, daß der Stoff Marmor sei.
Ich ging mit ihm in die Bretterhütte hinab. Er zeigte mir die Stelle.
Es war ein Platz, mit dem die Gestalt häufig, wenn sie gelegt wurde,
auf den Boden kam und der daher durch diesen Umstand und zum Teile
durch Versendungen, denen die Gestalt ausgesetzt gewesen sein mochte,
mehr abgenutzt war als andere. Ich ließ das Messer auf dieser Stelle
gleiten, ich ließ es an ihr erklingen, und auch ich hatte das Gefühl,
daß es Marmor sei, was ich eben behandle. Weil der Platz, an dem die
Versuche gemacht wurden, doch zu augenfällig war, um weiter gehen
zu können und ihn etwa zu verunstalten, so beschlossen wir an einem
unscheinbareren einen neuen Versuch zu machen. In der Ferse des
linken Fußes fehlte ein kleines Stückchen, dort mußte jedenfalls Gips
eingesetzt werden, dort beschlossen wir zu forschen. Wir drehten die
Gestalt mit ihrer Scheibe in eine Lage, in welcher das helle Licht auf
die Lücke an der Ferse fiel. Es zeigte sich, daß neben der kleinen
Vertiefung noch ein Stückchen Gips ledig sei und bei der leisesten
Berührung herab fallen müsse. Wir setzten das Messer an, das Stück
sprang weg, und es zeigte sich auf dem Grunde, der bloß wurde, ein
Stoff, der nicht Gips war. Das Auge sagte, es sei Marmor. Ich holte
ein Vergrößerungsglas, wir leiteten durch Spiegel ein schimmerndes
Licht auf die Stelle, ich schaute durch das Glas auf sie, und mir
funkelten die feinen Kristalle des weißen Marmors entgegen. Eustach
sah ebenfalls durch die Linse, wir versuchten an dem Platze noch
andere Mittel, und es stellte sich fest, daß die untersuchte
Fläche Marmor sei. Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu
beweisen oder unsere Meinung zu widerlegen, auch an andern Stellen
Untersuchungen. Wir fingen an Stellen an, welche ohnehin ein wenig
schadhaft waren und gingen nach und nach zu anderen über. Wir
beobachteten zuletzt gar nicht mehr so genau die Vorsichten, die wir
uns am Anfange auferlegt hatten, und kamen zu dem Ergebnisse, daß an
zahlreichen Stellen unter dem Gipse der Gestalt weißer Marmor sei.
Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen Stellen, auch den nicht
untersuchten, der Gips über Marmor liege. Das große Gewicht der
Gestalt war nicht der letzte Grund unserer Vermutung. Durch welchen
Zufall oder durch welch seltsames Beginnen die Marmorgestalt
mit Gips könne überzogen worden sein, war uns unerklärlich. Am
wahrscheinlichsten däuchte uns, daß es einmal irgend ein Besitzer
getan habe, damit ein fremder Feind, der etwa seine Wohnstadt und ihre
Kunstwerke bedrohte, die Gestalt, als aus wertlosem Stoffe bestehend,
nicht mit sich fort nehme. Weil nun doch der Feind die Gestalt
genommen habe oder weil ein anderer hindernder Umstand eingetreten
sei, habe die Decke nicht mehr weggenommen werden können, und der
edle Kern habe undenkbar lange Jahre in der schlechten Hülle stecken
müssen. Wir fingen nun auf dem Wirbel des Hauptes an, den Gips nach
und nach zu beseitigen. Teils, und zwar im Roheren, geschah es mit
dem Messer, teils, und zwar gegen das Ende, wurden Pinsel und das
auflösende Mittel des Wassers angewendet. Wir rückten so von dem
Haupte über die Gestalt hinunter, und alles und jedes war Marmor.
Durch den Gips war der Marmor vor den Unbilden folgender Zeiten
geschützt worden, daß er nicht das trübe Wasser der Erde oder sonstige
Unreinigkeiten einsaugen mußte, und er war reiner als ich je Marmor
aus der alten Zeit gesehen habe, ja er war so weiß, als sei die
Gestalt vor nicht gar langer Zeit erst gemacht worden. Da aller Gips
beseitigt war, wurde die Oberfläche, welche doch durch die feinsten
zurückgebliebenen Teile des Überzuges rauh war, durch weiche, wollene
Tücher so lange geglättet, bis sich der glänzende Marmor zeigte und
durch Licht und Schatten die feinste und zartest empfundene Schwingung
sichtbar wurde. Jetzt war die Gestalt erst noch viel schöner als
sie sich in Gips dargestellt hatte, und Eustach und ich waren von
Bewunderung ergriffen. Daß sie nicht aus neuer Zeit stamme, sondern
dem alten Volke der Griechen angehöre, erkannten wir bald. Ich hatte
so viele und darunter die als die schönsten gepriesenen Bildwerke der
alten Heidenzeit gesehen und vermochte daher zwischen ihren und den
Arbeiten des Mittelalters oder der neuen Zeit zu vergleichen. Ich
hatte alle Abbildungen, welche von den Bildwerken der alten Zeit
zu bekommen waren, in den Asperhof gebracht, so daß ich neuerdings
Vergleichungen anstellen konnte, und daß auch Eustach, welcher
nicht so viel in Wirklichkeit gesehen hatte, ein Urteil zu gewinnen
vermochte. Nur nach sehr langen und sehr genauen Untersuchungen gaben
wir uns mit Festigkeit dem Gedanken hin, daß das Standbild aus der
alten Griechenzeit herrühre. Wir lernten bei diesen Untersuchungen,
zu deren größerer Sicherstellung wir sogar Reisen unternahmen, die
Merkmale der alten und neuen Bildwerke so weit kennen, daß wir die
Überzeugung gewannen, die besten Werke beider Zeiten gleich bei der
ersten Betrachtung von einander unterscheiden zu können. Das Schlechte
ist freilich schwerer in Hinsicht seiner Zeit zu ermitteln. Merkwürdig
ist es, daß völlig Wertloses aus der alten Zeit gar nicht auf
uns gekommen ist. Entweder ist es nicht entstanden oder eine
kunstbegeisterte Zeit hat es sogleich beseitigt. Wir haben in jener
Untersuchungszeit viel über alte Kunst gelernt. Von wem und aus
welchem Zeitabschnitte aber unser Standbild herrühre, konnten wir
nicht ermitteln. Das war jedoch gewiß, daß es nicht der strengen Zeit
angehöre und von der späteren, weicheren stamme. Ehe ich aber das
Bild aus der Hütte, in welcher es stand, entfernte, ja ehe ich an den
Platz dachte, auf welchen ich es stellen wollte, mußte etwas anderes
geschehen. Ich reiste nach Italien und suchte bei Cumä den Verkäufer
meines Standbildes auf. Er war mit den Umänderungen seines Platzes
beinahe fertig. Dieser war jetzt eine Halle neuer Art, in welcher
einige Menschen süßen roten Wein tranken, in welcher neue Gipsbilder
standen, um welche grüner Rasen war und aus welcher man eine schöne
Aussicht hatte. Ich erzählte ihm von der Entdeckung, welche ich
gemacht hatte und sagte, er möge nun nach derselben den Preis des
Bildes bestimmen. Er könnte es zu diesem Zwecke selber in Deutschland
besehen oder es besehen lassen. Er fand Beides nicht für nötig,
sondern forderte sogleich eine ansehnliche Summe, die den Wert eines
solchen Gegenstandes, deren Preise in den verschiedenen Zeiten sehr
wechseln, darstellen mochte. Ich war damals schon in den Besitz meiner
größeren Habe gekommen, die mir durch eine Erbschaft zugefallen war,
und zeigte mich bereit, die Summe zu erlegen, nur möchte ich mich über
das Herkommen des Standbildes noch näher unterrichten und mir die
Gewißheit über das Recht verschaffen, das mein Vormann bei so
veränderter Sachlage über das Bild habe. Meine Forschungen führten zu
nichts weiter, als daß das Bild seit vielen Menschenaltern schon in
dem Besitze der Familie sei, von welcher ich es habe, daß einmal
Überreste eines alten Gebäudes hier gewesen wären, daß man das Gebäude
nach und nach abgebrochen habe, daß man aus Wasserbecken, niederen
Säulengittern und andern Dingen von weißem Steine Kalk gebrannt, und
daß man aus den Resten des Gebäudes und mit dem Kalke Häuser in den
Umgebungen gebaut habe. Es seien mehrere Standbilder bei den Trümmern
gewesen und seien verkauft worden. Für das weiße Mädchen mit dem Stabe
in der Hand habe man einmal einen Mantel aus Holz gemacht, darüber ist
ein Streit in Hinsicht der Zahlung entstanden, und die Schrift, welche
den Großvater des jetzigen Besitzers zur Zahlung verurteilte, ist mir
in dem Amte zur Einsicht und beglaubigten Abschrift gewiesen worden.
Nachdem ich mir noch einen Kaufvertrag über das Marmorbild von einem
Notar hatte verfassen lassen und mich mit einer gefertigten Abschrift
versehen hatte, erlegte ich die geforderte Summe und reiste wieder
nach Hause. Hier wurde beraten, wohin das nun mit allem Rechte mein
genannte Standbild kommen sollte. Es war nicht schwer, die Stelle
auszufinden. Ich hatte auf der Marmortreppe schon einen Absatz
errichtet, der einerseits die Treppe unterbrechen und ihr dadurch
Zierlichkeit verleihen und andrerseits dazu dienen sollte, daß einmal
ein Standbild auf ihm stehe und der Treppe den größten Schmuck
verleihe. Nachdem wir uns durch Messungen überzeugt hatten, daß die
Gestalt für den Platz nicht zu hoch sei, wurde der kleine Sockel
verfertigt, auf dem sie jetzt steht, es wurde eine Vorrichtung gebaut.
sie auf den Platz zu bringen, und sie wurde auf ihn gebracht. Wir
standen nun oft vor der Gestalt und betrachteten sie. Die Wirkung
wurde statt schwächer immer größer und nachhaltiger, und unter allen
Kunstgegenständen, die ich habe, ist mir dieser der liebste. Das ist
der hohe Wert der Kunstdenkmale der alten, heitern Griechenwelt, nicht
bloß der Denkmale der bildenden Kunst, die wir noch haben, sondern
auch der der Dichtung, daß sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das
Gemüt erfüllen und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach
fließen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Größe noch mehr
erweitern und mit Unscheinbarkeit und Gesetzmäßigkeit zu immer
größerer Bewunderung hinreißen. Dagegen ist in der Neuzeit oft ein
unruhiges Ringen nach Wirkung, das die Seele nicht gefangen nimmt,
sondern als ein Unwahres von sich stößt. Es sind manche Männer
gekommen, das Standbild zu betrachten, manche Freunde und Kenner der
alten Kunst, und der Erfolg ist fast immer derselbe gewesen, ein
Ernst der Anerkennung und der Würdigung. Wir, Eustach und ich, sind
in den Dingen der alten Kunst sehr hiedurch vorgeschritten, und
beide sind wir von der alten Kunst erst recht zur Erkenntnis der
mittelalterlichen gekommen. Wenn wir die unnachahmliche Reinheit,
Klarheit, Mannigfaltigkeit und Durchbildung der alten Gestaltungen
betrachtet hatten und zu denen des Mittelalters gingen, bei welchen
große Fehler in diesen Beziehungen walten, so sahen wir hier ein
Inneres, ein Gemüt voll Ungeziertheit, voll Glauben und voll
Innigkeit, das uns fast im Stammeln so rührt wie uns jenes dort im
vollendeten Ausdrucke erhobt. Über die Zeit der Entstehung unseres
Standbildes können wir auch jetzt noch nichts Festes behaupten, auch
nicht, ob es mit anderen aus dem Volke von Standbildern, das in Hellas
stand, nach Rom gekommen ist, oder ob es unter den Römern von einem
Griechen gefertigt worden ist, wie man es in jener Römerzeit, da
griechische Kunst mit nicht hinlänglichem Verständnisse über Italien
ausgebreitet wurde, in den Sitz eines Römers gebracht hat und wie es
auf ein ganz anderes, entferntes Geschlecht übergegangen ist.«

Er schwieg nach diesen Worten, und ich sah den Mann an. Wir waren,
während er sprach, in dem Saale auf und nieder gegangen. Ich begriff,
warum er diesen Saal bei Abendgewittern aufsucht. Durch die hellen
Fenster schaut der ganze südliche Himmel herein, und auch Teile des
westlichen und des östlichen sind zu erblicken. Die ganze Kette der
hiesigen Alpen kann am Rande des Gesichtskreises gesehen werden. Wenn
nun ein Gewitter in jenem Raume entsteht - und am schönsten sind
Gewitterwände oder Gewitterberge, wenn sie sich über fernhinziehende
Gebirge lagern oder längs des Kammes derselben dahin gehen -, so kann
er dasselbe frei betrachten, und es breitet sich vor ihm aus. Zu dem
Ernste der Wolkenwände gesellt sich der Ernst der Wände von Marmor,
und daß in dem Saale gar keine Geräte sind, vermehrt noch die
Einsamkeit und Größe. Wenn nun vollends schon eine schwache
Abenddämmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberfläche des Marmors
den Widerschein der Blitze, und während wir so auf und nieder gingen,
war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und
nur die hölzernen Türen standen dunkel in dem Feuer oder zeigten ihre
düstere Fügung.

Ich fragte meinen Gastfreund, ob er das Marmorstandbild schon lange
besitze.

»Die Zahl der Jahre ist nicht sehr groß«, antwortete er, »ich kann
sie euch aber nicht genau angeben, weil ich sie nicht in meinem
Gedächtnisse behalten habe. Ich werde in meinen Büchern nachsehen und
werde euch morgen sagen, wie lange das Bild in meinem Hause steht.«

»Ihr werdet wohl erlauben«, sagte ich, »daß ich die Gestalt öfter
ansehen darf und daß ich mir nach und nach einpräge und immer klarer
mache, warum sie denn so schön ist und welches die Merkmale sind, die
auf uns eine solche Wirkung machen.«


»Ihr dürft sie besehen, so oft ihr wollt«, antwortete er, »den
Schlüssel zu der Tür des Marmorganges gebe ich euch sehr gerne, oder
ihr könnt auch von dem Gange der Gastzimmer über die Marmortreppe
hinabgehen, nur müßt ihr sorgen, daß ihr immer Filzschuhe in
Bereitschaft habt, sie anzuziehen. Ich freue mich jetzt, daß ich den
Marmorgang und die Treppe so habe machen lassen, wie sie gemacht sind.
Ich habe damals schon immer daran gedacht, daß auf die Treppe ein Bild
von weißem Marmor wird gestellt werden, daß dann am besten das Licht
von oben darauf herabfällt und daß die umgebenden Wände so wie der
Boden eine dunklere, sanfte Farbe haben müssen. Das reine Weiß - in
der lichten Dämmerung der Treppe erscheint es fast als ganz rein -
steht sehr deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was aber
die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schönheit erkennen wollt, so
werdet ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der
alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst
überhaupt, daß man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten
findet, von denen man sagen kann, das ist das Schönste, sondern das
Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das Schönste;
die Teile sind bloß natürlich. Darin liegt auch die große Gewalt, die
solche Kunstwerke auf den ebenmäßig gebildeten Geist ausüben, eine
Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert,
nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für den in der Kunst
Gebildeten so wie für den völlig Unbefangenen, wenn sein Gemüt nur
überhaupt dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke
zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für diese meine
Behauptung, welches sehr merkwürdig ist. Ich war einmal in einem
Saale von alten Standbildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor
verfertigter, auf seinem Sitze zurückgesunkener und schlafender
Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht
schließen ließ, daß sie in einem sehr entfernten Teile des Landes
wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen lag
der Staub einer vielleicht erst heute Morgen vollbrachten Wanderung.
Als sie in die Nähe des Jünglings kamen, gingen sie behutsam auf den
Spitzen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe
Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Teil geworden. Wer aber
in einer bestimmten Richtung befangen ist und nur die Schönheit, die
in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich in
einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hineingelebt hat, für
den ist es sehr schwer, solche Werke des Altertums zu verstehen, sie
erscheinen ihm meistens leer und langweilig. Ihr waret eigentlich auch
in diesem Falle. Wenngleich nicht von der neuen, nur bestimmte Seiten
gebenden Kunst gefangen, habt ihr doch Abbildungen von gewissen
Gegenständen, besonders denen eurer wissenschaftlichen Bestrebungen,
zu sehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als daß euer Auge sich
nicht daran gewöhnt, euer Gemüt sich nicht dazu hingeneigt hätte und
ungefüger geworden wäre, etwas anderes mit gleicher Liebe aufzunehmen,
das in einer anderen Richtung lag, oder vielmehr, das sich in keiner
oder in allen Richtungen befand. Ich habe gar nie gezweifelt, daß ihr
zu dieser Allgemeinheit gelangen werdet, weil schöne Kräfte in euch
sind, die noch auf keinen Afterweg geleitet sind und nach Erfüllung
streben; aber ich habe nicht gedacht, daß dies so bald geschehen
werde, da ihr noch zu kraftvoll in dem auf seiner Stufe höchst
lobenswerten Streben nach dem Einzelnen begriffen waret. Ich habe
geglaubt, irgend ein großes, allgemeines menschliches Gefühl, das euch
ergreifen würde, würde euch auf den Standpunkt führen, auf dem ich
euch jetzt sehe.«

Ich konnte eine geraume Zeit auf diese letzte Rede meines Gastfreundes
nichts antworten. Wir gingen schweigend in dem Saale auf und nieder,
und es war um so stiller, als unsere mit weichen Sohlen bekleideten
Füße nicht das geringste Geräusch auf dem glänzenden Fußboden machten.
Blitze zuckten zuweilen in den Spiegelflächen um und unter uns, der
Donner rollte gleichsam bei den offenen Fenstern herein und die
Wolken bauten sich in Gebirgen oder in Trümmern oder in luftigen
Länderstrecken durch den weiten Raum auf, den die Fenster des Saales
beherrschten.

Ich sagte endlich, daß ich mich jetzt erinnere, wie mein Vater oft
geäußert habe, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse.

»Es ist ein gewöhnlicher Kunstausdruck«, entgegnete mein Gastfreund,
»allein es täte es auch ohne ihn. Man versteht gewöhnlich unter
Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann die bildende Kunst, von der wir
hier eigentlich reden, gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel
lebende Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen - und selbst die Landschaft
trotz der starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem
Pflanzenschmucke dem Künstler ein Atmendes; denn sonst wird sie
ihm ein Erstarrendes - darstellt, so muß sie diese Gegenstände so
darstellen, daß es dem Beschauer erscheint, sie könnten sich im
nächsten Augenblicke bewegen. Ich will hier wieder aus dem Altertume
ein Beispiel anführen. Alle Stoffe, mit welchen Menschen sich
bekleiden, nehmen nach der Art der Bewegungen, denen sich verschiedene
Menschen gerne hingeben, verschiedene Gestaltungen an. Ein Freund von
mir erkannte einen alten wohlbekannten und trefflichen Schauspieler
einmal bei einer Gelegenheit, bei welcher er nur ein Stück des Rockes
des Schauspielers sehen konnte. Wenn nun die Gestaltungen der Stoffe,
die sich meistens in Falten kund geben, nach der Wirklichkeit
nachgebildet werden, nicht nach willkürlichen Zurechtlegungen, die man
nach herkömmlichen Schönheitsgesetzen an der Gliederpuppe macht, so
liegt in diesen nachgebildeten Gestaltungen zuerst eine bestimmte
Eigentümlichkeit und Einzelheit, die den Gegenstand sinnlich
hinstellt, und dann drückt die Gestaltung nicht bloß den Zustand aus,
in dem sie gegenwärtig ist, sondern sie weist auch auf den zurück,
der unmittelbar vorher war und von dem sich die Gebilde noch leise
vorfinden, und sie läßt zugleich den nächstkünftigen ahnen, zu dem die
Bildungen neigen. Dies ist es, was bei Gewandungen ganz vorzüglich
für das beschauende Auge den Begriff der Bewegung gibt und mithin
der Lebendigkeit. Dies ist es, da die Alten so gerne nach der Natur
arbeiteten, was sie dort, wo sie Gewänder anbringen, so meisterhaft
handhaben, daß der Spruch entstanden ist, sie stellten nicht nur dar,
was ist, sondern auch, was zunächst war und sein wird. Darum bilden
sie in der Gewandung nicht bloß die Hauptteile, sondern auch die
entsprechenden Unterabteilungen, und dies mit einer solchen Zartheit
und Genauigkeit, daß man auf den Stoff des Werkes vergißt und nur den
Stoff der Gewandung sieht und ihn zusammenlegen und in der Hand ballen
zu können vermeint. Solcher Bildung gegenüber legen manche Neuen
sogenannte edle Falten zurecht, bilden sie im Erze oder Marmor nach,
vermeiden hiebei in sorglichem Maße zu große Einzelheiten, um nicht
unruhig zu werden, und erzielen hiebei, daß man allerdings große,
edle Massen von Faltungen sieht, daß aber in der Falte der Stoff des
Werkes, nicht des Gewandes herrscht, daß man die marmorne, die erzene
Falte sieht, daß das Gemüt erkältet wird und daß man meint, der Mann,
der damit angetan ist, könne nicht gehen, weil ihn die erzene Falte
hindere. Wie es mit dem Gewande ist, ist es auch mit dem Leibe,
der das Gewand der Seele ist, und die Seele allein kann ja nur der
Gegenstand sein, welchen der Künstler durch das Bild und Gleichnis
des Leibes darstellt. Hier auch ließen sich die Alten von der
Natur leiten, und wenn sie Sünden begingen, die das Auge des
naturforschenden Zergliederers, strenge genommen, tadeln müßte, so
begingen sie keine, die das nicht so stofflich blickende Auge der
Kunst zu verdammen gezwungen wäre. Dafür zeigt die Schwingung der
Gliederflächen in ihren Teilen und Unterabteilungen eine solche
Ausbildung und Durchführung, daß die Zustände von jetzt und von
unmittelbar vorher und nachher sichtbar werden, daß die Glieder, wie
ich vorher von der Gewandung sagte, die Vorstellung der Beweglichkeit
geben und daß sie leben. Wie bei den Gewändern bilden manche Neue auch
die Glieder ins Größere, Allgemeinere, weniger Ausgeführte, um nicht
krampfig zu werden, und dann geraten die Muskeln gerne wie glatte,
spröde, unbiegsame Glaskörper, und die Gestalt kann sich nicht rühren.
Das Gesagte mag ungefähr den Begriff von dem geben, was man in der
Kunst unter Bewegung versteht. Was man unter Ruhe begreift, das mag
wohl zuerst darin bestehen, daß jeder Gegenstand, den die bildende
Kunst darstellt, genau betrachtet, in Ruhe ist. Der laufende Wagen,
das rennende Pferd, der stürzende Wasserfall, die jagende Wolke,
selbst der zuckende Blitz sind in der Abbildung ein Starres,
Bleibendes, und der Künstler kann nur durch die früher von mir
angedeuteten Mittel die Bewegung als Bewegbarkeit, als Täuschung des
Auges darstellen, wodurch er zugleich seinen Gegenstand über die
Grenzen des unmittelbar Dargestellten hinaushebt und ihm eine ungleich
größere Bedeutung gibt. Aber die dargestellte Bewegung darf nicht zu
gewaltsam sein, sonst helfen die Mittel nicht, der Künstler scheitert
und wird lächerlich. Zum Beispiele Pferde, die von einem Felsen durch
die Luft hinabstürzen, dürfen nicht in der Luft fallend gemalt werden
- wenigstens dürfte dies leichter eine den Verstand befriedigende
Zeichnung als ein das ganze Kunstvermögen entzückendes Bild werden.
Darum darf der in seinen Gestalten sich stets erneuende Wasserfall mit
weit geringerer Gefahr dargestellt werden als eine Flüssigkeit, die
aus einem Gefäße gegossen wird, wobei die Einbildungskraft sich mit
dem Gedanken quält, daß das Gefäß nicht leer wird. Der in hohen Lüften
auf seinen Schwingen ruhende Geier ist im Bilde erhaben, der dicht
vor unsern Augen auf seine Beute stürzende kann sehr mißlich werden.
Der an Bergen emporsteigende Nebel ist lieblich, der von einer
abgefeuerten Kanone aufsteigende Rauch verletzt uns durch sein
immerwährendes Bleiben. Es ist begreiflich, daß die Grenzen zwischen
dem Darstellbaren in der Bewegung nicht fest zu bestimmen sind und
daß größere Begabungen viel weiter hierin gehen dürfen als kleinere.
So sah ich schon sehr oft gemalte fahrende Wägen. Die Pferde sind
gewöhnlich ihrer Fußstellung nach im schönsten Laufe begriffen,
während die Speichen der Wagenräder klar und sichtbar in völliger
Ruhe starren. Der größere Künstler wird uns den Nebel der sausenden
Speichen darstellen und manches Andere zutun und zusammenstellen, daß
wir den Wagen wirklich fahren sehen. Außer dem hier gegebenen Begriffe
von stofflicher Ruhe mag wohl unter Ruhe weit öfter die künstlerische
zu verstehen sein, die ein Kunstwerk, sei es Bild, Dichtung oder
Musik, nie entbehren kann, ohne aufzuhören, ein Kunstwerk zu sein.
Es ist diese Ruhe jene allseitige Übereinstimmung aller Teile zu
einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die in höchster
kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben
über dem Kunstwerke und das ordnende Überschauen desselben, wie stark
auch Empfindungen oder Taten in demselben stürmen mögen, die das
Kunstschaffen des Menschen dem Schaffen Gottes ähnlich macht und Maß
und Ordnung blicken läßt, die uns so entzücken. Bewegung regt an,
Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir
Schönheit nennen. Es ist nicht zu zweifeln, daß sich Andere vielleicht
Anderes bei diesen Worten denken, daß dieses Andere gut oder besser
als das Meinige sein kann - gewöhnlich geht es mit solchen Gangwörtern
so, daß jeder seinen eigenen Sinn hinein legt. Das Beste ist, daß die
schaffende Kraft in der Regel nicht nach solchen aufgestellten Sätzen
wirkt, sondern das Rechte trifft, weil sie die Kraft ist, und es
desto sicherer trifft, je mehr sie sich auf ihrem eigentümlichen Wege
naturgemäß ausbildet. Für das Verständnis der Kunst, für solche,
welche ihre Werke beschauen und sich darüber besprechen, sind
Auslegungen derselben Einkleidung ihres Wesens in Worte eine sehr
nützliche Sache, nur muß man die Worte nicht zum Hauptgegenstande
machen und auf einen Sinn, den man ihnen beilegt, nicht so bestehen,
daß man alles verdammt, was nicht nach diesem Sinne ist. Sonst müßte
man ja den größten und einzigen Künstler am meisten tadeln, Gott, der
so unzählige Gestaltungen erschaffen hat und dessen Werke ja wirklich
von Menschen untergeordneten Geistes getadelt werden, die meinen, sie
hätten es anders gemacht.«


Bei diesen Worten kam Gustav in den Saal. Die Dämmerung hatte schon
stark zugenommen, es regnete aber noch immer nicht.

»Dieser steht noch auf demselben Stande, auf welchem ihr früher
gestanden seid«, sagte mein Gastfreund auf Gustav weisend, der auf ihn
zuging.

»Wie meinst du das, Vater?« fragte der Knabe.

»Wir redeten von Kunst«, antwortete mein Gastfreund, »und da behaupte
ich, daß du noch nicht in der Lage bist, Kunstwerke so erkennen und
beurteilen zu können wie unser Gast hier.«

»Wohl, das behaupte ich selber«, sagte Gustav, »er ist darum auch
teilweise mein Lehrer, und wenn er in der Erkenntnis der Kunst dir
und Eustach und der Mutter nachstrebt, so werde ich meines Teils ihm
wieder nachstreben.«

»Das ist gut«, sagte mein Gastfreund, »aber das ist es nicht so ganz,
wovon wir sprachen, allein es tut nichts zur Sache und gehört auch
nicht zur Wesenheit.«

Mit diesen Worten, gleichsam um ferneren Fragen vorzubeugen, trat er
an ein Fenster und wir mit ihm.

Wir betrachteten eine Weile die Erscheinung vor uns, die über dem
immer dunkler werdenden Gefilde immer großartiger wurde, und gingen
dann, da der Abend beinahe in Finsternis übergehen wollte und die
Stunde des Abendessens gekommen war, über die Marmortreppe in das
Speisezimmer hinunter.

Das Gewitter war in der Nacht ausgebrochen, hatte einen Teil derselben
mit Donnern und einen Teil mit bloßem Regen erfüllt und machte dann
einem sehr schönen und heiteren Morgen Platz.

Das Erste, was ich an diesem Tage tat, war, daß ich zu dem marmornen
Standbilde ging. Ich hatte es gestern, da wir über die Treppe
hinabstiegen, nicht mehr deutlich und nur von einem Blitze
oberflächlich beleuchtet gesehen. Die Finsternis war auf der Treppe
schon zu groß gewesen. Heute stand es in der ruhigen und klaren Helle
des Tages, welche das Glasdach auf die Treppe sendete, schmucklos und
einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild so groß sei. Ich
stellte mich ihm gegenüber und betrachtete es lange.

Mein Gastfreund hatte Recht, ich konnte keine eigentliche einzelne
Schönheit entdecken, was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und ich
erinnerte mich auf der Treppe sogar, daß ich oft von einem Buche oder
von einem Schauspiele, ja von einem Bilde sagen gehört hatte, es sei
voller Schönheiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein, wie
unrecht entweder ein solcher Spruch sei oder, wenn er berechtigt ist,
wie arm ein Werk sei, das nur Schönheiten hat, selbst dann, wenn es
voll von ihnen ist und das nicht selber eine Schönheit ist; denn ein
großes Werk, das sah ich jetzt ein, hat keine Schönheiten und um so
weniger, je einheitlicher und einziger es ist. Ich geriet sogar auf
den Gedanken und auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
hatte, daß, wenn man sagt, dieser Mann, diese Frau habe eine schöne
Stimme, schöne Augen, einen schönen Mund, eben damit zuleich gesagt
ist, das andere sei nicht so schön; denn sonst würde man nicht
Einzelnes herausheben. Was bei einem lebenden Menschen gilt, dachte
ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei welchem alle Teile gleich
schön sein müssen, so daß keiner auffällt, sonst ist es eben als
Kunstwerk nicht rein und ist im strengsten Sinne genommen keines.
Dessenohngeachtet, daß ich, oder vielmehr eben darum, weil ich keine
einzelnen Schönheiten an dem Standbilde zu entdecken vermochte,
machte es, wie ich mir jetzt ganz klar bewußt war, wieder einen
außerordentlichen Eindruck auf mich. Der Eindruck war aber nicht
einer, wie ich ihn öfter vor schönen Sachen hatte, ja selbst vor
Dichtungen, sondern er war, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf,
allgemeiner, geheimer, unenträtselbarer, er wirkte eindringlicher und
gewaltiger; aber seine Ursache lag auch in höheren Fernen, und mir
wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die Schönheit sei, wie
schwerer sie zu erfassen und zu bringen sei als einzelne Dinge, die
die Menschen erfreuen und wie sie in dem großen Gemüte liege und
von da auf die Mitmenschen hinausgehe, um Großes zu stiften und zu
erzeugen. Ich empfand, daß ich in diesen Tagen in mir um Vieles weiter
gerückt werde.

In der nächsten Zeit sprach ich auch mit Eustach über das Standbild.
Er war sehr erfreut darüber, daß ich es als so schön erkannte, und
sagte, daß er sich schon lange darnach gesehnt habe, mit mir über
dieses Werk zu sprechen; allein es sei unmöglich gewesen, da
ich selber nie davon geredet habe und eine Zwiesprache nur dann
ersprießlich werde, wenn man beiderseitig von einem Gegenstande
durchdrungen sei. Wir betrachteten nun miteinander das Bildwerk und
machten uns wechselseitig auf Dinge aufmerksam, die wir an demselben
zu erkennen glaubten. Besonders war es Eustach, der über das
Marmorbild, so sehr es sich in seiner Einfachheit und seiner täglich
sich vor mir immer staunenswerter entwickelnden Natürlichkeit jeder
Einzelverhandlung zu entziehen schien, doch über sein Entstehen, über
die Art seiner Verhältnisse, über seine Gesetzmäßigkeit und über das
Geheimnis seiner Wirkung sachkundig zu sprechen wußte. Ich hörte
begierig zu und empfand, daß es wahr sei, was er sprach, obgleich ich
ihn nicht immer so genau verstand wie meinen Gastfreund, da er nicht
so klar und einfach zu sprechen wußte wie dieser. Ich schritt in der
Erkenntnis des Bildes vor, und es war mir, als ob es nach seinen
Worten immer näher an mich heran gerückt würde.

Er suchte viele Zeichnungen hervor, auf denen sich Abbildungen
von Standbildern oder andern geschnitzten oder auf anderem Wege
hervorgebrachten Gestalten des Mittelalters befanden. Wir verglichen
diese Gestalten mit der aus dem Griechentume stammenden.

Auch wirkliche Gestaltungen von kleinen Engeln, Heiligen oder anderen
Personen, die sich in dem Rosenhause oder in der Nähe befanden, suchte
er zur Vergleichung herbei zu bringen. Es zeigte sich hier für meine
Augen, daß das wahr sei, was mein Gastfreund über griechische und
mittelalterliche Kunst gesagt hatte. Es war mir wie ein jugendlicher
und doch männlich gereifter Sinn voll Maß und Besonnenheit sowie voll
herrlicher Sinnfälligkeit, der aus dem Griechenwerke sprach. In den
mittelalterlichen Gebilden war es mir ein liebes, einfaches, argloses
Gemüt, das gläubig und innig nach Mitteln griff, sich auszusprechen,
der Mittel nicht völlig Herr wurde, dies nicht wußte und doch
Wirkungen hervorbrachte, die noch jetzt ihre Macht auf uns äußern und
uns mit Staunen erfüllen. Es ist die Seele, die da spricht und in
ihrer Reinheit und in ihrem Ernste uns mit Bewunderung erfüllt,
während spätere Zeiten, von denen Eustach zahlreiche Abbildungen von
Bildwerken vorlegte, trotz ihrer Einsicht, ihrer Aufgeklärtheit und
ihrer Kenntnis der Kunstmittel nur frostige Gestalten in unwahren
Flattergewändern und übertriebenen Gebärden hervorbrachten, die keine
Glut und keine Innigkeit haben, weil sie der Künstler nicht hatte, und
die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Künstler nicht mit
der Seele arbeitete, sondern mit irgend einer Überlegung nach eben
herrschenden Gestaltungsansichten, weshalb er das, was ihm an Gefühl
abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu ersetzen suchte. Was
die Sinnfälligkeit anlangt, so schien mir das Mittelalter nicht nach
Vollendung in derselben gestrebt zu haben. Neben einem Haupte, das in
seiner Einfachheit und Gegenständlichkeit trefflich und tadellos war,
befinden sich wieder Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmöglich
sind. Der Künstler sah dies nicht; denn er fand den Zustand seines
Gemütes in dem Ausdrucke seines Werkes, mehr hatte er nicht
beabsichtigt, und nach Verschmelzung des Sinnentumes strebte er nicht,
weil es ihm, wenigstens in seiner Kunsttätigkeit ferne lag und er
einen Mangel nicht empfand. Darum stellt sich auch bei uns die Wirkung
der Innerlichkeit ein, obgleich wir, unähnlich dem schaffenden
Künstler des Mittelalters, die sinnlichen Mängel des Werkes empfinden.
Dies spricht um so mehr für die Trefflichkeit der damaligen Arbeiten.

Es waren recht schöne Tage, die ich mit Eustach in diesen
Vergleichungen und diesen Bestrebungen hinbrachte.

Ich wurde auch wieder auf die Gemälde alter und längstvergangener
Zeiten zurückgeführt. Ich hatte in meiner frühesten Jugend eine
Abneigung vor alten Gemälden gehabt. Ich glaubte, daß in ihnen eine
Dunkelheit und Düsterheit herrsche, die dem fröhlichen Reize der
Farben, wie er in den neuen Bildern sich vorstellt und wie ich ihn
auch in der Natur zu sehen meinte, entgegen und weit untergeordnet
sei. Diese Meinung hatte ich zwar fahren gelassen, als ich selber zu
malen begonnen und nach und nach gesehen hatte, daß die Dinge der
Natur und selber das menschliche Angesicht die heftigen Farben nicht
haben, die sich in dem Farbekasten befinden, daß aber dafür die Natur
eine Kraft des Lichtes und des Schattens besitze, die wenigstens ich
durch alle meine Farben nicht darzustellen vermochte. Deßohngeachtet
war mir die Erkenntnis dessen, was die Malerkunst in früheren Zeiten
hervorgebracht hatte, nicht in dem Maße aufgegangen, als es der
Sache nach notwendig gewesen wäre. Wenn ich gleich im Einzelnen
vorgesehritten war und Manches in alten Bildern als sehr schön erkannt
hatte, so war ich doch fort und fort zu sehr in meinen Bestrebungen
auf dem Gebiete der Natur befangen, als daß ich auf andere Gebilde
als die der Natur mit kräftiger Innerlichkeit geachtet hätte. Darum
erschienen mir Pflanzen, Faltern, Bäume, Steine, Wässer, selbst das
menschliche Angesicht als Gegenstände, die würdig wären, von der
Malerkunst nachgebildet zu werden; aber alte Bilder erschienen
mir nicht als Nachbildungen, sondern gewissermaßen als kostbare
Gegenstände, die da sind und auf denen sich Dinge befinden, die man
gewohnt ist als auf Gemälden befindliche zu sehen. Diese Richtung
hatte für mich den Nutzen, daß ich bei meinen Versuchen, Gegenstände
der Natur zu malen, nicht in die Nachahmung irgend eines Meisters
verfiel, sondern daß meine Arbeiten mit all ihrer Fehlerhaftigkeit
etwas sehr Gegenständliches und Naturwahres hatten; aber es erwuchs
mir auch der Nachteil daraus, daß ich nie aus alten Meistern lernte,
wie dieser oder jener die Farben und Linien behandelt habe und daß
ich mir alles selber mühevoll erfinden mußte und in Vielem gar
zu einem Ziele nicht gelangte. Obwohl ich später der Betrachtung
mittelalterlicher Gemälde mich mehr zuwandte und sogar im Winter viele
Zeit in Gemäldesammlungen unserer Stadt zubrachte, so war doch ein
früherer Zustand noch mehr oder weniger unbewußt vorherrschend und die
Kunst des Pinsels fand von mir nicht die Hingabe, die sie verdient
hätte. Als ich jetzt mit Eustach die Zeichnungen mittelalterlicher
bildender Kunst durchging, als ich mit ihm ein mir wie ein neues
Wunder aufgegangenes Werk des alten Griechentums betrachtete, als ich
dieses Werk mit den minder alten unserer Vorfahren verglich und die
Unterschiede und Beziehungen einsehen lernte: da fing ich auch an, die
Gemälde meines Gastfreundes anders zu betrachten, als ich bisher sie
und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich ging nicht nur oft in sein
Bilderzimmer und verweilte lange Zeit in demselben, sondern ich ließ
mir auch das Verzeichnis der Bilder geben, um nach und nach die
Meister kennen zu lernen, die er versammelt hatte, ich bat, daß
mir erlaubt werde, mir das eine oder andere Bild, wie ich es eben
wünschte, auf die Staffelei stellen zu dürfen, um es so kennen zu
lernen, wie mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft mehrere
Tage in Untersuchung eines einzigen Bildes zu. Welch ein neues Reich
öffnete sich vor meinen Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der
Seele aufschlossen, so lag hier wieder eine Welt, es war wieder eine
Welt der Seele, wieder dieselbe Welt der hochgehenden Seele der
Dichtkunst; aber mit wie ganz anderen Mitteln war sie hier erstrebt
und erreicht. Welche Kraft, welche Anmut, welche Fülle, welche
Zartheit, und wie war dem Schöpfer eine ähnliche, eine gleiche, aber
menschliche Schöpfung nachgeschaffen. Ich lernte die Beziehungen der
alten Malerei - mein Freund hatte fast lauter alte Bilder - zu der
Natur kennen. Ich lernte einsehen, daß die alten Meister die Natur
getreuer und liebevoller nachahmten als die neuen, ja daß sie im
Erlernen der Züge der Natur eine unsägliche Ausdauer und Geduld
hatten, vielleicht mehr, als ich empfand, daß ich selber hätte, und
vielleicht mehr, als mancher Kunstjünger der Gegenwart haben mag. Ich
konnte nicht aburteilen, da ich zu wenige Werke der Gegenwart kannte
und so betrachtet hatte, als ich jetzt ältere Bilder betrachtete;
aber es schien mir ein größeres Eingehen in das Wesen der Natur kaum
möglich. Ich begriff nicht, wie ich das so lange nicht in dem Maße
hatte sehen können, als ich es hätte sehen sollen. Wenn aber auch
die Alten, wie ich hier mit ihnen umging, sich der Wirklichkeit sehr
beflissen und sich ihr sehr hingaben, so ging das doch nicht so weit,
als ich bei der Abbildung meiner naturwissenschaftlichen Gegenstände
geschritten war, von denen ich alle Einzelheiten, so weit es nur
immer möglich gewesen war, zu geben gesucht hatte. Dies wäre, wie
ich einsah, der Kunst hinderlich gewesen, und statt einen ruhigen
Gesammteindruck zu erzielen, wäre sie in lauter Einzelheiten
zerfallen. Die Meister, welche mein Gastfreund in seiner Sammlung
besaß, verstanden es, das Einzelne der Natur in großen Zügen zu fassen
und mit einfachen Mitteln - oft mit einem einzigen Pinselstriche -
darzustellen, so daß man die kleinsten Merkmale zu erblicken wähnte,
bei näherer Betrachtung aber sah, daß sie nur der Erfolg einer großen
und allgemeinen Behandlung waren. Diese große Behandlung sicherte
ihnen aber auch Wirkungen im Großen, die dem entgehen, welcher die
kleinsten Gliederungen in ihren kleinsten Teilen bildet. Ich sah erst
jetzt, welche schöne Gestalten aus dem menschlichen Geschlechte auf
der Malerleinwand lebten, wie edel ihre Glieder sind, wie mannigfaltig
- strahlend, kräftig, geistvoll, milde - ihr Antlitz, wie adelig
ihre Gewänder, und wäre es eine Bettlerjacke, und wie treffend die
Umgebung. Ich sah, daß die Farbe der Angesichter und anderer Teile das
leuchtende Licht menschlicher Gestaltungen ist, nicht der Farbestoff,
mit dem der Unkundige seinen Gebilden ein widriges Rot und Weiß gibt,
daß die Schatten so tief gehen, wie sie die Natur zeigt, und daß die
Umgebung eine noch größere Tiefe hat, wodurch jene Kraft erzielt
wird, die sich der nähert, welche die Schöpfung durch wirklichen
Sonnenschein gibt, den niemand malen kann, weil man den Pinsel nicht
in Licht zu tauchen vermag, eine Kraft, die ich jetzt an den alten
Bildern so bewunderte. Von der außermenschlichen Natur sah ich
leuchtende Wolken, klare Himmelsgebilde, ragende, reiche Bäume,
gedehnte Ebenen, starrende Felsen, ferne Berge, helle, dahinfließende
Bäche, spiegelnde Seen und grüne Weiden, ich sah ernste Bauwerke und
ich sah das sogenannte stille Leben in Pflanzen, Blumen, Früchten, in
Tieren und Tierchen. Ich bewunderte das Geschick und den Geist, womit
alles zurechtgelegt und hervorgebracht ist. Ich erkannte, wie unsere
Vorfahren Landschaften und Tiere malten. Ich erstaunte über den
zarten Schmelz, womit einer mittelst Überfarben seinen Gebilden
eine Durchsichtigkeit gab, oder über die Stärke, womit ein anderer
undurchsichtige Farben hinstellte, daß sie einen Berg bildeten, der
das Licht fängt und spiegelt und es so zwingt, das Bild mit zu malen,
zu dem ein Licht in dem Farbenkasten nicht war. Ich erkannte, wie der
eine in durchsichtigen Farben untermalte und auf diese seine festen,
körperigen Farben aufsetzte, oder wie ein anderer Farbe auf Farbe mit
breitem Pinsel hinstellt und mit ihm die Übergänge vermittelt und mit
ihm die Zeichnung umreißt. Daß alte Bilder düsterer sind, erschien mir
einleuchtend, da das Öl die Farben nachdunkeln macht und der Firniß
eine dunkle bräunliche Farbe erhält. Beides haben umsichtige Meister
mehr als voreilige zu vermeiden gewußt, und mein Gastfreund hatte
Bilder, die in schöner Pracht und Farbenherrlichkeit leuchteten,
obwohl auch bei ihnen die Würde bewahrt blieb, daß sie mehr die Kraft
des Tones als auffallende oder etwa gar unwahre Farben brachten. Da
ich schon viel mit Farben beschäftigt gewesen war, so verweilte ich
oft lange bei einem Bilde, um zu ergründen, wie es gemalt ist und auf
welche Weise die Stoffe behandelt worden sind. In dem Rosenzimmerchen
Mathildens, wohin mich mein Gastfreund führte, um auch dort die Bilder
zu sehen, hingen vier kleine Gemälde, davon zwei von Tizian waren,
eines von Dominichino und eines von Guido Reni. Sie waren an Größe
fast gleich und hatten gleiche Rahmen. Sie waren die schönsten,
die mein Gastfreund besaß. Je mehr man sie betrachtete, desto
mehr fesselten sie die Seele. Ich bat ihn fast zu oft, mir diese
vier Bildchen zu zeigen, und er ermüdete nicht, mir immer die
Frauengemächer aufzuschließen, mich in das Zimmerchen zu führen, mich
die Bilder betrachten zu lassen und mit mir darüber zu sprechen. Er
nahm sie öfter herab und stellte sie auf dem Tische oder auf einem
Sessel so auf, daß sie in dem besten Lichte standen. Ich brachte
merkwürdige Tage in jener Zeit in dem Rosenhause meines Freundes
zu. Mein Wesen war in einer hohen, in einer edlen und veredelnden
Stimmung.

Ich fragte ihn einmal, woher er denn die Bilder erhalten habe.

»Sie sind recht nach und nach in das Haus gekommen, wie es der
Sammelfleiß und mitunter auch der Zufall gefügt hat«, antwortete er.
»Ich habe von einem Oheime mehrere geerbt; sie waren aber nicht die
besten, wie ich sie jetzt habe, ich verkaufte einen Teil davon, um
mir andere, wenn auch wenigere, aber bessere zu kaufen. Ich habe euch
schon einmal gesagt, daß ich in Italien gewesen bin. Ich habe drei
Reisen in dieses Land gemacht. Da hat sich Manches gefunden. Ich habe
stets nach Bildern gesucht, habe Manches gekauft, Manches wieder
verkauft, Neues gekauft, und so war ein fortlaufender Wechsel, bis
es so wurde, wie es jetzt ist. Nun aber verkaufe oder vertausche ich
nichts mehr, selbst wenn mir etwas Außerordentliches vorkäme, das ich
nicht ohne Weggabe eines Früheren erkaufen könnte. Mit dem Alter wird
man so anhänglich an das Gewohnte, daß man es nicht missen kann, wenn
es auch verbraucht zu werden beginnt und verschossen und verschollen
ist. Ich lege alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der
Bilder, die mich nun so lange umgeben, aus dem Hause lassen müßte, so
würde ich einem großen Schmerze nicht entgehen. Sie mögen nun bleiben,
wie sie sind und wo sie sind, bis ich scheide. Selbst der Gedanke, daß
ein Nachfolger die Bilder so lasse und sie ehre, wie sie hier sind,
hat für mich etwas sehr Angenehmes, obwohl er töricht ist und ich ihm
aus dem Wege gehe; denn darin besteht das Leben der Welt, daß ein
Streben und Erringen und darum ein Wandel ist, welcher Wandel auch
hier eintreten wird. Ich habe auch längere Zeit schon nichts mehr
gekauft, außer einer recht lieben kleinen Landschaft von Ruysdael, die
neben der Tür im Bilderzimmer hängt und die ihr so gerne anschaut. Ich
würde nur etwas sehr Wertvolles kaufen, in so ferne es meine Kräfte
zuließen. Ich habe oft Jahre lang auf ein Bild warten müssen, das mir
sehr gefiel und das ich zu haben wünschte, entweder, weil der Besitzer
eigensinnig war und, obwohl er das Bild weggeben wollte, doch
Bedingungen an die Hingabe knüpfte, die nicht zu erfüllen waren,
oder weil er sich von dem Bilde nicht trennen wollte, obgleich er es
mißhandelte und zu Grunde gehen ließ. Zuweilen mußte ich schlechtere
Bilder kaufen, die durch Farbenreiz oder andere Eigenschaften das Auge
ansprachen, um einen Vorrat zum Tausche zu haben. Es gibt nehmlich
Leute, welche Freude an Bildern haben, welche ältere bedeutende Bilder
nicht weggeben, wenn sie solche besitzen, sie aber doch nicht erkennen
und sie durch schlechte Behandlung Schaden leiden lassen. Sie ziehen
ein Gemälde vor, welches sie besser verstehen, welches ihnen mehr
gefällt, wenn es auch im Werte minder ist, und sind zu einem Tausche
bereit. Dieser macht ihnen Freude, und wenn ich ihnen darlegte, daß
ihr Gemälde einen höheren Wert habe als das meinige, und wenn ich
diesen Wert nach genauer Schätzung durch Geld ausglich, so war das
Vergnügen noch größer; denn sie zweifelten doch immer, ob ich Recht
habe und das alte Bild nicht aus Vorliebe überschätze, da ihnen ja
ihre Augen sagten, daß der Unterschied nicht so groß sei. Auf diese
Weise bekam ich manches Angenehme, ohne meinem Billigkeitsgefühle nahe
treten zu müssen, was bei Bildergeschäften so leicht der Fall wird.
Die heilige Maria mit dem Kinde, welche euch so wohl gefällt und
welche ich beinahe eine Zierde meiner Sammlung nennen möchte, hat
mir Roland auf dem Dachboden eines Hauses gefunden. Er war dorthin
mit dem Eigentümer gestiegen, um altes Eisenwerk, darunter sich
mittelalterliche Sporen und eine Klinge befanden, zu kaufen. Das Bild
war ohne Blindrahmen und war nicht etwa zusammengerollt, sondern wie
ein Tuch zusammengelegt und lag im Staube. Roland konnte nicht genau
erkennen, ob es einen Wert habe, und kaufte es dem Manne um ein
Geringes ab. Ein Soldat hatte es einmal aus Italien geschickt. Er
hatte es als bloße Packleinwand benützt und hatte Wäsche und alte
Kleider in dasselbe getan, die ihm zu Hause ausgebessert werden
sollten. Darum hatte das Bild Brüche, wo nehmlich die Leinwand
zusammengelegt gewesen war, an welchen Brüchen sich keine Farbe
zeigte, da sie durch die Gewalt des Umbiegens weggesprungen war. Auch
hatte man, da wahrscheinlich die Fläche zum Zwecke einer Umhüllung
zu groß gewesen war, Streifen von ihr weggeschnitten. Man sah die
Schnitte noch ganz deutlich, während die anderen Ränder sehr alt waren
und noch die Spuren von den Nägeln zeigten, mit denen sie einst an den
Blindrahmen befestigt gewesen waren. Auch war, durch die Mißhandlungen
der Zeiten herbeigeführt, an andern Stellen als an denen der Brüche
die Farbe verschwunden, so daß man nicht nur den Grund des Gemäldes,
sondern hie und da auch die lediglichen nackten Faden der alten
Leinwand sehen konnte. So kam das Bild auf dem Asperhofe an. Wir
breiteten es zuerst auseinander, wuschen es mit reinem Wasser und
mußten dann, um es als Fläche zu erhalten und es betrachten zu können,
Gewichte auf seine vier Ecken legen. So lag es auf dem Fußboden des
Zimmers vor uns. Wir erkannten, daß es das Werk eines italienischen
Malers sei, wir erkannten auch, daß es aus älterer Zeit stamme; aber
von welchem Künstler es herrühre oder auch nur aus welcher Zeit es
sei, war nach dem Zustande, in welchem die Malerei sich befand,
durchaus nicht zu bestimmen. Teile, welche ganz waren, ließen indessen
ahnen, daß das Gemälde einen nicht zu geringen Wert haben dürfte.
Wir gingen nun daran, ein Brett zu verfertigen, auf welches das Bild
geklebt werden könnte. Wir bereiten solche Bretter gewöhnlich aus
Eichenholz, das aus zwei übereinander liegenden Stücken, deren Fasern
auf einander senkrecht sind, und einem Roste besteht, damit dem
sogenannten Werfen oder Verbiegen des Holzes vorgebeugt werde. Als das
Brett fertig und die Verkittung an demselben vollkommen ausgetrocknet
war, wurde das Gemälde auf dasselbe aufgezogen. Wir hatten dort, wo
die Ränder des Bildes weggeschnitten waren, die Holzfläche größer
gemacht und die neu entstandenen Stellen mit passender Leinwand gut
ausgeklebt, um dem Gemälde annähernd wieder eine Gestalt geben zu
können, die es ursprünglich gehabt haben mochte und in der es sich
den Augen wohlgefällig zeigte. Hierauf wurde daran gegangen, das Bild
von dem alten, hie und da noch vorfindlichen Firnisse und von dem
Schmutze, den es hatte, zu reinigen. Der Firniß war durch die
gewöhnlichen Mittel leicht wegzubringen, nicht so leicht aber der
durch Jahrhunderte veraltete Schmutz, ohne daß man in Gefahr kam, auch
die Farben zu beschädigen. Das gereinigte, auf der Staffelei stehende
Gemälde wies uns nun eine viel größere Schönheit, als es uns nach der
ersten oberflächlichen Waschung gezeigt hatte; aber es war durch die
vielen Sprünge, Risse und nackten Stellen noch so verunstaltet, daß
eine genaue Würdigung auch jetzt nicht möglich war, selbst wenn wir
bedeutend größere Erfahrungen gehabt hätten als wir hatten. Roland und
Eustach schritten zur Ausbesserung. Kein Ding kann schwieriger sein,
und durch keins sind Gemälde so sehr entstellt und entwertet worden.
Ich glaube, wir haben einen nicht unrichtigen Weg eingeschlagen.
Eine ursprüngliche Farbe durfte gar nicht bedeckt werden. Zum Glücke
hatte das Bild gar nie eine Ausbesserung oder sogenannte Übermalung
erhalten, so daß entweder nur die ursprüngliche Farbe vorhanden war
oder gar keine. In die farbentblößten Stellen wurde die Farbe, welche
die umgrenzenden Ränder zeigten, gleichsam wie ein Stift eingesetzt,
bis die Grube erfüllt war. Wir nahmen die Farben so trocken als
möglich und so dicht gerieben, als es der Laufer auf dem Steine, ohne
stecken zu bleiben zuwege bringen konnte. Wenn sich aber doch wieder
nach dem Trocknen eine Vertiefung zeigte, wurde dieselbe neuerdings
mit der nehmlichen Farbe ausgefüllt und so fortgefahren, bis eine
Höhlung nicht mehr entstand. Erhöhungen, die blieben, wurden mit einem
feinen Messer gleichgeschliffen. Auch über unausrottbaren Schmutz
wurde die Farbe seiner Umgebung gelegt. Wenn die Farbe nach längerer
Zeit durch das Öl, das sie enthielt, und durch andere Ursachen, die
vielleicht noch mitwirken, nachgedunkelt war und sich in dem Gemälde
als Fleck zeigte, wurde mit äußerst trockener Farbe und mit der Spitze
eines feinen Pinsels die Stelle so lange gleichsam ausgepunktet, bis
sie sich von der Umgebung durchaus nicht mehr unterschied. Dieses
Verfahren wurde zuweilen mehrere Male wiederholt. Zuletzt konnte man
mit freien Augen die Plätze, an welchen sich neue Farben befanden,
gar nicht mehr erkennen. Nur das Vergrößerungsglas zeigte noch die
Ausbesserungen. Wir brachten Jahre mit diesem Verfahren zu, besonders
da Zwischenzeiten waren, die mit andern Arbeiten ausgefüllt werden
mußten und da unser Vorgehen selber Zwischenzeiten bedingte, in denen
die Farben auszutrocknen hatten oder in denen man ihnen Zeit geben
mußte, die Veränderungen zu zeigen, die notwendig bei ihnen eintreten
müssen. Dafür aber war an dem vollendeten Gemälde nicht zu merken, daß
es nicht in allen Teilen ein altes sei, es hatte die feinen Sprünge
alter Bilder und hatte alle die Reinheit und Klarheit des Pinsels,
der es ursprünglich geschaffen hatte. Wenn man alte Bilder bei
Ausbesserungen übermalt und dadurch stimmt, so ist nicht selten
ein Überzug über die feinen Linien, welche die Zeit in alte Bilder
sprengt, und dieser Überzug zeigt nicht nur, daß das Bild ausgebessert
worden ist, sondern er stellt auch einen feinen Schleier dar, der über
die Farben gebreitet ist und sie trüb und undurchsichtig macht. Solche
Bilder geben oft einen düstern, unerfreulichen und schwerlastenden
Eindruck. Es werden Viele unser Tun in Herstellung alter Bilder
unbedeutend und unerheblich nennen, besonders da es so viele Zeit und
so viele Anstalten erforderte; uns aber machte es eine große und eine
innige Freude. Ihr werdet es gewiß nicht tadeln, da ihr einen so
großen Anteil an den Hervorbringungen der Kunst zu nehmen beginnt.
Wenn nach und nach die Gestalt eines alten Meisters vor uns aufstand,
so war es nicht bloß das Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte,
sondern das noch viel höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das
sonst verloren gewesen wäre und das wir selber nicht hätten erschaffen
können. Als schon bereits einige Teile des Bildes fertig waren, zeigte
es sich, daß die Farben reiner und glänzender seien, als wir gedacht
hatten, und daß das Bild einen vorzüglicheren Wert habe, als Anfangs
unsere Vermutung war. So lange die vielen Sprünge und farblosen
Stellen und so lange die unreinen Flecke, die wir nicht hatten
beseitigen können, auf dem Gemälde waren, übten sie auch auf das
Nichtzerstörte und sogar auf das sehr wohl Erhaltene einen Einfluß aus
und ließen es im Ganzen mißfärbiger erscheinen, als es war. Nachdem
aber in einer ziemlich großen Fläche die widerstreitenden Stellen mit
den entsprechenden Farben zugedeckt waren und die neue Farbe die alte,
statt ihr zu widersprechen, unterstützte, so kam eine Reinheit, ein
Schmelz, eine Durchsichtigkeit und sogar ein Feuer zu Stande, daß wir
in Erstaunen gerieten; denn bei starkbeschädigten Bildern kann man die
Folgerichtigkeit der Übergänge nicht beurteilen, bis man sie nicht
vollendet vor sich hat. Freilich mochte der besondere Farbenfluß sich
noch höher darstellen, da er von den unverbesserten und widerwärtigen
Stellen umgeben und gehoben wurde; aber das war schon vorauszusehen,
daß, wenn das ganze Bild fertig sein würde, seine Stimmung einen
entschieden künstlerischen Eindruck machen müsse. Ich hatte während
der Arbeit viele Mühe darauf verwendet, die ganze Geschichte und
die Herkunft des Bildes zu erforschen; allein ich kam zu keinem
Ergebnisse. Der Soldat, der die Leinwand aus Italien geschickt hatte,
war längst gestorben, und es lebte überhaupt niemand mehr, der in
näherer Beziehung zu dem Ereignisse gestanden wäre; denn dasselbe
hatte sich weit früher zugetragen, als ich gedacht hatte. Der
Großvater des letzten Besitzers des Bildes hatte öfter erzählt, daß
er sagen gehört habe, daß ein aus dem Hause gebürtiger Soldat einmal
seine Strümpfe und Hemden in ein Muttergottesbild eingewickelt aus
Welschland nach Hause geschickt habe. Die Wahrheit der Erzählung
bestätigte sich dadurch, daß man noch das alte zerstörte Marienbild
auf dem Dachboden des Hauses fand. Ich konnte auch nicht ergründen,
welche Gelegenheit es gewesen sei, die jenen deutschen Soldaten nach
Welschland geführt hatte. Von dem, herauszufinden, aus welcher Gegend
Italiens das Bild gekommen sei, konnte nun vollends gar keine Rede
mehr sein. Als nach langer Zeit, nach vieler Mühe und mancher
Unterbrechung das Gemälde in einem schönen, altertümlich gearbeiteten
Goldrahmen fertig vor uns stand, war es eine Art Fest für uns. Roland
war herbei gerufen worden, da er gegen den Schluß des Werkes eine
Reise angetreten und die Vollendung seinem Bruder überlassen hatte.
Mehrere Nachbaren waren geladen worden, ja ein Freund und Kenner alter
Kunst, dem ich die Sache gemeldet hatte, war sogar von ziemlich weiter
Entfernung herzugekommen, um die Wiederherstellung zu sehen, und
Andere, wenn sie auch nicht geladen waren, hatten sich eingefunden,
da sie durch Zufall Kenntnis von der Begebenheit erhalten hatten, und
wußten, daß sie auf dem Asperhofe nicht unwillkommen sein würden. Es
ist nicht wahr, was man öfter sagt, daß eine schöne Frau ohne Schmuck
schöner sei als in demselben; und eben so ist es nicht wahr, daß
ein Gemälde zu seiner Geltung nicht des Rahmens bedürfe. Ich
hatte zu unserem Marienbilde einen Rahmen nach Zeichnungen aus
mittelalterlichen Gegenständen bestellt und hatte dessen Ausführung
gelegentlich, wenn mich ein Geschäft oder mein Wille in die Stadt
brachte, überwacht. Er war weit eher auf dem Asperhofe angekommen, als
das Bild fertig war, und mußte die Zeit über in seiner Kiste verpackt
harren. Wir versuchten auch nicht ein einziges Mal das Bild in ihn
zu fügen, ehe es fertig war, um den Eindruck nicht zu schwächen.
Bei neuen Bildern zeigt freilich der Rahmen erst, daß noch Manches
hinzuzufügen und zu ändern ist, und Vieles muß an solchen Bildern erst
gemacht werden, wenn man sie bereits in einem Rahmen gesehen hat.
Bei alten Bildern, die wiederhergestellt werden, ist das anders,
besonders, wenn sie auf unsere Weise hergestellt worden. Da gibt das
Vorhandene den Weg der Herstellung an, man kann nicht anders malen,
als man malt, und die Tiefe, das Feuer und der Glanz der Farben ist
daher durch das bereits auf der Leinwand Befindliche bedingt. Wie dann
das Bild in einem Rahmen aussehen werde, liegt nicht in der Willkür
des Wiederherstellers, und wenn es in dem Rahmen trefflich oder minder
gut steht, so ist das Sache des ursprünglichen Meisters, dessen Werk
man nicht ändern darf. Als unsere Maria, welche noch nicht einmal
einen Firniß erhalten hatte, aus den altertümlichen Gestalten des
Rahmens, die sehr paßten, heraussah, so war es ein wunderbarer
Anblick, und erst jetzt sahen wir, welche Lieblichkeit und Kraft
der alte Meister in seinem Bilde dargelegt hatte. Obwohl der Rahmen
erhabene Arbeit in Blumen, Verzierungen und sogar in Teilen der
menschlichen Gestalt enthielt und auf demselben Glanzlichter von
starker Wirkung angebracht waren, so erschien das Bild doch nicht
unruhig, ja es beherrschte den Rahmen und machte seinen Reichtum zu
einer anmutigen Mannigfaltigkeit, während es selber durch seine Gewalt
sich geltend machte und in den erhebenden Farben von würdigem Schmucke
umgeben thronte. Ein leiser Ruf entschlüpfte den Lippen aller
Anwesenden, und ich freute mich, daß ich mich nicht getäuscht hatte,
als ich auf die Macht des Bildes rechnend einen so reichen Rahmen für
dasselbe bestellt hatte. Wir standen lange davor und betrachteten die
Schönheit der Farbengebung an den entblößten Teilen so wie die der
Gewandung und der Gründe, was im Vereine mit der Einfachheit und
Hoheit der Linienführung und mit der maßvollen Anordnung der Flächen
ein so würdevolles und heiliges Ganzes bildete, daß man sich eines
tiefen Ernstes nicht erwehren konnte, der wie wahrhaftige Andacht war.
Erst später fingen wir zu sprechen an, beredeten dieses und jenes und
kamen, wie es natürlich war, dahin, Vermutungen über den Meister zu
wagen. Es wurde Guido Reni genannt, es wurde Tizian genannt, es wurde
die Rafaelische Schule genannt. Für alles hatte man Gründe, und der
Schluß war, wie er es auch noch heute ist, daß man nicht wußte, von
wem das Bild sei. Roland war außerordentlich vergnügt, daß er die
Sache in ihrer Entstehung schon geahnt und durch den Kauf eine
so zweckmäßige Handlung ausgeführt habe. Damals war er noch
außerordentlich jung, er war bei Weitem nicht so eingeübt wie jetzt
und war daher seiner Handlung nicht ganz sicher. Eustach sah man es
an, daß ihm, wie der Volksausdruck sagt, das Herz vor Freude lache.
Eine freundliche Bewirtung meiner Gäste war damals das Ende des Tages.
Wir suchten in der folgenden Zeit eine Stelle, an welcher das Bild
am vorteilhaftesten aufgehängt werden könnte. Roland erhielt eine
Belohnung in einem Werke, das er sich schon lange gewünscht hatte, und
Eustach, das sah ich wohl, fand seine schönste Befriedigung darin, daß
er näher in unsere Kunstkreise gezogen wurde. Dem Manne, von welchem
das Bild in seinem verstümmelten Zustande gekauft worden war, gab ich
noch eine Summe, mit welcher er weit über seine Erwartung abgefunden
war; denn das Bild hätte er doch nie herstellen lassen können, er
wäre auch auf den Gedanken nicht gekommen, und ohne Roland wäre das
Bild nicht verkauft worden, bis es immer mehr verfallen und einmal
vernichtet worden wäre. Oft stand ich in späteren Zeiten noch davor
und hatte manche Freude in Betrachtung des Werkes. Ich sah das
Angesicht und die Hände der Mutter an und sah das teils nackte, teils
durch schöne Tücher schicklich verhüllte Kind. Ein dem Lande Italien
so häufig zukommendes Zeichen ist es, daß das Kind nicht in den Armen
der Mutter gehalten wird, sondern daß es mit schönem Hinneigen zu
derselben und von ihr leicht und sanft umfaßt auf einem erhöhten
Gegenstande vor ihr steht. Der Künstler hat dadurch nicht nur
Gelegenheit gefunden, den Körper des Kindes in einer weit schöneren
Stellung zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Busen gehalten
gewesen wäre, sondern er hat noch den weit höheren Vorteil erreicht,
das göttliche Kind in seiner Kraft und in seiner Freiheit zu zeigen,
was die Wirkung hat, als ehrten wir gleichsam schon die Macht, mit
welcher es einstens handeln wird. Daß südliche Völker den Heiland als
Kind in so großer sinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher wie ein kräftiger,
wunderschöner Leib des Südens aussieht, so beirrt mich das nicht,
sehen doch die Jesuskinder und die Johanneskinder des herrlichen
Rafael auch so aus, und die Wirkung ist doch eine so gewaltige. Daß
die Mutter, deren Mund so schön ist, die Augen gegen Himmel wendet,
sagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, scheint mir, ist hierin ein
wenig überboten, und der Künstler legt in eine Handlung, die er seine
Gestalt vor uns vornehmen läßt, eine Bedeutung, von der er nicht
machen kann, daß wir sie in der bloßen Gestalt sehen. Wer durch
einfachere Mittel wirkt, wirkt besser. Wenn er die Heiligkeit und
Hoheit statt in die erhobenen Augen in die bloße Gestalt hätte legen
können, wobei die Augen einfach vor sich hinblickten, so hätte er
besser getan. Rafael läßt seine Madonnen ruhig und ernst blicken, und
sie werden Himmelsköniginnen, während so manche andere nur betende
Mädchen sind. Aus diesem möchte ich auch schließen, daß das Bild nicht
aus der Rafaelschen Schule ist, so sehr die herrliche Gestalt des
Kindes daran erinnert. Das Bild hängt nicht mehr dort, wo es Anfangs
war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es gewährt eine
eigene Freude, zu versuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung
des Ganzen nicht eine bessere sei. Auch darüber haben wir ernste
Beratungen und vielerlei Versuche angestellt, welche Farbe wir den
Wänden geben sollen, daß sich die Bilder am besten von ihnen abheben.
Wir blieben dann bei dem rötlichen Braun stehen, das ihr jetzt noch
in dem Gemäldezimmer findet. Ich lasse nun nichts mehr ändern. Die
jetzige Lage der Bilder ist mir zu einer Gewohnheit und ist mir lieb
geworden, und ich möchte ohne übeln Eindruck die Sache nicht anders
sehen. Sie ist mir eine Freude und eine Blume meines Alters geworden.
Die Erwerbung der Bilder, die, wie ihr schon aus meinen früheren
Worten schließen könnt, nicht immer so leicht war wie die der heiligen
Maria, stellt eine eigene Linie in dem Gange meines Lebens dar, und
diese Linie ist mit Vielem versehen, was mir teils einen freudigen,
teils einen trüben Rückblick gewährt. Wir sind in manche Verhältnisse
geraten, haben manche Menschen kennen gelernt und haben manche Zeit
mit Wiederherstellung der Bilder, mit Verwindung von Täuschungen,
mit Hineinleben in Schönheiten zugebracht, wir haben auch manche zu
Zeichnungen und Entwürfen von Rahmen verwendet; denn alle Gemälde
haben wir nach und nach in neue, von uns entworfene Rahmen getan,
und so stehen nun die Werke um mich wie alte, hochverehrungswürdige
Freunde, die es täglich mehr werden und die eine Annehmlichkeit und
eine Wonne für meine noch übrigen Tage sind.«

Daß ich durch die Erzählung meines Gastfreundes der Sammlung seiner
Bilder noch mehr zugewendet wurde, begreift sich.

Ich lenkte meine Aufmerksamkeit nun auch auf die Kupferstiche meines
Gastfreundes. Da dieselben nicht unter Glas und Rahmen waren, sondern
sich in großen Laden des Tisches im Lesezimmer befanden, so konnte man
sie weit bequemer betrachten als die Gemälde. Ich nahm mir zuerst die
Mappen nach einander heraus und sah alle Kupferstiche der Reihe nach
an. Dann aber ging ich an eine mehr geordnete Betrachtung. So wie mein
Gastfreund nicht Bücher aus dem Hause gab, wohl aber einem Gaste in
sein Zimmer die verlangten bringen ließ, so tat er es auch mit den
Kupferstichen, nur gab er immer gleich eine ganze Mappe in ein Zimmer,
nicht aber leicht einzelne Blätter. Er tat dies der Erhaltung und
Schonung willen. Weil ich nun nicht viele Stunden im Lesezimmer
ununterbrochen mit Ansehen von Kupferstichen zubringen mochte, so
ließ mir mein Gastfreund die einzelnen Mappen nach und nach in meine
Wohnung bringen, und ich konnte die in ihnen enthaltenen Werke mit
Muße betrachten, konnte diese Beschäftigung auch durch Anderes
unterbrechen und konnte, wenn ich die Mappe durch eine beliebige Zeit
in meiner Wohnung gehabt hatte, dieselbe durch eine andere ersetzen.
Später, da ich alle Mappen genau durchsucht hatte, wobei ich mir
diejenigen Werke aufzeichnete, die mir ganz besonders gefielen oder
die von meinem Gastfreunde und Eustach als vorzüglich bezeichnet
waren, schlug ich mir bei Gelegenheit nur die eine oder andere auf, um
das eine oder andere mir sehr liebe Werk des Grabstichels zu besehen.
Ich merkte mir in meinem Gedenkbuche auch diejenigen an, welche ich
mir gleichfalls kaufen wollte, wenn es solche waren, die man noch im
Handel bekommen konnte. Ich lernte bei diesen Untersuchungen die Art
und Weise des Vortrags verschiedener Meister und verschiedener Zeiten
kennen und endlich auch würdigen, und ich fand wieder, wie es bei den
Gemälden der Fall ist, daß mit geringen Ausnahmen auch diese Kunst
eine schönere Vergangenheit gehabt habe, als sie eine Gegenwart habe,
ja bei den Kupferstichen konnte ich dies noch genauer kennen lernen
als bei Gemälden, da mein Freund alte und neue Kupferstiche hatte,
während in seinem Bilderzimmer nur sehr wenige neue Bilder hingen, die
Vergleichung also schwieriger war, und ich mich auf die neuen Bilder
weniger erinnerte, welche ich in der Stadt gesehen hatte und welche
ich auch mit anderen Augen mochte angeschaut haben. Ich lernte
die Feinheiten, die Großartigkeit, die Schönheit, die Ruhe in der
Behandlung immer mehr kennen und würdigen und beschloß, da mir
Kupferstiche weit leichter zu erwerben waren als Gemälde, vorläufig
damit zu beginnen, mir Blätter, die ich für trefflich hielt, zu kaufen
und eine Sammlung anzubahnen. Es war eine ziemliche Zeit hingegangen,
die ich mit Betrachtung und Einprägung der Kupferstiche und Gemälde
verbrachte. Eustach war häufig bei mir, wir sprachen über die Dinge,
und ich lernte täglich höher von diesem Manne denken.

Ich kam während dieser Zeit auch öfter in das Schreinerhaus und andere
Werkstätten und sah zu, was da verfertiget werde.

Bei diesen Veranlassungen fiel es mir auf, daß mein Gastfreund noch
nicht begonnen hatte, aus dem in Wahrheit gewiß außerordentlich
schönen Marmor, den ich ihm gebracht hatte, dessen Schönheit ich ganz
gewiß zu beurteilen verstand und der ihm selber viele Freude gemacht
zu haben schien, etwas verfertigen zu lassen. Ich konnte auch
den Marmor in dem Rosenhause gar nicht auffinden. Er war in dem
Vorratshause gelegen, wo sich auch öfter Steine von mir befunden
hatten. Jetzt war er nicht mehr dort. War er, um nicht Verletzungen zu
erfahren, in einen anderen, sichereren Ort gebracht worden oder hatte
man ihn doch irgendwohin gesendet, wo an ihm gearbeitet wurde? Das
Letzte war nicht denkbar, da mein Gastfreund alle Dinge aus Holz
und Stein in seinem Hause arbeiten ließ, wozu auch nicht nur die
Vorrichtungen und Werkzeuge vorhanden waren, sondern wohin auch zu
jeder Zeit die etwa noch mangelnden Arbeitskräfte gezogen werden
können.


Ich machte eines Tages eine Reise in das Lauterthal und hielt mich
einige Zeit in demselben auf. Es war nicht, um meine gewöhnliche
Beschäftigung dort vorzunehmen, sondern um nach den Arbeiten mit
meinem Marmor zu sehen. In der Nähe des Ahorngasthauses - etwa zwei
Wegestunden von demselben entfernt - befand sich die Anstalt, in
welcher Marmor gesägt und geschliffen wurde und in welcher man
verschiedene Dinge aus Marmor verfertigte. Der Ort hieß das Rothmoor,
weshalb, konnte ich nicht ergründen; denn es war überall Gestein und
rauschendes Wasser, und von einem Moore war auf Meilen in der Länge
und Breite nichts zu finden; aber der Ort hieß so. Es befanden sich
dort mehrere Stücke Marmor von mir, damit aus denselben etwas für den
Vater gemacht würde. Das größte Stück war fast rosenrot, und es sollte
daraus ein Wasserbecken für den Garten werden. Das Becken aber hatte
ich selber entworfen. Aus großer Vorliebe für Gewächse hatte ich seine
Gestalt aus dem Gewächsreiche genommen. Es war ein Blatt, welches dem
der Einbeere sehr ähnlich war, in welchem die glänzende dunkelschwarze
Kugel liegt. Ich hatte das Blatt nach einem wirklichen aus Wachs
gebildet, nur die Auszackung machte ich geringer und die Tiefe größer.
Das Wachsblatt wurde von einem Arbeiter, der des Gestaltens sehr
kundig war, in Gips bedeutend größer nachgebildet, und nach dem
Gipsblatte sollte das Marmorbecken gearbeitet werden. In der Tiefe
desselben sollte wie bei dem Einbeerenblatte die Kugel liegen, und aus
einem Stiele, der sich über das Blatt erhebt, soll das Wasser in einem
feinen Strahle in das Blatt springen. Das Blatt selber sollte von
Rosenmarmor, der Stamm und Stengel von einem anderen, dunkleren
sein. Ich bestrebte mich in dem Rothmoore nachzusehen, wie weit die
Arbeit gediehen sei, und versuchte durch Besprechungen für größere
Leichtigkeit und Reinheit einzuwirken. Aus anderem Marmor sollten
andere Dinge verfertigt werden. Zuerst das Pflaster um die Einbeere
herum. Das Blatt sollte sein Wasser auf dieses Pflaster hinabgießen,
dasselbe sollte auf seiner Ebene eine sanfte Rinne bilden, um
das Wasser weiter zu leiten. Die Farbe des Pflasters sollte blaß
gelblich sein. Ich hatte eine erkleckliche Anzahl Stücke hiezu
zusammengebracht. Für eine Laube in dem Garten hatte ich die Platte
eines Tischchens beabsichtigt. Sonst waren noch kleine Tragsteine, ein
paar Simse und Briefbeschwerer im Werke. Die Sachen waren in Arbeit.
Als Daraufgabe war ein Nest, in welchem zwei Eier lagen, deren Marmor
fast täuschend die Farbe von Kibitzeiern hatte.

Ich war mit den Arbeiten, so weit sie jetzt gediehen waren, sehr
zufrieden. Der Stein zu dem Becken war nicht nur in seine allgemeine
Gestalt geschnitten worden, sondern das Blatt war in rohen Umrissen
fertig, so daß zur feineren Ausfeilung und zur Glättung geschritten
werden konnte. Es arbeiteten zwei Menschen ausschließlich an diesem
Gegenstande. Mit dem Gipsvorbilde ließ ich noch einige Veränderungen
vornehmen. Es war mir nicht leicht genug und zeigte mir nicht
hinlänglich das Weiche des Pflanzenlebens.

Ich ging in die Berge, suchte Pflanzen der Einbeere und brachte sie
sammt ihrer Erde in Töpfen zurück, damit sie nicht zu schnell welkten
und uns länger als Muster dienen könnten. An diesen Pflanzen suchte
ich zu zeigen, was an dem Vorbilde noch fehle. Ich erklärte, wo ein
Blatteil sich sanfter legen, ein Rand sich weicher krümmen müsse,
damit endlich das Steinbild, wenn es fertig wäre, nicht den Eindruck
hervorbringe, als ob es gemacht worden, sondern den, als ob es
gewachsen wäre. Da ich mich bemühte, die Sache ohne Verletzung des
Mannes, welcher das Gipsvorbild verfertiget hatte, darzulegen und sie
eher in das Gewand einer Beratung einzukleiden, so ging man auf meine
Ansichten sehr gerne ein, und da die ersten Versuche gelangen und das
Becken durch die größere Ähnlichkeit, die es mit dem Blatte erlangte,
auch sichtbar an Schönheit gewann, so ging man mit Eifer an die
Fortsetzung, suchte sich den Pflanzenmerkmalen immer mehr zu nähern
und erlebte die Freude, daß endlich das Werk in ungemein edlerer
Vollendung dastand als früher. Selbst für künftige Arbeiten hatte man
durch dieses Verfahren einen Anhaltspunkt gewonnen, und Hoffnungen
geschöpft, sich in schönere und heiterere Kreise zu schwingen.
Der Werkmeister sprach unverhohlen mit mir über die Sache. Früher
hatte man nach hergebrachten Gestalten und Zeichnungen Gegenstände
verfertigt, dieselben versandt und Preise dafür erhalten, die solchen
Waren gewöhnlich zukommen, so daß die Anstalt bestehen konnte, aber
einer gehäbigen und wohlhabenden Blüte doch nicht teilhaftig war.
Daß man sich an Pflanzen als Vorbilder wenden könne, war ihnen nicht
eingefallen.

Jetzt richtete man den Blick auf sie und fand, daß alle Berge voll
von Dingen ständen, die ihnen Fingerzeige geben könnten, wie sie ihre
Werke zu verfertigen und zu veredeln hätten.

Ich blieb so lange da, bis das Gipsblatt vollkommen fertig war, und
bis ich mich darüber beruhigt hatte, welche Werkzeuge zum Messen
angewendet würden, damit die Gestalt des Vorbildes mit allen ihren
Verhältnissen in die Nachbildung übergehen könnte.

Nachdem ich noch die Bitte um Beschleunigung der Arbeit angebracht
hatte, damit ich sie so bald als möglich in den Garten des Vaters
bringen könnte, und nachdem ich versprochen hatte, in diesem Sommer
noch einen Besuch in der Anstalt zu machen, trat ich den Rückweg in
das Rosenhaus wieder an.

Ich bestieg auf meiner Wanderung, die ich in den Bergen zu Fuße
machte, das Eiskar, setzte mich auf einen Steinblock und sah beinahe
den ganzen Nachmittag in tiefem Sinnen auf die Landschaften, die vor
mir ausgebreitet waren, hinaus.


In dem Rosenhause beschäftigte ich mich wieder mit Betrachtung der
Bilder. Ich nahm sogar ein Vergrößerungsglas und sah die Gemälde an,
wie denn die verschiedenen alten Meister gemalt haben, ob der eine
einen stumpfen, starren Pinsel genommen habe, der andere einen langen,
weichen, ob sie mit breitem oder spitzigem gearbeitet, ob sie viel
untermalt haben oder gleich mit den schweren, undurchsichtigen Farben
darauf gegangen seien, ob sie in kleinen Flächen fertig gemacht oder
das Große vorerst angelegt und es in allen Teilen nach und nach der
Vollendung zugeführt hätten.

Mein Gastfreund war in diesen Dingen sehr erfahren und stand mir bei.

Von den Dichtern nahm ich jetzt Calderon vor. Ich konnte ihn bereits
in dem Spanischen lesen und vertiefte mich mit großem Eifer in seinen
Geist.

Wir besuchten mehrere Male den Inghof. Es wurde dort Musik gemacht, es
wurde gespielt, wir besuchten die schönsten Teile der Umgebung oder
besahen, was der Garten oder der Meierhof oder das Haus Vorzügliches
aufzuweisen hatte.

Zur Zeit der Rosenblüte kamen Mathilde und Natalie auf den Asperhof.
Wir wußten den Tag der Ankunft und erwarteten sie. Als sie
ausgestiegen waren, als Mathilde und mein Gastfreund sich begrüßt
hatten, als einige Worte von den Lippen der Mutter zu Gustav
gesprochen worden waren, wendete sie sich zu mir und sprach mit den
freundlichsten Mienen und mit dem liebevollsten Blick ihrer Augen
die Freude aus, mich hier zu finden, zu wissen, daß ich mich schon
ziemlich lange bei ihrem Freunde und ihrem Sohne aufgehalten habe,
und zu hoffen, daß ich die ganze schöne Jahreszeit auf dem Asperhofe
zubringen werde.

Ich erwiderte, daß ich heuer beschlossen habe, den ganzen Sommer über
bloß für mein Vergnügen zu leben und daß ich es mit großem Danke
anerkennen müsse, daß mir erlaubt sei, auf diesem Sitze verweilen zu
dürfen, der das Herz, den Verstand und das ganze Wesen eines jungen
Mannes so zu bilden geeignet sei.

Natalie stand vor mir, da dieses gesprochen worden war. Sie erschien
mir in diesem Jahre vollkommener geworden und war so außerordentlich
schön, wie ich nie in meinem ganzen Leben ein weibliches Wesen gesehen
habe.

Sie sagte kein Wort zu mir, sondern sah mich nur an. Ich war nicht
im Stande, etwas aufzufinden, was ich zur Bewillkommnung hätte sagen
können. Ich verbeugte mich stumm, und sie erwiderte diese Verbeugung
durch eine gleiche.

Hierauf gingen wir in das Haus.

Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine
einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern
zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schönen
Treppe des Hauses stand, man ging öfter in das Bilderzimmer und besah
Verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen
Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes
hernieder sank, und vergnügte sich an der Herrlichkeit der dort
befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte,
daß Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei und daß sie
dieselbe mit warmem Herzen liebe. Auch an Natalien sah ich, daß sie in
Kunstdingen nicht fremd sei und daß sie in ihrer Neigung etwas gelten.
Ich machte also jetzt die Erfahrung, daß man in früherer Zeit, da
ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemälde und ähnliche Kunstwerke
gerichtet hatte und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch
nicht einnahmen, mich geschont habe, daß man nicht eingegangen sei,
in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken
zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu nötigen, der in jenem
Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner Seelenkräfte lag. Mir kam
jetzt auch zu Sinne, daß in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf
eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe und daß er sich nur
insoweit über dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen
kam und um dieses oder jenes fragte. Sie haben also sämmtlich einen
Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war und von dem
sie erwarteten, daß ich vielleicht mein Gemüt zu ihm hinwenden würde.
Mich erfüllte diese Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich
erschien mir gegenüber all den Personen, die nun durch meine
Vorstellung gingen, als ungefüg und unbehilflich; aber da sie immer so
gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloß ich aus diesem
Umstande, daß sie nicht nachteilig über mich geurteilt und daß
sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher
bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines
Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, daß sie
mit einer Art von Freude in die Gespräche eingingen, die sich jetzt
über bildende Kunst entspannen, daß also das nicht unsachgemäß sein
mußte, was ich in dieser Richtung jetzt äußerte, und daß es ihnen
angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen,
welche für sie Wichtigkeit hatte.

Eines Tages, da die Blüte der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde
ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen
Gastfreund richtete und welche offenbar nur für diesen allein
bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses
ein Fenstergitter. Das Erdgeschoß des Hauses hatte lauter eiserne
Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene großstäbigen Gitter, wie
man sie an vielen Häusern und auch an Gefängnissen anbringt, sondern
sie waren sanft geschweift und hatten oben und unten eine flache
Wölbung, die mitten, gleichsam wie in einen Schlußstein, in eine
schöne Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzüglich leichter
Arbeit und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen
gesehen hatte. Außerdem war das ganze Gitter in zierlicher Art
zusammengestellt, und die Stäbe hatten nebst der Schlußrose noch
manche andere bedeutsame Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich
mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen
hinausgingen, befand, um mir vorläufig die ganze Gestalt des Gitters,
die außen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die
einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte
ich mir später einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit
vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblätter
vor demselben von einem Schatten bedeckt würden. Da ich genauer
hinsah, erkannte ich, daß jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber
der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke
ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens
Stimme, die sagte: »Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück
abgeblüht.«

Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welcher sagte: »Es ist
nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.«

Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte
des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespräches nicht mehr zu
vernehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht geziemend sei,
wenn mein Gastfreund und Mathilde später erführen, daß ich zu der
Zeit, als sie ein Gespräch vor dem Fenster geführt hatten, in der
Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehörte, so entfernte ich mich
auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit
meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den großen
Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte
mir meine Zeichnungsgeräte, die ich dort liegen gelassen hatte;
denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, daß ich zum
Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte.

Als die Rosenblüte gänzlich vorüber war, beschlossen wir, uns auch
eine Zeit in dem Sternenhofe aufzuhalten. Da wir den Hügel zu ihm
hinan fuhren, sah ich, daß Gerüste an dem Mauerwerke aufgeschlagen
waren, und als wir uns genähert hatten, erkannte ich, daß die
Arbeiter, die sich auf den Gerüsten befanden, damit beschäftigt waren,
die Tünche von den breiten Steinen, welche an die Oberfläche der
Mauern gingen, abzunehmen und die Steine zu reinigen. Man hatte vorher
an einem abgelegenen Teile des Hauses einen Versuch gemacht, welcher
sich bewährte und welcher dartat, daß das Haus ohne Tünche viel
schöner aussehen werde.

In dem Sternenhofe wurde ich so freundlich behandelt, wie in der
früheren Zeit, ja wenn ich meinem Gefühle trauen durfte und wenn man
so feine Unterscheidungen machen darf, noch freundlicher als früher.
Mathilde zeigte mir selber alles, von dem sie glaubte, daß es mir von
einigem Werte sein könnte, und erklärte mir bei diesem Vorgange alles,
von dem sie glaubte, daß es einer Erklärung bedürfen könnte. Während
dieses meines Aufenthaltes erfuhr ich auch, daß Mathilde das Schloß
von einem vornehmen Manne gekauft hatte, der selten auf demselben
gewesen war und es ziemlich vernachlässigt hatte. Vor ihm war es im
Besitze einer Verwandten gewesen, deren Großvater es gekauft hatte. In
der Zeit vorher war ein häufiger Wechsel der Eigentümer gewesen, und
das Gut war sehr herab gekommen. Mathilde fing damit an, daß sie die
zum Schlosse gehörigen Untertanen, welche Zehnte und Gaben in dasselbe
zu entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt für alle Zeiten
von ihren Pflichten entband und sie zu unbeschränkten Eigentümern auf
ihrem Grunde machte. Das zweite, was sie tat, bestand darin, daß sie
die Liegenschaften des Schlosses selber zu bewirtschaften begann,
daß sie einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen
Familie begründete und mit diesem Hausstande lebte. Sie richtete den
Meierhof zurecht und brachte mit Hilfe tätiger Leute, die sie aufnahm,
die Felder, die Wiesen und Wälder in einen besseren Stand.

Die schönen Zeilen von Obstbäumen, welche durch die Fluren liefen und
die mir bei meinem ersten Aufenthalte schon so sehr gefallen hatten,
waren von ihr selber gepflanzt, und wenn sie gute, selbst ziemlich
erwachsene Obstbäume irgendwo erhalten konnte, so scheute sie nicht
die Zeit und den Aufwand, sie bringen und auf ihren Grund setzen zu
lassen. Da die Nachbarn dieses Verfahren allmählich nachahmten, so
erhielt die Gegend das eigentümliche und wohlgefällige Ansehen, das
sie von den umliegenden Ländereien unterschied.

Die Gemälde, welche sich in den Wohnzimmern Mathildens und Nataliens
befanden, hatten nach meiner Meinung im Ganzen genommen zwar nicht den
Wert wie die im Asperhofe, aber es waren manche darunter, welche mir
nach meinen jetzigen Ansichten mit der größten Meisterschaft gemacht
schienen. Ich sagte die Sache meinem Gastfreunde, er bestätigte sie
und zeigte mir Gemälde von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Van Dyck
und Holbein. Unbedeutende oder gar schlechte Bilder, wie ich sie, so
weit mir jetzt dieses meine Rückerinnerung plötzlich und wiederholt
vor Augen brachte, in manchen Sammlungen, die mir in früheren Jahren
zugänglich gewesen waren, gesehen hatte, befanden sich weder in der
Wohnung Mathildens noch in dem Asperhofe. Wir sprachen auch hier
so wie in dem Rosenhause von den Gemälden, und es gehörte zu den
schönsten Augenblicken, wenn ein Bild auf die Staffelei getan worden
war, wenn man die Fenster, die ein störendes Licht hätten senden
können, verhüllt hatte, wenn das Bild in die rechte Helle gerückt
worden war, und wenn wir uns nun davor befanden. Mathilde und
mein Gastfreund saßen gewöhnlich, Eustach und ich standen, neben
uns Natalie und nicht selten auch Gustav, welcher bei solchen
Gelegenheiten sehr bescheiden und aufmerksam war. Öfter sprach
hauptsächlich mein Gastfreund von dem Bilde, öfter aber auch Eustach,
wozu Mathilde ihre Worte oder einfachen Meinungen gesellte. Man
wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich Manches, das
man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die
man ohnehin kannte. So wiederholte man den Genuß und verlebte sich in
das Kunstwerk. Ich sprach sehr selten mit, höchstens fragte ich und
ließ mir etwas erklären. Natalie stand daneben und redete niemals ein
Wort.


Zur Nymphe des Brunnens, die unter der Eppichwand im Garten war, ging
ich auch öfter. Früher hatte ich den wunderschönen Marmor bewundert,
desgleichen mir nicht vorgekommen war; jetzt erschien mir auch die
Gestalt als ein sehr schönes Gebilde. Ich verglich sie mit der auf
der Treppe im Hause meines Gastfreundes stehenden. Wenn auch jenes an
Hoheit, Würde und Ernst weit den Vorzug in meinen Augen hatte, so war
dieses doch auch für mich sehr anmutig, weich und klar, es hatte eine
beschwichtigende Ruhe, wie die Göttin eines Quells sollte, und hatte
doch wieder jenes Reine und, ich möchte sagen, Fremde, das ein Gemälde
nicht hat, das aber der Marmor so gerne zeigt. Ich wurde mir dieser
Empfindung des Fremden jetzt klarer bewußt, und ich erfuhr auch,
daß sie mich schon in früherer Zeit ergriffen hatte, wenn ich mich
Marmorbildwerken gegenüber befand. Es wirkte bei dieser Gestalt noch
ein Besonderes mit, was in meiner Beschäftigung der Erdforschung
seinen Grund hat, nehmlich, daß der Marmor gar so schön und fast
fleckenlos war. Er gehörte zu jener Gattung, die an den Rändern
durchscheinend ist, deren Weiße beinahe funkelt und uns verleitet,
zu meinen, man sähe die zarten Kristalle wie Eisnadeln oder wie
Zuckerkörner schimmern. Diese Reinheit hatte für mich an der Gestalt
etwas Erhabenes. Nur dort, wo das Wasser aus dem Kruge floß, den die
Gestalt umschlungen hielt, war ein grünlicher Schein in dem Marmor,
und der Staffel, auf dem der am tiefsten herabgehende Fuß ruhte, war
ebenfalls grün und von unten durch die herauf dringende Feuchtigkeit
ein wenig verunreinigt. Der Marmor an dem Bilde meines Freundes war
wohl trefflich, es mochte wahrscheinlich parischer sein; aber er hatte
schon einigermaßen die Farbe alten Marmors, während die Nymphe wie neu
war, als wäre der Marmor aus Carrara. Ich dachte mir wohl auch, und
meine Freunde bestätigten es, daß das Bildwerk neueren Ursprunges sei;
aber wie bei dem meines Gastfreundes wußte man auch hier den Meister
nicht. Ich saß sehr gerne in der Grotte bei dem Bildwerke. Es war da
ein Sitz von weißem Marmor in einer Vertiefung, die sich seitwärts von
der Nymphe in das Bauwerk zurück zog und von der aus man die Gestalt
sehr gut betrachten konnte. Es war ein sanftes Dämmern auf dem Marmor,
und im Dämmern war es wieder, als leuchtete der Marmor. Man konnte
hier auch das leise Rinnen des Wassers aus dem Kruge, das Kräuseln
desselben in dem Becken, das Hinabträufeln auf den Boden und das
gelegentliche Blitzen auf demselben sehen.

Zur Wohnung hatte man mir dieselbe Räumlichkeit gegeben, die ich in
den ersten zwei Malen inne hatte, da ich in diesem Schlosse war. Man
hatte sie mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, auf die man nur
immer denken konnte und deren ich zum größten Teile nicht bedurfte;
denn ich war in meinem Reiseleben gewohnt geworden, in den äußeren
Dingen auf das Einfachste vorzugehen.

Da wir von dem Sternenhofe Abschied nahmen, sagte mir Mathilde auf die
liebe, freundliche Weise Lebewohl, mit der sie mich empfangen hatte.

Wir besuchten auf unserer Rückreise mehrere Landwirte, welche in der
Gegend einen großen Ruf genossen, und besahen, was sie auf ihren
Gütern eingeführt hatten und was sie zum Wohle des Landes auszubreiten
wünschten. Mein Gastfreund nahm Rebstecklinge, Abteilungen von Samen
und Abbildungen von neuen Vorrichtungen mit nach Hause.

Ehe ich die Rückreise zu den Meinigen antrat, ging ich noch einmal in
das Rothmoor, um zu sehen, wie weit die Arbeiten aus meinem Marmor
gediehen wären. Von den kleineren Dingen waren manche fertig. Das
Wasserbecken und die größeren Arbeiten mußten in das nächste Jahr
hinüber genommen werden. Ich billigte diese Anordnung; denn es war mir
lieber, daß die Sache gut gemacht würde, als daß sie bald fertig wäre.

Das Vollendete packte ich ein, um es mit nach Hause zu nehmen.

In dem Rosenhause fand ich bei meiner Zurückkunft einen Brief
von Roland, der über die Ergebnisse der Nachforschungen nach den
Ergänzungen zu den Pfeilerverkleidungen meines Vaters sprach. Es war
keine Hoffnung vorhanden, die Ergänzungen zu finden. Im ganzen Gebirge
war nichts, was mit den beschriebenen Verkleidungen Ähnlichkeit hatte,
überhaupt sind da keine Verkleidungen und Vertäflungen vorhanden
gewesen, wohin Roland seit Jahren seine Wanderungen angestellt hatte,
sie müßten denn sehr verborgen sein, wornach man ein Auffinden so dem
Zufalle anheim geben müsse, wie das durch Zufall entdeckt worden sei,
was ich meinem Vater gebracht hätte. In Hinsicht der Vertäflungen
aber, um welche es sich hier handle, sei beinahe Gewiß vorhanden, daß
sie zerstört worden seien. Die Ausmaße, welche ihm über die in den
Händen meines Vaters befindlichen Werke zugesendet worden seien,
passen genau auf ein Gemach im Steinhause des Lauterthales, woher
gleich Anfangs der Ursprung der Dinge vermutet worden sei und welches
Gemach jetzt öde steht. Es habe zwei Pfeiler, an denen die noch
vorhandenen Verkleidungen gewesen sein müssen. Die Zwischenarbeiten
sind eben so zerstört worden wie Vieles, was sich in jenem steinernen
Schlößchen befunden habe; denn sonst mußten sie sich entweder in
dem Gebäude oder in der Gegend vorfinden, was beides nicht der Fall
ist, oder sie müßten sehr im Verborgenen sein, da doch sonst die
Nachforschungen, welche nun schon durch zwei Jahre angestellt und
bekannt geworden seien, die Leute veranlaßt haben dürften, die Sachen
zum Verkaufe um einen guten Kaufschilling zu bringen. Man müsse also
seine Gedanken dahin richten, daß nichts zu finden sei, und wenn doch
noch etwas gefunden würde, so müsse man es als eine unverhoffte Gunst
ansehen. Mein Gastfreund und ich sagten, daß wir ungefähr auf dieses
Ergebnis gefaßt gewesen seien.


Als der Herbst ziemlich vorgesehritten war, begab ich mich auf die
Rückreise in meine Heimat. Es war ein sehr heiterer Sonntagsmorgen,
den ich zu meiner Ankunft auserwählt hatte, weil ich wußte, daß an
diesem Tage der Vater zu Hause sein würde und ich daher den Nachmittag
in dem vollen Kreise der Meinigen zubringen konnte. Ich war nicht
wie gewöhnlich auf einem Schiffe gekommen, sondern ich hatte meine
Wanderung längs des ganzen Gebirges gegen Sonnenaufgang unternommen
und war dann mitternachtwärts mit einem Wagen in unsere Stadt
gefahren. Den Vater traf ich sehr heiter an, er schien gleichsam um
mehrere Jahre jünger geworden zu sein. Die Augen glänzten in seinem
Angesichte, als wäre ihm eine sehr große Freude widerfahren. Auch die
anderen sahen sehr vergnügt und fröhlich aus.

Nach dem Mittagessen führte er mich in das gläserne Häuschen und
zeigte mir, daß sich die Verkleidungen bereits auf den Pfeilern
befänden. Es war ein bewunderungswürdiger Anblick, ich hätte nie
gedacht, daß sich die Schnitzerei so gut darstellen würde. Sie war
vollkommen gereinigt und schwach mit Firniß überzogen worden.

»Siehst du«, sagte der Vater, »wie sich alles schön gestaltet hat.
Die Holzverkleidung fügt sich, als wäre sie für diese Pfeiler gemacht
worden. Es ist fast auch so der Fall; wenn nicht die Holzverkleidung
für die Pfeiler gemacht worden ist, so sind doch die Pfeiler für die
Holzverkleidung gemacht worden. Was aber von weit größerer Bedeutung
ist, besteht darin, daß das Holzkunstwerk in das ganze Häuschen so
paßt, als wäre sie ursprünglich für dasselbe bestimmt gewesen - und
dies freut mich am meisten. Ich kann mich daher auch nicht so betrüben
wie du, daß die anderen Teile der Verkleidungen nicht aufzufinden
gewesen sind. Ich müßte das ganze Häuschen wieder umbauen, wenn die
Ergänzungen zum Vorscheine gekommen wären; denn schwerlich würden sie
hieher passen, und zu verstümmeln oder zu vergrößern würden sie ihrer
Natur nach nicht sein. Wir wollen daher das Vorhandene genießen, und
kömmt durch ein Wunder die Ergänzung zum Vorscheine, so wird sich
schon zeigen, was zu tun sei. Du siehst, wir haben uns viele Mühe
gegeben, die Lücken auszufüllen und alles in einen natürlichen
Zusammenhang zu bringen.«

So war es auch. Über den Verkleidungen befanden sich an den Pfeilern
Spiegel eingesetzt, deren Rahmen die Verzierungen der Verkleidung
fortsetzten und zu den Verzierungen der Fensterstäbe und Fensterkreuze
hinüber leiteten. Unter den Fenstern waren Simse und Vertäflungen so
angebracht, daß sie eine ruhigere Fläche zwischen den Schnitzwerken
abgaben. Ich sprach gegen meinen Vater meine Bewunderung aus, daß man
der Sache eine solche Gestalt zu geben gewußt habe.

»Es ist uns aber auch ein sehr tüchtiger Lehrmeister beigestanden«,
erwiderte er, »und wir waren in der Lage, nach seinem Rate noch
Manches in unserem begonnenen Werke abzuändern; denn sonst wäre es
nicht so geworden, wie es geworden ist. Setze dich zu uns, daß ich es
dir erzähle.«

Er saß mit der Mutter auf einer Bank, die aus feinen Rohrstäben
geflochten war, die Schwester und ich nahmen ihnen gegenüber auf
Sesseln Platz.

»Dein Gastfreund«, fing er an, »hat uns ausgefunden und hat, als du
zwei Wochen fort warest, seine Bauzeichnungen und die Zeichnungen
vieler anderer Gegenstände hieher gesendet, daß ich sie ansehe. Er
hat mir auch den Antrag gemacht, daß ich manche, die mir besonders
gefielen, zu meinem Gebrauche nachzeichnen lassen dürfe, nur möchte
ich ihm die Blätter vorher alle senden und die bezeichnen, deren
Nachbildung ich wünschte, er würde sie mir dann gelegentlich zu diesem
Gebrauche zustellen. Ich lehnte diese Erlaubnis ab, nur Einzelnes von
Verzierungen oder Stäben ließ ich flüchtig heraus zeichnen, in so
fern ich erkannte, daß es mir bei meinen nächsten Anordnungen würde
dienlich sein. Den größten Nutzen aber schöpften wir - mein Arbeiter
und ich - aus der Anschauung des Ganzen überhaupt. Wir lernten hier
neue Dinge kennen, wir sahen, daß es Schöneres gibt, als wir selber
haben, so daß wir den Plan und die Ausführung zu den Arbeiten in dem
Häuschen hier viel besser machten, als wir sonst beides gemacht haben
würden.

Die Zeichnungen von den Bauwerken, Geräten und anderen Dingen, welche
mir dein Gastfreund gesandt hat, sind so schön, daß es vielleicht
wenige gleiche gibt. Ich habe wohl in jüngeren Jahren bei meinen
Reisen und Wanderungen sehr schöne und hie und da schönere Bauwerke
gesehen; aber Zeichnungen von Bauwerken habe ich nie so vollendet klar
und rein gesehen. Ich hatte eine große Freude bei dem Anschauen dieser
Dinge, und wer in dem Besitze einer so trefflichen Sammlung der
schönsten, zahlreichen und dabei so mannigfaltigen Gegenstände ist,
der kann niemals mehr bei seinen Anordnungen in das Unbedeutende,
Leere und Nichtige verfallen, ja er muß bei gehöriger Benützung, und
wenn sein Geist die Dinge in sich aufzunehmen versteht, nur das Hohe
und Reine hervorbringen. Das ist eine seltne Gunst des Schicksales,
wenn ein Mann die Muße, Mittel und Mitarbeiter hat, solche Werke
anlegen zu können. Es gehörte zu meinen schönsten Augenblicken, in
diesen Sammlungen blättern zu dürfen und mich in die Anschauung
dessen, was mich besonders ansprach, zu vertiefen. Vielleicht gönnt es
doch noch einmal eine spätere Gunst, von dem Anerbieten dieses Mannes
Gebrauch machen zu können und hie und da etwas zu Stande zu bringen,
was nicht ganz ein unwerter Zuwachs zu meinen letzten Tagen ist.

Also gefällt dir das, was wir zu unseren Verkleidungen hatten hinzu
machen lassen?«

»Vater, sehr«, erwiderte ich; »aber ich habe jetzt andere Dinge zu
reden; ich kann mich von meinem Erstaunen nicht erholen, daß mein
Gastfreund seine Zeichnungen hieher gesendet hat, die er so liebt,
die er gewiß nicht weniger liebt als seine Bücher, von denen er doch
keines aus seinem Hause gibt. Ich habe eine so große Freude über
dieses Ereignis, daß ich nicht Worte finde, sie nur halb auszudrücken.
Vater, mein Gefühl hat in jüngster Zeit einen solchen Aufschwung
genommen, daß ich die Sache selber nicht begreife, ich muß mit dir
darüber reden, ich habe sehr viele Dinge mit dir zu reden.

Meinem Gastfreunde muß ich auf das Wärmste und Heißeste danken, sobald
ich ihn sehe, er hat mir durch die Sendung der Zeichnungen an dich die
höchste Gunst erzeigt, die er mir nur zu erzeigen im Stande war.«

»Dann muß ich dich bitten, mit mir zu gehen und noch etwas
anzuschauen«, sagte mein Vater.

Er führte mich in sein Altertumszimmer. Die Mutter und die Schwester
gingen mit.


An einem Pfeiler, der mit einem langen, altertümlich gefaßten Spiegel
geschmückt war, stand der Tisch mit den Musikgeräten, den ich im
Rosenhause in der Wiederherstellung befindlich und zu Anfang dieses
Sommers bereits vollendet gesehen hatte.

Ich konnte vor Verwunderung kein Wort sagen.

Der Vater, der mein Gefühl verstand, sagte. »Der Tisch ist mein
Eigentum. Er ist mir in diesem Sommer gesendet worden, und es war
die Bitte beigefügt, ich möge ihn unter meinen andern Dingen als
Erinnerung an einen Mann aufstellen, dessen größte Freude es wäre,
einem Andern, der seine Neigung gleichen Dingen zuwende wie er, ein
Vergnügen zu machen.«

»Da muß ich nun augenblicklich zu meinem Freunde reisen«, rief ich.

»Den Dank habe ich ihm wohl schon ausgedrückt«, sagte der Vater; »aber
wenn du hingehen und es mit dem eigenen Munde tun willst, so freut es
mich um desto mehr.«

Die Schwester hüpfte oder sprang beinahe in dem Zimmer herum und rief:
»Ich habe es mir gedacht, daß er so handeln wird, ich habe es mir
gedacht. O der Freude, o der Freude! Wirst du bald abreisen?«

»Morgen mit dem frühesten Tagesanbruch«, erwiderte ich, »heute müssen
noch Pferde bestellt werden.«

»Es ist eine späte Jahreszeit und du bist kaum gekommen, mein Sohn«,
sagte die Mutter; »aber ich halte dich nicht ab. Der Tisch und noch
mehr die Gesinnung des Mannes, der ihn sendete, haben auf deinen Vater
wie ein Glück gewirkt. Das müssen vortreffliche Menschen sein.«

»Sie haben ihres Gleichen nicht auf Erden«, rief ich. Ohne zu säumen
schickte ich den Knecht auf die Post, um mir auf den nächsten Morgen
um vier Uhr zwei Pferde zu bestellen. Dann sprachen wir noch von dem
Tische. Der Vater breitete sich über seine Eigenschaften aus, er
erklärte uns dieses und jenes und setzte mir dann in einer längeren
Beweisführung auseinander, warum er gerade auf diesem Platze stehen
müsse, auf dem er stehe. Ohne von den Gemälden des Vaters etwas zu
sagen, auf welche ich mich sehr gefreut hatte und von denen ich
mit dem Vater hatte reden wollen, und ohne auf meinen diesjährigen
Sommeraufenthalt näher einzugehen, ließ ich den Rest des Tages
verfließen und erwartete mit Ungeduld den Morgen. Nur gelegentliche
Fragen des Vaters beantwortete ich und hörte zu, wenn er wieder von
dem sprach, was in diesem Sommer ein Ereignis für ihn gewesen war. Vor
dem Schlafengehen nahmen wir Abschied, und ich begab mich auf meine
Zimmer.

Um drei Uhr des Morgens war ein leichter Lederkoffer gepackt, und
eine halbe Stunde später stand ich in guten Reisekleidern da. In dem
Speisezimmer, in welchem noch ein Frühstück für mich bereit stand,
erwarteten mich die Mutter und die Schwester. Der Vater, sagten sie,
schlummre noch sehr sanft. Das Frühmahl war eingenommen, die Pferde
standen vor dem Haustore, die Mutter verabschiedete sich von mir,
die Schwester begleitete mich zu dem Wagen, küßte mich dort auf das
Innigste und Freudigste, ich stieg ein und der Wagen fuhr in der noch
überall dicht herrschenden Finsternis davon.

Ich war nie mit eigenen Postpferden gefahren, weil ich die Auslage für
Verschwendung hielt. Jetzt tat ich es, mir ging die Reise noch immer
nicht schnell genug, und auf jeder Post, wo ich neue Pferde und einen
neuen Wagen erhielt, däuchte mir der Aufenthalt zu lange.

Ich hatte den Vater um den Brief nicht gefragt, der mit den
Zeichnungen oder mit dem Tische gekommen war, auch hatte ich mich
nicht um die Art erkundigt, wie diese Dinge eingelangt seien. Der
Vater hatte ebenfalls nichts davon erwähnt. Ich beschloß, meinem
Vorhaben treu zu bleiben und hierüber eine Frage nicht zu stellen.


Nach einer nur durch das notwendige Essen von mir unterbrochenen Fahrt
bei Tag und Nacht kam ich gegen den Mittag des zweiten Tages in dem
Rosenhause an. Ich hielt vor dem Gitter, gab einem Knechte, der gar
nicht erstaunt war, weil er an mein Gehen und Kommen in diesem Hause
gewohnt sein mochte, meinen Koffer, sendete Wagen und Pferde auf die
letzte Post, in die sie gehörten, zurück, ging in das Haus und fragte
nach meinem Freunde.

Er sei in seinem Arbeitszimmer, sagte man mir.

Ich ließ mich melden und wurde hinaufgewiesen.

Er kam mir lächelnd entgegen, als ich eintrat. Ich sagte, er scheine
zu wissen, weshalb ich komme.

»Ich glaube es mir denken zu können«, antwortete er.

»Dann werdet ihr euch nicht wundern«, sagte ich, »daß ich in diesem
Jahre, für welches ich schon Abschied genommen habe, mittelst einer
sehr eiligen Reise noch einmal in euer Haus komme. Ihr habt meinem
Vater eine doppelte Freude erwiesen, ihr habt zu mir nichts gesagt,
mein Vater hat mir auch nichts geschrieben, wahrscheinlich, um den
Eindruck, wenn ich die Sache selber sähe, größer zu machen: ich müßte
ein sehr unrechtlicher Mensch sein, wenn ich nicht käme und für den
Jubel, der in mein Herz kam, nicht dankte. Ich weiß nicht, wodurch ich
es denn verdient habe, daß ihr das getan habt, was ihr tatet; ich weiß
nicht, wie ihr denn mit meinem Vater zusammenhänget, daß ihr ihm ein
so kostbares Geschenk macht und daß ihr mit den Zeichnungen so in
Liebe an ihn dachtet.

Ich danke euch tausendmal und auf das herzlichste dafür. Ich habe euch
für alles Freundliche, was mir in eurem Hause zu Teil geworden ist, in
meinem Herzen gedankt, ich habe euch auch mit Worten gedankt. Dieses
aber ist das Liebste, was mir von euch gekommen ist, und ich biete
euch den heißesten Dank dafür an, der sich am besten aussprechen
würde, wenn es mir nur auch einmal gegönnt wäre, für euch etwas tun zu
können.«

»Das dürfte sich vielleicht auch einmal fügen«, antwortete er, »das
Beste aber, was der Mensch für einen andern tun kann, ist doch immer
das, was er für ihn ist. Das Angenehmste an der Sache ist mir, daß ich
mich nicht getäuscht habe und daß euer Vater an den Sendungen Freude
hatte und daß die Freude des Vaters auch euch Freude machte. Im
übrigen ist ja alles sehr einfach und natürlich. Ihr habt mir von den
altertümlichen Dingen erzählt, welche euer Vater besitzt und welche
ihm Vergnügen machen, ihr habt von seinen Bildern gesprochen, ihr habt
ihm Schnitzwerke gebracht, für welche er eigens einen kleinen Erker
seines Hauses umbauen ließ, ihr habt euch große Mühe gegeben, die
Ergänzungen zu den Schnitzereien zu finden, habt sogar meinen Rat
hiebei eingeholt, und es war euch unangenehm, befürchten zu müssen,
daß ihr das Gesuchte trotz alles Strebens nicht finden würdet. Da
dachte ich, daß ich vielleicht mit einem meiner Gegenstände eurem
Vater ein Vergnügen machen könnte, besprach mich mit Eustach und
sandte den Tisch. Das Übersenden der Zeichnungen war auch ganz
folgerichtig. Ihr habt im vorigen Jahre mit vieler Mühe hier und im
Sternenhofe Abbildungen von Geräten gemacht, um eurem Vater nur im
Allgemeinen eine Vorstellung von dem zu geben, was hier ist. Wie nahe
lag es also, ihm Zeichnungen zu schicken, in denen noch weit mehr,
weit Umfassenderes und weit Edleres enthalten ist, obgleich sie
nur die Sammlung eines einzelnen Menschen sind und weit hinter dem
zurückstehen, was an Prachtwerken hie und da besteht. Wir haben
vielerlei an alten Geräten hier, wir können etwas entbehren, haben
schon Manches weggegeben, und geben gerne etwas einem Manne, der damit
Freude hat und der es zu pflegen und zu achten versteht.«

»Es wurde mir sehr viel Schmerz machen«, sagte ich, »wenn ihr nur im
Entferntesten denken könntet, daß ich mit meinen Handlungen auf ein
solches Ergebnis habe hinzielen können.«

»Das habe ich nie geglaubt, mein junger Freund«, antwortete er, »sonst
hätte ich die Sachen gar nicht geschickt. Aber es ist die zwölfte
Stunde nahe. Gehet mit mir in das Speisezimmer. Wir wußten zwar von
eurer Ankunft nichts; aber es wird sich schon etwas vorfinden, daß
ihr nicht Hunger leiden müsset und daß auch wir nicht einen Abbruch
leiden.«

Mit diesen Worten gingen wir in das Speisezimmer.

Nach dem Essen wurde ich von Gustav in meine Wohnung geleitet, die
immer in reinlichem Stande gehalten wurde und die jetzt von einem
schwachen Feuer wohltätig erwärmt war. Mir tat eine Ruhe etwas not,
und die mäßige Wärme erquickte meine Glieder.

Im Laufe des Nachmittages sagte mein Gastfreund zu mir. »Es ist nie
ein so schöner Spätherbst gewesen als heuer, meine Witterungsbücher
weisen keinen solchen seit meinem Hiersein aus, und es sind alle
Anzeichen vorhanden, daß dieser Zustand noch mehrere Tage dauern wird.
Nirgends aber sind solche klare Spätherbsttage schöner als in unseren
nördlichen Hochlanden. Während nicht selten in der Tiefe Morgennebel
liegen, ja der Strom täglich in seinem Tale Morgens den Nebelstreifen
führt, schaut auf die Häupter des Hochlandes der wolkenlose Himmel
herab und geht über sie eine reine Sonne auf, die sie auch den ganzen
Tag hindurch nicht verläßt. Darum ist es auch in dieser Jahreszeit in
dem Hochlande verhältnismäßig warm, und während die rauhen Nebel in
der Tiefgegend schon die Blätter von den Obstbäumen gestreift haben,
prangt oben noch mancher Birkenwald, mancher Schlehenstrauch, manches
Buchengehege mit seinem goldenen und roten Schmucke. Nachmittags ist
dann gewöhnlich auch die Aussicht über das ganze Tiefland deutlicher
als je zu irgend einer Zeit im Sommer. Wir haben daher beschlossen,
heuer noch eine Reise in das Hochland zu machen, wie ich es in
früherer Zeit schon in manchen Jahren getan habe. Die Entfernungen
sind dort nicht so groß, und sollten sich die Vorboten melden, daß
das Wetter sich zur Änderung anschicken so können wir jederzeit den
Heimweg antreten und ohne viel Ungemach den Asperhof wieder erreichen.
Morgen wird Mathilde und Natalie eintreffen, sie fahren mit uns, auch
Eustach begleitet uns. Wolltet ihr nicht auch den Weg mit uns machen
und einige Tage der lieblichen Spätzeit mit uns genießen? Kömmt dann
Schnee oder Regen, wenn wir wieder in meinem Hause angelangt sind, so
werdet ihr wohl auf dem Postwagen eure Heimreise machen können und das
Wetter wird euch nicht viel anhaben.«

»Es kann mir nie viel anhaben«, entgegnete ich, »weil ich gegen seine
Einflüsse abgehärtet bin, auch könnte mir in dem Gefühle, welches ich
gegen euch habe, keine größere Annehmlichkeit begegnen, als einige
Zeit in eurer Gesellschaft zu reisen; aber zu Hause wissen sie nichts
davon und erwarten mich wahrscheinlich schon bald.«

»Ihr könntet sie ja in einem Briefe verständigen«, sagte er.

»Das kann ich tun«, erwiderte ich. »Wenn ich auch gleich nach
meiner Ankunft nach einer viele Monate dauernden Abwesenheit wieder
fortgereist bin, wenn sie mich auch schon in den nächsten Tagen
erwarten, so werden sie doch einsehen, daß ein längerer Aufenthalt in
der Gesellschaft eines Mannes, zu welchem ich in einer Angelegenheit
wie die zwischen uns vorgefallene gereist bin, nur in der Natur der
Sache gegründet ist. Sie würden es weit übler nehmen, wenn ich unter
den bestehenden Verhältnissen nach Hause käme, als wenn ich noch eine
Weile bei euch bleibe.«

»Ich habe euch meine Frage und mein Anerbieten gestellt«, antwortete
mein Gastfreund, »handelt nach eurem besten Ermessen. Was ihr tut,
wird wohl das Rechte sein.«

»Ich schreibe sogleich den Brief.«

»Gut, und ich werde ihn sofort auf die Post senden.«


Ich ging in meine Zimmer und schrieb einen Brief an den Vater. Es war
wohl das Rechte, was ich tat. Wie schwer würden es mir Vater, Mutter
und Schwester verziehen haben, wenn ich mich nicht mit Freude an einen
Mann zu einer kurzen Reise angeschlossen hätte, der so an unserm Hause
gehandelt hat.

Als ich mit dem Briefe fertig war, trug ich ihn hinab, und der Knecht,
der gewöhnlich zu allen Botengängen verwendet wurde, wartete schon auf
ihn, um nebst anderen Aufträgen ihn an den Ort zu bringen, in welchem
er auf die Post kommen sollte.


Am anderen Tage, schon im Verlaufe des Vormittages, kamen Mathilde und
Natalie. Es schien, daß allen die Ursache, weshalb ich, nachdem ich
schon Abschied genommen hatte, wieder in das Rosenhaus gekommen war,
Freude machte. Sie sahen mich freundlicher an. Selbst Natalie, die
mich so gemieden hatte, war anders. Ich glaubte einige Male, wenn ich
abgewendet war, ihren Blick auf mich gerichtet zu wissen, den sie aber
sogleich, wenn ich hinsah, weg wendete. Gustav schloß sich mit ganzem
Herzen an mich an und hatte darüber kein Hehl. Ich wußte schon, daß
er mir immer seine Neigung in großem Maße zugewendet habe, und ich
erwiderte sie aus dem Grunde meiner Seele.

Nachmittags wurden die Vorbereitungen zur Reise gemacht, und am
anderen Morgen noch vor Aufgang der Sonne fuhren wir ab. Mit Mathilde
fuhren Natalie und ein Dienstmädchen, mit meinem Gastfreunde fuhren
Eustach, Gustav und ich. Mit Roland sollten wir irgend wo im Lande
zusammen treffen, er sollte eine Strecke mit uns reisen, und für
diesen Fall war es dann bestimmt, daß Gustav in dem Wagen der Mutter
untergebracht werden mußte. Die eigentümliche Art des Hochlandes
erzeugte einen eigentümlichen Plan des Reisens. Wir hatten nehmlich
beschlossen, über manchen steilen und länger dauernden Berg hinan zu
gehen, ebenso über manchen hinab. Dies sollte die ganze Gesellschaft
zuweilen zusammen bringen, zuweilen trennen. Man konnte auf diese Art
Manches gemeinschaftlich genießen, Manches vereinzelt, sich aber in
Kürze davon Mitteilungen machen.

Ehe noch die Sonne den höchsten Punkt ihres Bogens erklommen hatte,
waren wir bereits die Dachung empor gekommen, welche das niedrere
Land von dem Hochlande trennt, und fuhren nun in das eigentliche Ziel
unserer Reise hinein.

Mein Gastfreund hatte Recht. In dem milden, sanften Schimmer der
Nachmittagsonne, die hier fast wärmer schien als in den Ebenen und
Tälern des Tieflandes, fuhren wir einem lieblichen Schauplatze
entgegen. Selbst untergeordnete Umstände vereinigten sich, die Reise
angenehm zu machen. Die sandigen Straßen des Oberlandes, welche auch
sehr gut gebaut waren, zeigten sich, ohne staubig zu sein, sehr
trocken, was von den Wegen in der Tiefe nicht gesagt werden konnte,
die teils durch die täglichen Morgennebel getränkt, teils ihres
schweren Bodens halber schon in langen Strecken feucht, kühl und
schmutzig waren. So rollten wir bequem dahin, alles war klar,
durchsichtig und ruhig. Nataliens gelber Reisestrohhut tauchte vor uns
auf oder verschwand, so wie ihr Wagen einen leichten Wall hinan ging
oder jenseits desselben hinab fuhr.

Die Sonne stand an dem wolkenlosen Himmel, aber schon tief gegen
Süden, gleichsam als wollte sie für dieses Jahr Abschied nehmen. Die
letzte Kraft ihrer Strahlen glänzte noch um manches Gestein und um
die bunten Farben des Gestrippes an dem Gesteine. Die Felder waren
abgeerntet und umgepflügt, sie lagen kahl den Hügeln und Hängen
entlang, nur die grünen Tafeln der Wintersaaten leuchteten hervor.
Die Haustiere, des Sommerzwanges entledigt, der sie auf einen kleinen
Weidefleck gebannt hatte, gingen auf den Wiesen, um das nachsprossende
Gras zu genießen, oder gar auf den Saatfeldern umher. Die Wäldchen,
die die unzähligen Hügel krönten, glänzten noch in dieser späten Zeit
des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen Schmuck des Laubes
oder rötlich oder es zogen sich bunte Streifen durch das dunkle,
bergan klimmende Grün der Föhren empor. Und über allem dem war doch
ein blasser, sanfter Hauch, der es milderte und ihm einen lieben
Reiz gab. Besonders gegen die Talrinnen oder Tiefen zu war die blaue
Farbe zart und schön. Aus diesem Dufte heraus leuchteten hie und
da entfernte Kirchtürme oder schimmerten einzelne weiße Punkte von
Häusern. Das Tiefland war von den Morgennebeln befreit, es lag sammt
dem Hochgebirge, das es gegen Süden begrenzte, überall sichtbar da
und säumte weithinstreichend das abgeschlossene Hügelgelände, auf
dem wir fuhren, wie eine entfernte, duftige, schweigende Fabel. Von
Menschentreiben darin war kaum etwas zu sehen, nicht die Begrenzungen
der Felder, geschweige eine Wohnung, nur das blitzende Band des
Stromes war hie und da durch das Blau gezogen. Es war unsäglich, wie
mir alles gefiel, es gefiel mir bei weitem mehr als früher, da ich
das erste Mal dieses Land mit meinem Gastfreunde genauer besah.
Ich tauchte meine ganze Seele in den holden Spätduft, der alles
umschleierte, ich senkte sie in die tiefen Einschnitte, an denen
wir gelegentlich hin fuhren, und übergab sie mit tiefem, innerem
Abschlusse der Ruhe und Stille, die um uns wartete.

Als wir einmal einen langen Berg empor klommen, dessen Weg einerseits
an kleinen Felsstücken, Gestrippe und Wiesen dahinging, andererseits
aber den Blick in eine Schlucht und jenseits derselben auf Berge,
Wiesen, Felder und entfernte Waldbänder gewährte, als die Wägen voran
gingen und die ganze Gesellschaft langsam folgte, vielfach stehen
bleibend und sich besprechend, geriet ich neben Natalien, die mich,
nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte, ob ich noch das
Spanische betreibe.

Ich antwortete ihr, daß ich es erst seit Kurzem zu lernen begonnen
habe, daß ich aber seit der Zeit immer darin fortgefahren sei und daß
ich zuletzt mich an Calderon gewagt habe.

Sie sagte, von ihrer Mutter sei ihr das Spanische empfohlen worden.
Es gefalle ihr, sie werde nicht davon ablassen, so weit nehmlich ihre
Kräfte darin ausreichen, und sie finde in dem Inhalte der spanischen
Schriften, besonders in der Einsamkeit der Romanzen, in den Pfaden der
Maultiertreiber und in den Schluchten und Bergen eine Ähnlichkeit mit
dem Lande, in dem wir reisen. Darum gefalle ihr das Spanische, weil
ihr dieses Land hier so gefalle. Sie würde am liebsten, wenn es auf
sie ankäme, in diesen Bergen wohnen.

»Mir gefällt auch dieses Land«, erwiderte ich, »es gefällt mir mehr,
als ich je gedacht hätte. Da ich zum ersten Male hier war, übte es auf
mich schier keinen Reiz aus, ja mit seinem raschen Wechsel und doch
mit der großen Ähnlichkeit aller Gründe stieß es mich eher ab, als
es mich anzog. Da ich mit unserem Gastfreunde später einmal einen
größeren Teil bereiste, war es ganz anders, ich fand mich zu dieser
Weitsicht und Beschränktheit, zu dieser Enge und Großartigkeit, zu
dieser Einfachheit und Mannigfaltigkeit hingeneigt. Ich fühlte mich
bewegt, obwohl ich an ganz andere Gestalten gewohnt war und sie
liebte, nehmlich an die des Hochgebirges. Heute aber gefällt mir
alles, was uns umgibt, es gefällt mir so, daß ich es kaum zu sagen im
Stande bin.«

»Seht, das geht immer so«, erwiderte sie. »Als ich mit meinem Vater
zum ersten Male hier war, freilich befand ich mich noch in den
Kinderjahren, war mir das unaufhörliche Auf- und Abfahren so
unangenehm, daß ich mich auf das Äußerste wieder in unsere Stadt und
in deren Ebenen zurück sehnte. Nach langer Zeit fuhr ich mit der
Mutter durch diese Gegenden und später wiederholt in derselben
Gesellschaft wie heute, außer euch, und jedes Mal wurde mir das Land
und seine Gestaltungen, ja selbst seine Bewohner lieber. Auch das ist
eigentümlich und angenehm, daß man Wagenreisen und Fußreisen verbinden
kann. Wenn man, wie wir jetzt tun, die Wägen verläßt und einen langen
Berg hinan geht oder ihn hinab geht, wird einem das Land bekannter,
als wenn man immer in dem Wagen bleibt. Es tritt näher an uns. Die
Gesträuche an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die
Felder legen, ein Birkenwäldchen mit den kleinsten Dingen, die unter
seinen Stämmen wachsen, die Wiesen, die sich in eine Schlucht hinab
ziehen, und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht herauf sehen, hat
man unmittelbar vor Augen. In Ebenen eilt man schnell vorbei. Hier ist
gerade so eine Schlucht, wie ich sprach.«

Wir blieben ein Weilchen stehen und sahen in die Schlucht hinab. Beide
sprachen wir gar nichts. Endlich fragte ich sie, woher sie denn wisse,
daß ich die spanische Sprache lerne.

»Unser Gastfreund hat es uns gesagt«, erwiderte sie, »er hat uns auch
gesagt, daß ihr Calderon leset.«

Nach diesen Worten gingen wir weiter. Die andere Gesellschaft, welche
vor uns gewesen war, blieb im Gespräche stehen, und wir erreichten
sie. Die Gespräche wurden allgemeiner und betrafen meistens die
Gegenstände, welche man eben, entweder in nächster Nähe oder in großer
Entfernung, sah.

Weil nach Untergang der Sonne gleich große Kühle eintrat und unsere
Reise nicht den Zweck hatte, große Strecken zurück zu legen, sondern
das zu genießen, was die Zeit und der Weg boten, so wurde, als
die Sonne hinter den Waldsäumen hinab sank, Halt gemacht und die
Nachtherberge bezogen. Die Einteilung war schon so gemacht worden, daß
wir zu dieser Zeit in einem größeren Orte eintrafen. Wir gingen noch
ins Freie. Wie schnell war in Kurzem der Schauplatz geändert! Die
belebende und färbende Sonne war verschwunden, alles stand einfarbiger
da, die Kühle der Luft ließ sich empfinden, in der Tiefe der
Wiesengründe zogen sich sehr bald Nebelfäden hin, das ferne
Hochgebirge stand scharf in der klaren Luft, während das Tiefland
verschwamm und Schleier wurde. Der Westhimmel war über den dunkeln
Wäldern hellgelb, manche Rauchsäule stieg aus einer Wohnung gegen
ihn auf, und bald auch glänzte hie und da ein Stern, die feine
Mondessichel wurde über den Zacken des westlichen Waldes sichtbar, um
in sie zu sinken.

Wir gingen nun in ein Zimmer, das für uns geheizt worden war,
verzehrten dort unser Abendessen, blieben noch eine Zeit in Gesprächen
sitzen und begaben uns dann in unsere Schlafgemächer.

Am andere Tage war ein klarer Reif über Wiesen und Felder. Die
Nebelfäden unserer Umgebung waren verschwunden, alles lag scharf
und funkelnd da, nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel,
jenseits dessen das Hochgebirge deutlich mit seinen frischen und
sonnigen Schneefeldern dastand.

Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort, und bald waren ihre
milden Strahlen zu spüren. Wir empfanden sie, der Reif schmolz weg und
in Kurzem zeigte sich uns die Gegend wieder wie gestern.

Wir besuchten eine Kirche, in welcher mein Gastfreund Ausbesserungen
an alten Schnitzereien machen ließ. Es war aber gerade jetzt nicht
viel zu sehen. Ein Teil der Gegenstände war in das Rosenhaus
abgegangen, ein anderer war abgebrochen und lag zum Einpacken bereit.
Die Kirche war klein und sehr alt. Sie war in den ersten Anfängen
der gothischen Kunst gebaut. Ihre Abbildung befand sich unter den
Bauzeichnungen Eustachs. Als wir alles besehen hatten, fuhren wir
wieder weiter.

Nachmittags gesellte sich Roland zu uns. Er hatte uns in einem
Gasthause erwartet, in welchem unsere Pferde Futter bekamen.

Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hause aufhielten, und später
bei einer andern Gelegenheit, da wir eine Strecke zu Fuß gingen,
wieder bemerken, daß seine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten.

Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei sich trug, und er
hatte Bemerkungen und Vorschläge in sein Gedenkbuch geschrieben. Er
teilte von beiden Einiges mit, soweit es die Reise gestattete, und
versprach, Abends, wenn wir in der Herberge angelangt sein würden,
noch Mehreres vorzulegen.

Am nächsten Tage Nachmittags kamen wir nach Kerberg und besahen die
Kirche und den schönen geschnitzten Hochaltar. Mir gefiel er jetzt
viel besser, als da ich ihn in Gesellschaft meines Gastfreundes und
Eustachs zum ersten Male gesehen hatte. Ich begriff nicht, wie ich
damals mit so wenig Anteil vor diesem außerordentlichen Werke hatte
stehen können; denn außerordentlich erschien es mir trotz seiner
Fehler, die, wie ich wohl sah, in jedem Werke altdeutscher Kunst zu
finden sein würden, die ich aber in dem Bildnerwerke, das auf der
Treppe meines Freundes stand, nicht fand. Wir blieben lange in der
Kirche, und ich wäre gerne noch länger geblieben. Vor der Ruhe,
dem Ernste, der Würde und der Kindlichkeit dieses Werkes kam eine
Ehrfurcht, ja fast ein Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der
Anlage bei dem großen Reichtume des Einzelnen beruhigte das Auge und
das Gemüt. Wir sprachen über das Werk, und aus dem Gespräche erkannte
ich jetzt recht deutlich, daß früher auch vor diesem Werke die zwei
Männer auf meine Unkenntnis Rücksicht genommen hatten, und ich dankte
es ihnen in meinem Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieser
Schnitzarbeit ein genaues Abbild zu machen und es meinem Vater zu
bringen.

Ich äußerte mich, wie schön, wie groß einmal die Kunst gewirkt habe
und wie dies jetzt anders geworden scheine.

»Es sind in der Kunst viele Anfänge gemacht worden«, sagte mein
Gastfreund. »Wenn man die Werke betrachtet, die uns aus sehr alten
Zeiten überliefert worden sind, aus den Zeiten der ägyptischen
Reiche, des assyrischen, medischen, persischen, der Reiche Indiens,
Kleinasiens, Griechenlands, Roms - Vieles wird noch erst in unsern
Zeiten aus der Erde zu Tage gefördert, Vieles harrt noch der
zukünftigen Enthüllung, wer weiß, ob nicht sogar auch Amerika
Schätzenswertes verbirgt -, wenn man diese Werke betrachtet und wenn
man die besten Schriften liest, die über die Entwicklung der Kunst
geschrieben worden sind: so sieht man, daß die Menschen in der
Erschaffung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schöpfers ähnlich
sein soll - und das ist ja die Kunst, sie nimmt Teile, größere oder
kleinere, der Schöpfung und ahmt sie nach -, immer in Anfängen
geblieben sind, sie sind gewissermaßen Kinder, die nachäffen. Wer hat
noch erst nur einen Grashalm so treu gemacht, wie sie auf der Wiese
zu Millionen wachsen, wer hat einen Stein, eine Wolke, ein Wasser,
ein Gebirge, die gelenkige Schönheit der Tiere, die Pracht der
menschlichen Glieder nachgebildet, daß sie nicht hinter den Urbildern
wie schattenhafte Wesen stehen, und wer hat erst die Unendlichkeit des
Geistes darzustellen gewußt, die schon in der Endlichkeit einzelner
Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der
Erde mit ihren Winden, Wolkenzügen, in dem Erdballe selber und dann in
der Unendlichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu fassen
gewußt? Einige Völker sind sinniger und inniger geworden, andere haben
ins Größere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit
keuscher und reiner Seele aufgenommen und andere sind schlicht und
einfältig gewesen. Nicht ein Einzelnes von diesen ist die Kunst, alles
zusammen ist die Kunst, was da gewesen ist und was noch kommen wird.
Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn sie ein Haus, eine
Kirche, einen Berg aus Erde nur entfernt ähnlich ausgeführt haben,
sie eine größere Freude darüber empfinden, als wenn sie das um
Unvergleichliches schönere Haus, die schönere Kirche oder den
schöneren Berg selbst ansehen. Wir haben ein innigeres und süßeres
Gefühl in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete
Landschaft, Blumen oder einen Menschen sehen, als wenn diese
Gegenstände in Wirklichkeit vor uns sind. Was die Kinder bewundern,
ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung
hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist, daß der
Geist eines Menschen, uns gleichsam sinnlich greifbar, ein Gegenstand
unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft, doch dem etwas
nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft zu fassen streben, den
wir nicht in den beschränkten Kreis unserer Liebe ziehen können und
vor dem die Schauer der Anbetung und Demütigung in Anbetracht seiner
Majestät immer größer werden, je näher wir ihn erkennen. Darum ist die
Kunst ein Zweig der Religion, und darum hat sie ihre schönsten Tage
bei allen Völkern im Dienste der Religion zugebracht. Wie weit sie
es in dem Nachschaffen bringen kann, vermag niemand zu wissen. Wenn
schöne Anfänge da gewesen sind, wie zum Beispiele im Griechentume,
wenn sie wieder zurück gesunken sind, so kann man nicht sagen, die
Kunst sei zu Grunde gegangen; andere Anfänge werden wieder kommen, sie
werden ganz Anderes bilden, wenn ihnen gleich allen das Nehmliche zu
Grunde liegt und liegen wird, das Göttliche; und niemand kann sagen,
was in zehntausend, in hunderttausend Jahren, in Millionen von Jahren
oder in Hunderten von Billionen von Jahren sein wird, da niemand den
Plan des Schöpfers mit dem menschlichen Geschlechte auf der Erde
kennt. Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschön, so lange es
noch ein Kunstwerk ist, das heißt, so lange es das Göttliche nicht
verneint, sondern es auszudrücken strebt, und darum ist auch nichts in
ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung schön, weil es dann schon das
Göttliche selber wäre, nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes
desselben. Aus dem nehmlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den
schönsten Zeiten gleich schön und nicht alle aus den verkommensten
oder rohesten gleich häßlich. Was wäre denn die Kunst, wenn die
Erhebung zu dem Göttlichen so leicht wäre, wie groß oder klein auch
die Stufe der Erhebung sei, daß sie Vielen, ohne innere Größe und
ohne Sammlung dieser Größe bis zum sichtlichen Zeichen, gelänge? Das
Göttliche mußte nicht so groß sein, und die Kunst würde uns nicht so
entzücken. Darum ist auch die Kunst so groß, weil es noch unzählige
Erhebungen zum Göttlichen gibt, ohne daß sie den Kunstausdruck finden,
Ergebung, Pflichttreue, das Gebet, Reinheit des Wandels, woran wir uns
auch erfreuen, ja woran die Freude den höchsten Gipfel erreichen kann,
ohne daß sie doch Kunstgefühl wird. Sie kann etwas Höheres sein, sie
wird als Höchstes dem Unendlichen gegenüber sogar Anbetung und ist
daher ernster und strenger als das Kunstgefühl, hat aber nicht das
Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur möglich in einer
gewissen Beschränkung, in der die Annäherung zu dem Göttlichen von dem
Banne der Sinne umringt ist und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen
findet. Darum hat nur der Mensch allein die Kunst, und wird sie haben,
so lange er ist, wie sehr die Äußerungen derselben auch wechseln
mögen. Es wäre des höchsten Wunsches würdig, wenn nach Abschluß
des Menschlichen ein Geist die gesammte Kunst des menschlichen
Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen
und überschauen dürfte.«

Mathilde antwortete hierauf mit Lächeln: »Das wäre ja im Großen, was
du jetzt im Kleinen tust, und es dürfte hiezu eine ewige Zeit und ein
unendlicher Raum nötig sein.«

»Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist«, erwiderte mein Gastfreund,
»und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten.«


Eustach öffnete die Mappe, in welcher er die Zeichnung des Altares und
die Zeichnungen von Teilen der Kirche, von der Kirche selber und von
Gegenständen hatte, die sich in der Kirche befanden.

Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare, es wurde Manches bemerkt,
Manches gelobt, Manches zur Verbesserung der Zeichnung vorgeschlagen.

Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten Teile derselben,
wir besahen Grabmäler und unter ihnen auch den großen roten Stein, auf
welchem der Mann mit der hohen, schönen Stirne abgebildet ist, der die
Kirche und den Altar gegründet hatte.

Wie blieben an diesem Tage in Kerberg. Wir stiegen auf den Berg, auf
welchem das alte Schloß lag, und sahen das Schloß und den in dem
tiefsten herbstlichen Zustande stehenden Garten an. Wir gingen auf den
Stellen, auf welchen die alten mächtigen und reichen Leute gegangen
waren, die einst hier gewohnt hatten, und auch der Mann, als dessen
Tat die Kirche in dem Tale steht.

»Was alle diese Menschen getan haben«, sagte mein Gastfreund, »wäre
zum Teile in den Papieren und Pergamenten enthalten, die in den
Schlössern und Häusern dieses Landes und mitunter auch in entfernten
Städten liegen. Einige wissen einen Teil dieser Taten, die meisten
sind damit völlig unbekannt, und diejenigen, welche auf den Spuren
herum gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wissen oft nicht, wer
diese gewesen sind. Es wäre nicht unziemlich, wenn durch Öffnung der
Briefgewölbe in allen Ländern auch Einzelgeschichten von Familien und
Gegenden verfaßt würden, die unser Herz oft näher berühren und uns
greiflicher sind als die großen Geschichten der großen Reiche. Man
betritt wohl diesen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht
in der rechten Art.«

Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgenden Tage den höher gelegenen
Teilen des Landes zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war
als die bisher befahrenen Gegenden und von dem uns durch das Dämmer
des Vormittages die breiten und weithinziehenden Bergesrücken mit
Nadeldunkel und Buchenrot entgegen sahen.

Mein Gastfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag wurde immer schöner als
der andere. Nicht der geringste Nebel war auf der Erde, auf welcher
wir reiseten, nicht das geringste Wölkchen am Himmel, der sich über
uns spannte. Die Sonne begleitete uns freundlich an jedem Tage,
und wenn sie schied, schien sie zu versprechen, morgen wieder so
freundlich zu erscheinen.

Roland blieb drei Tage bei uns, dann verließ er uns, nachdem er vorher
noch Zeichnungen und andere Papiere in den Wagen meines Gastfreundes
gepackt hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des schlechten Wetters
in dem Lande bleiben und dann in das Rosenhaus zurückkehren.

Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespräche
waren traulich und angenehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche,
in der einst Gläubige gebetet, eine Mauertrümmer auf einem Berge, wo
einst mächtige und gebietende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf
einer Anhöhe, der allein stand, ein Häuschen an dem Wege, auf das die
Sonne schien, alles gewann einen eigentümlichen sanften Reiz und eine
Bedeutung.

Am achten Tage wandten wir unsere Wägen wieder gegen Süden, und am
neunten Abend trafen wir in dem Asperhofe ein.

Ehe ich mich zu meiner Heimreise rüstete, sah ich noch einmal
Manches der herrlichen Bilder meines Gastfreundes, drückte manches
Außerordentliche der Bücher in meine Seele, sah die geliebten
Angesichter der Menschen, die mich umgaben, und sah manchen Blick der
Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben rüstete.

Mein Herz war gehoben und geschwellt, und es war, als breitete sich
in meinem Geiste die Frage aus, ob nun ein solches Vorgehen, ob
die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das Leben umschreibe und
vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umschließe und es
mit weit größerem Glück erfülle.



Der Einblick

Ich fuhr bei sehr schlechtem Wetter, welches mit Wind, Regen und
Schnee nach den hellen und sonnigen Tagen, die wir in dem Hochlande
zugebracht hatten, gefolgt war, von dem Rosenhause ab. Die Pferde
meines Gastfreundes brachten mich auf die erste Post, wo schon ein
Platz für mich in dem in der Richtung nach meiner Heimat gehenden
Postwagen bestellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage vor mir
abgereist, da sich schon die Zeichen an dem Himmel zeigten, daß die
milden Tage für dieses Jahr zu Ende gehen würden. Roland war von
seiner Wanderung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte auf
stürmische Änderung in dem Luftraume hingedeutet. Ich weiß nicht,
warum ich so lange geblieben war. Es erschien mir auch einerlei, ob
das Wetter übel sei oder nicht. Ich war von meinen Wanderungen her
an jedes Wetter gewohnt, um so mehr konnte mir dasselbe gleichgültig
sein, wenn ich in einem vollkommen geschützten Wagen saß und auf einer
wohlgebauten Hauptstraße dahin rollte.

Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreise von dem Rosenhause traf
ich bei den Meinigen ein. Die zweite Ankunft in diesem Jahre.

Sie hatten aus meinem Briefe die Verspätung meiner Ankunft entnommen,
den Grund vollständig gebilligt und wären, wie ich ganz richtig
vorausgesehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich anders
gehandelt hätte. Ich erzählte nun alles, was sich nach meiner
schnellen Abreise von Hause begeben hatte. Da bei meiner ersten
Ankunft gleich die eine Ursache zur Wiederabreise vorgekommen war,
so konnte ich auch jetzt erst nach und nach erzählen, was sich im
vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe. Der Vater kam sehr
häufig auf die Zeichnungen zurück, die ihm mein Gastfreund gesendet
hatte, und aus seinen Reden war zu entnehmen, wie sehr er die
Geschicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeichnungen gemacht
hatte, und wie hoch in seiner Achtung der stehe, auf dessen
Veranlassung sie entstanden waren. Er führte mich neuerdings zu dem
Musikgerättische, zeigte mir noch einmal, warum er ihn gerade an
diesen Platz gestellt habe, und fragte mich wieder, ob ich mit der
Wahl des Ortes einverstanden sei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da
er sonst nicht gewohnt war, mich in solchen Dingen zu Rate zu ziehen.
Nach meiner Ansicht war der Tisch in dem Altertumszimmer an dem
Fensterpfeiler in passender Umgebung sehr gut gestellt und zeigte
seine Eigenschaften in dem besten Lichte. Ich wiederholte daher meine
vollkommene Billigung des Platzes, die ich schon vor meiner Abreise
ausgesprochen hatte. Später aber sah ich wohl recht deutlich, daß es
nur die Freude an diesem Stücke war, was den Vater zur Wiederholung
der Frage über die Zweckmäßigkeit des Platzes und zum wiederholten
Zurückkommen zu dem Tische veranlaßt hatte. Das freudige Wesen,
welches ich bei meiner ersten Ankunft in seiner ganzen Gestalt
ausgedrückt gesehen zu haben glaubte, erschien mir jetzt auch noch
über ihn verbreitet. Selbst die Mutter und die Schwester schienen mir
vergnügter zu sein als in andern Zeiten - ja mir war es, als liebten
mich alle mehr als sonst, so gut, so freundlich, so hingebend waren
sie. Wie sehr dieses Gefühl, von den Seinen geliebt zu sein, das Herz
beseligt, ist mit Worten nicht auszusprechen.

Ich erzählte meinem Vater von dem Marmorbilde, welches auf der Treppe
im Hause meines Gastfreundes steht, und suchte ihm eine Beschreibung
von diesem Kunstwerke zu machen. Er sah mich sehr aufmerksam an, ja
mir war es einige Male, als sähe er mich gewissermaßen betroffen
an. Er fragte um Manches und veranlaßte mich neuerdings von dem
Bilderwerke zu sprechen. Es schien ihn sehr angelegentlich zu
berühren.

Ich erzählte ihm dann auch von der Brunnengestalt in dem Sternenhofe,
verglich sie mit der Treppengestalt im Rosenhause, suchte den
Unterschied hervorzuheben, und suchte für die Treppengestalt weit den
Vorzug zu gewinnen, obgleich sie der älteren Zeit angehöre und die
andere etwa erst im vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden sei,
und obgleich diese fast blendend reinen Marmor habe, die andere aber
einen, dem man das hohe Alter schon ansehe. Er fragte auch hier noch
um Vergleichungspunkte, und ich sah, daß er die Sache ergriff und
Einsicht von ihr hatte. Ich erzählte ihm dann auch von den Gemälden
meines Gastfreundes, ich nannte ihm die Meister, von denen Werke
vorhanden wären, und bemühte mich, Beschreibungen von den Bildern zu
geben, welche mich am meisten in Anspruch genommen hätten. Er tat auch
in dieser Hinsicht zahlreiche Fragen und machte, daß ich mich über
den Gegenstand weiter ausbreitete, als ich wohl ursprünglich im Sinne
hatte.

Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir wieder von diesen Dingen
gesprochen hatten, nahm er mich bei der Hand und führte mich in
sein Bilderzimmer. Ich war absichtlich seit meiner Ankunft nicht in
demselben gewesen und hatte mir dessen Besuch auf eine ruhigere Zeit
aufgehoben. Ich hatte die zwei Tage in Gesprächen mit meinen Eltern
hingebracht, zum Teile hatte ich sie auch benützt, die Dinge, welche
ich ihnen und der Schwester gebracht hatte, zu übergeben. Darunter
waren auch die kleineren Marmorgegenstände, welche im Rothmoore fertig
geworden waren. Der Rest der Zeit war mit Auspacken, Einräumen und
mit einigen Ankunftsbesuchen ausgefüllt worden. Da wir in das Zimmer
getreten waren und die Mitte desselben erreicht hatten, ließ er meine
Hand fahren, sagte aber nichts. Ich war im größten Erstaunen. Die
Bilder, welche vorhanden waren und deren Zahl geringe war, weit
geringer als bei meinem Gastfreunde, ja selbst im Sternenhofe,
erschienen mir als außerordentlich schön, als ganz vollendete,
zusammenstimmende Meisterwerke, wie sie, wenn ich dem ersten Eindrucke
trauen durfte, bei meinem Gastfreunde in dieser gleich hohen und
zusammengehörigen Schönheit nicht vorhanden waren. Es befand sich, wie
ich bald entdeckte, kein Bild der neueren oder neusten Zeit darunter,
sämmtlich gehörten sie der älteren Zeit an, wenigstens, wie ich
wahrzunehmen glaubte, dem sechzehnten Jahrhunderte. Ein ganz tiefes,
eigentümliches Gefühl kam in meine Seele. Das ist die große und nicht
zu beschreibende Liebe des Vaters. Diese kostbaren Dinge besaß er, an
diesen Dingen hing sein Herz, sein Sohn war vorüber gegangen, ohne sie
zu beachten, und der Vater entzog dem Sohne doch kein Teilchen der
Zuneigung, er opferte sich ihm, er opferte ihm fast sein Leben, er
sorgte für ihn und suchte ihm nicht einmal zu beweisen, wie schön die
Sachen wären. Ich erfuhr, wie sehr ich auch hier geschont worden war.

»Das sind ja herrliche Bilder«, rief ich in Rührung aus.

»Ich glaube, daß sie nicht unbedeutend sind«, erwiderte er mit einer
durch Bewegung ergriffenen Stimme.

Dann gingen wir näher, um sie zu betrachten. Es waren in der Tat
lauter alte Gemälde, keines von besonders großen Abmessungen, keines
von kunstwidriger Kleinheit. Ich tat die Bemerkung, daß er keine neuen
Bilder habe.

»Es hat sich so gefügt«, sagte er, »ich habe schon einige der hier
befindlichen Stücke von deinem Großvater, der auch ein Freund von
solchen Dingen war, geerbt, und anderes habe ich gelegentlich
erworben.

Die mittelalterliche Kunst steht wohl höher als die neue. In ihr ist
ein größerer Reichtum schöner Werke vorhanden als in der neuen, es ist
daher leichter möglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben als
ein neues. Wer Bilder unserer Zeiten liebt, gibt solche, die an
Schönheit keinen Tadel verdienen, nicht zum Kaufe, sie sind daher
nicht leicht zu erhalten. Bilder, die von Anfängern oder von solchen
herrühren, die schwach in der Kunst sind, stehen leicht und an vielen
Orten, teils von den Künstlern, teils von Händlern, wie es auch in
früheren Zeiten gewesen sein wird, zum Kaufen. Zu diesen konnte ich
nie eine Neigung fassen, daher ist es gekommen, daß ich lauter alte
Bilder besitze. Es war ein kräftiges und gewaltiges Geschlecht, das
damals wirkte. Dann kam eine schwächliche und entartetere Zeit.
Sie meinte es besser zu machen, wenn sie die Gestalten reicher und
verblasener bildete, wenn sie heftiger in der Farbe und weniger tief
im Schatten würde. Sie lernte das Alte nach und nach mißachten, daher
ließ sie dasselbe verfallen, ja die mit der Unkenntnis eintretende
Rohheit zerstörte Manches, besonders wenn wilde und verworrene
Zeitläufe eintraten. Man wendete dann wieder um und achtete
allgemeiner wieder das Alte - von allen Seiten mißachtet war es
niemals. - Man suchte sogar nachzuahmen, nicht bloß in der Malerkunst,
sondern auch, und zwar noch mehr in der Baukunst; man konnte aber das
Vorbild weder in der Grundeinheit noch in der Ausführung erreichen, so
gut und treu die neuen Einzelnheiten auch gewesen sein mochten. Es ist
langsam besser geworden, was sich eben in dem Zeichen kund tat, daß
man alte Bauwerke wieder schätzte - ich selber weiß noch eine Zeit,
in welcher Reisende und Schriftsteller, die man für gelehrt und
spruchberechtigt achtete, die gothische Bauweise für barbarisch und
veraltet erklärten -, daß man alte Bilder hervor zog, ja alte Geräte
sammelte und in dem Schnitte der Kleider alte Gebilde und Wendungen
teilweise einführte. Möge man auf diesem Wege zum Besseren fortfahren
und nicht bloß das Alte wieder zu einer Mode machen, die den Geist
nicht kennt, sondern nur die Veränderung liebt. Du kannst es noch
erleben, wenn wieder eine Höhe eintritt; denn ein Schwellen von Tiefe
in Höhe und ein Sinken aus der Höhe in die Tiefe war immer vorhanden.
Wenn die Erkenntnis des Altertums, nicht bloß des unsern, sondern
des noch schönern des Griechentums, wie es sich jetzt auszusprechen
scheint, immer fortschreitet und nicht ermattet, so werden wir auch
dahin kommen, daß wir eigene Werke werden ersinnen können, in denen
die ernste Schönheitsmuse steht, nicht Leidenschaft oder Absicht oder
ein äußerlicher Reiz oder ledigliche planlose Heftigkeit, Werke, die
nicht nachgeahmt sind oder in denen nur ein älterer Stil ausgedrückt
ist. Wenn wir dahin gekommen sind, dann dürften wir wohl auch
gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, daß nicht bloß Teile unseres
Volkes nach Außen mächtig sind, sondern das ganze Volk, und daß es
dann mit seinem Leben gelassen kräftig auf das Leben anderer Völker
wirkt. Ich denke immer, die sind glücklich, die die Lerchen dieses
Frühlings singen hören; aber diese werden den Zustand nicht so
empfinden wie der, der andere gesehen hat, so wie der Unschuldige
seine Unschuld nicht empfindet, der rechtliche Mann seine
Rechtschaffenheit nicht hoch anschlägt und verdorbene Zeiten ihre
Verdorbenheit nicht kennen.«

Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der ähnlich
fühlt und sich ähnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, daß
Männer, die ein ähnliches Streben haben, also auch ähnlichen Geist
besitzen, auf ähnliche Gedanken kommen, besonders, wenn sie an Alter
nicht zu verschieden sind.

Wie betrachteten nun das Einzelne.

Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese,
Annibale Carracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin,
Claude Lorrain, Albrecht Dürer, den beiden Holbein, Lucas Cranach, Van
Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob
Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein
jedes, taten manches Bild auf die Staffelei und redeten über ein
jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erschien mir jetzt immer
deutlicher, was ich beim ersten Anblicke nur vermutet hatte, daß die
Bilder in dem Gemäldezimmer meines Vaters lauter vorzügliche seien,
und daß sie noch dazu an Wert so sehr zusammen stimmten, daß das Ganze
eben den Eindruck eines Außerordentlichen machte. Ich hatte schon so
viel Urteil gewonnen, daß ich dachte, nicht gar zu weit mehr in die
Irre geraten zu können. Ich äußerte mich in dieser Beziehung gegen
meinen Vater, und er versicherte in der Tat, daß er glaube, daß er
nicht nur gute Meister besitze, sondern auch von diesen Meistern
nach seiner Erfahrung, die er sich in vielen Jahren, in vielen
Gemäldesammlungen und im Lesen vieler Werke über Kunst erworben habe,
bessere von ihren Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger
hin und konnte mich von manchem kaum trennen. Das Köpfchen von einem
jungen Mädchen, das ich mir einmal zu einem Zeichnungsmuster genommen
hatte, stammte von Hans Holbein dem Jüngern her. Es war so zart, so
lieb, daß es jetzt auch wieder einen Zauber auf mich ausübte, wie es
wohl auch damals ausgeübt haben mußte; denn sonst hätte ich es ja
nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier Mittel zu entdecken, mit
denen der Künstler gewirkt hatte. Eine so einfache, so natürliche
Färbung mit wenig Glanz und Vortreten der Farben, so gering scheinende
harmlose Linien und doch eine solche Lieblichkeit, Reinheit,
Bescheidenheit, daß man kaum weggehen konnte. Die blonden Haare, die
sich von der Stirn gegen hinten zogen, waren fast mit keinem Aufwande
gemacht, und doch konnte es kaum etwas Schöneres geben als diese
blonden Locken. Der Vater erlaubte, daß ich mir das Bild zweimal auf
die Staffelei stellen durfte.

Als wir mit dem Anschauen der Bilder fertig waren, zog der Vater eine
flache Lade aus einem Kasten in dem Altertumszimmer, stellte die Lade
auf einen Tisch in der Nähe des Fensters und lud mich ein, hinzu zu
gehen und seine geschnittenen Steine anzusehen.

Ich tat es.

Hier war meine Verwunderung fast noch größer als bei den Bildern. Ich
fand auf den Steinen die Gestalten wieder, wie die eine war, welche
auf der Treppe des Hauses meines Gastfreundes stand.

»Das sind lauter antike Bildungen«, sagte mein Vater.

Es waren verschiedene Steine von verschiedenem Werte und verschiedener
Größe. Edelsteine, die durch ihren Stoff einen hohen Wert nach unsern
heutigen Begriffen haben, wie Saphire, Rubine, waren nicht dabei;
doch aber mindere, die wohl als Schmuck getragen werden können, und,
wie ich mich jetzt deutlich erinnerte, von unserer Mutter auch bei
Gelegenheiten getragen wurden. Es war ein Onyx da, auf welchem eine
Gruppe in der gewöhnlichen halb erhabenen Arbeit geschnitten war.
Ein Mann saß in einem altertümlichen Stuhle. Er hatte nur geringe
Bekleidung. Seine Arme ruhten sehr schlicht an seiner Seite und sein
feines Angesicht war nur ein wenig gehoben. Er war noch ein sehr
junger Mann. Frauen, Mädchen, Jünglinge standen seitwärts in
leichterer Arbeit und weniger kräftig hervorgehoben, eine Göttin hielt
einen Kranz oberhalb des Hauptes des sitzenden Mannes. Mein Vater
sagte, das sei sein bester wie größter Stein und der sitzende Mann
dürfte Augustus sein. Wenigstens stimme sein Halbangesicht, wie es auf
dem Steine sei, mit jenen Halbangesichtern Augustus' zusammen, die man
auf den gut erhaltenen Münzen dieses Mannes sehe. Die Gestalt, die
Gliederung, die Haltung dieses Mannes, die Gestalten der Mädchen,
Frauen und Jünglinge, ihre Bekleidung, ihre Stellungen in Ruhe und
Einfachheit, die deutliche und naturgemäße Ausführung der kleinen
Teile in den Gliedern und Gewändern machten auf mich wieder jene
ernste, tiefe, fremde, zauberartige Wirkung, welche die Gestalt auf
der Treppe in dem Hause meines Gastfreundes in mir hervorgebracht
hatte, da ich im vergangenen Sommer während des Gewitters zu ihr empor
gestiegen war. Auf den andern Steinen befanden sich Männer in Helmen,
entweder schöne junge Angesichter oder alte mit ehrwürdigen Bärten.
Solche, die in mittleren Mannesjahren standen, waren gar nicht
vorhanden. Auch Frauenköpfe waren auf einigen Steinen zu sehen. Auf
mehreren zeigten sich ganze Gestalten, ein Hermes mit den Flügeln an
den Füßen, ein schreitender Jüngling oder einer, der mit dem Arme zum
Wurfe mit einem Steine ausholt. Diese Gestalten waren so genau und
richtig, daß sie das Vergrößerungsglas ertrugen. Steine mit andern
Dingen als menschliche Gestalten hatte mein Vater gar nicht. Ich
erinnerte mich, daß ich irgendwo - des Ortes, konnte ich mich nicht
mehr entsinnen - Käfer auf Steine geschnitten gesehen hatte.

»Ich habe die Steine mit menschlichen Gestalten vorgezogen«, sagte
mein Vater, als ich in dieser Hinsicht eine Bemerkung machte, »weil
sie mir doch dasjenige schienen, was zu dem Menschen in der nächsten
Beziehung steht. Ich bin nicht reich genug, eine große Sammlung von
geschnittenen Steinen anlegen zu können, in welcher alle Gattungen
enthalten sind, so fern man überhaupt Gelegenheit hat, sie zu kaufen,
und weil ich das nicht konnte, so habe ich mich lediglich auf
menschliche Gestalten beschränkt und unter diesen wieder auf jene,
deren Erwerb mir ohne Einfluß auf mein Hauswesen möglich war; denn
es gibt da Kunstwerke in diesem Fache, welche ein ganzes Vermögen
in Anspruch nehmen, von dessen Rente manche kleine Familie, deren
Ansprüche nicht zu bedeutend sind, leben könnte.«

Die Männer in den Helmen trugen diese Kopfbedeckung in der
gewöhnlichen Art, wie man sie auf den alten Münzen sieht und wie ich
sie schon auf Abbildungen von Kunstwerken in halberhabener Arbeit
gesehen habe, die sich auf griechischen oder römischen Bauten
befanden. Die einfache Art, den Helm zu tragen, wenn er auch eine noch
so kostbare Arbeit ist, habe ich an Abbildungen aus späteren Zeiten,
namentlich aus dem Mittelalter, nicht mehr gefunden. Die Angesichter
hatten Züge, die etwas Fremdes wiesen, das jetzt nicht mehr vorkömmt
und auf eine entlegene Zeit zurückdeutet. Die Züge waren meistens
einfach, ja sogar oft unbegreiflich einfach, und doch waren sie schön,
schöner und menschlich richtiger - so schien es mir wenigstens -
als sie jetzt vorkommen. Die Stirnen, die Nasen, die Lippen waren
strenger, ungekünstelter und schienen der Ursprünglichkeit der
menschlichen Gestalt näher. Dies war selbst bei den Abbildungen der
Greise der Fall und sogar da, wo man vermuten durfte, das abgebildete
Haupt sei das Bildnis eines Menschen, der wirklich gelebt hat. Es
konnte diese Gestaltung nicht Eingebung des Künstlers sein, da
offenbar die Steine verschiedenen Zeiten und verschiedenen Meistern
angehörten; sie mußte also Eigentum jener Vergangenheit gewesen sein.
Die Köpfe der Frauen waren auch schön, oft überraschend schön; sie
hatten aber auch etwas Eigentümliches, das sich von unsern gewohnten
Vorstellungen entfernte, sei es in der Art, das Haupthaar aufzustecken
und es zu tragen, sei es, wie sich Stirne und Nase zeigten, sei es im
Nacken, im Halse, im Beginne der Brust oder der Arme, wenn diese Teile
noch auf dem Bilde waren, sei es in dem uns fernliegenden Ganzen.
Allgemein aber waren diese Köpfe kräftiger und erinnerten mehr an die
Männlichkeit als die unserer heutigen Frauen. Sie erschienen dadurch
reizender und ehrfurchterweckender. Die Ausführung dieser Abbildungen
zeigte sich so rein, so entwickelt und folgerichtig, daß man nirgends,
auch nicht im Kleinsten, versucht wurde, zu denken, daß etwas fehle,
ja daß man im Gegenteile die Gebilde wie Naturnotwendigkeiten ansah
und daß einem in der Erinnerung an spätere Werke war, diese seien
kindliche Anfänge und Versuche. Die Künstler haben also große und
einfache Schönheitsbegriffe gehabt, sie haben sich diese aus der
Schönheit ihrer Umgebung genommen und diese Schönheit der Umgebung
durch ihre Schönheitsbegriffe wieder verschönert. So sehr mir die
Bilder des Vaters gefielen, so sehr mir die Bilder meines Gastfreundes
gefallen hatten, so sehr wurde ich, wie ich durch die Marmorgestalt
meines Gastfreundes ernster und höher gestimmt worden war als durch
seine Bilder, auch durch die geschnittenen Steine meines Vaters
ernster und höher gestimmt als durch seine Bilder. Er mußte das
fühlen. Er sagte nach einer Weile, da wir die Steine angeschaut
hatten, da ich mich in dieselben vertieft und manchen mehrere Male in
meine Hände genommen hatte: »Das, was die Griechen in der Bildnerei
geschaffen haben, ist das Schönste, welches auf der Welt besteht,
nichts kann ihm in andern Künsten und in späteren Zeiten an
Einfachheit, Größe und Richtigkeit an die Seite gesetzt werden, es
wäre denn in der Musik, in der wir in der Tat einzelne Satzstücke und
vielleicht ganze Werke haben, die der antiken Schlichtheit und Größe
verglichen werden können. Das haben aber Menschen hervorgebracht,
deren Lebensbildung auch einfach und antik gewesen ist, ich will nur
Bach, Händel, Haydn, Mozart nennen. Es ist sehr schade, daß von der
griechischen Malerei nichts übrig geblieben ist als Teile von dem, was
in dieser Kunst immer als ein untergeordneter Zweig betrachtet worden
ist, von der Wandmalerei und Gebäudeverzierung. Da die griechische
Dichtkunst das Höchste ist, was in dieser Kunstabteilung besteht,
da ihre Baukunst als Muster einfacher Schönheit, besonders für die
Gestaltung ihres Landes, gilt, da ihre Geschichtschreiber und Redner
kaum ihresgleichen haben, so ist anzunehmen, daß ihre Malerei auch
diesen Dingen gleichgeartet gewesen sein müsse. Sie sprechen in
Schriften, die bis auf unsere Tage gekommen sind, von ihren Bauwerken,
von ihrer Weltweisheit, Geschichtschreibung, Dichtkunst und
Bildnerkunst nicht höher als von ihrer Malerei, ja nicht selten
scheint es, als zögen sie diese noch vor, also muß auch sie vom
höchsten Belange gewesen sein; denn es ist nicht anzunehmen, daß
Schriftsteller, die doch endlich der Ausdruck, wenn auch der gehobenen
ihrer Zeit und ihres Volkes sind, so feine Kenntnisse und so feines
Gefühl in andern Künsten gehabt haben und für Fehler der Malerei blind
gewesen wären. Wahrscheinlich würden wir uns an Strenge und Rundung
in ihrer Malerei ergötzen und sie bewundern, wie wir es mit ihren
Bildsäulen tun. Ob wir an ihnen für unsere Malerei etwas lernen
könnten, weiß ich nicht, so wie ich nicht weiß, wie viel es ist, was
wir an ihrer Bildhauerei gelernt haben.

Diese Steine sind durch viele Jahre mein Vergnügen gewesen. Oft in
trüben Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben seines Duftes
beraubten und es dürr vor mich hinzubreiten schienen, bin ich zu
dieser Sammlung gegangen, habe diese Gestalten angeschaut, bin in
eine andere Zeit und in eine andere Welt versetzt worden und bin ein
anderer Mensch geworden.«


Ich sah meinen Vater an. Hatte ich früher schon oft Gelegenheit
gehabt, ihn hoch zu achten, und hatte ich zu verschiedenen Zeiten
entdeckt, daß er bedeutendere Eigenschaften besitze, als ich geahnt
hatte, so war ich doch nie in der Lage, ihn beurteilen zu können, wie
ich ihn jetzt beurteilte. In Geschäfte der eintönigsten Art gezwungen
oder vielleicht selber und freiwillig in diese Geschäfte gegangen -
denn er führte sie mit einer Ordnung, mit einer Rechtlichkeit, mit
einer Ausdauer, mit einer Anhänglichkeit an sie, daß man staunen
mußte -, hatte er, der unscheinbar seinen bürgerlichen Obliegenheiten
nachkam und von dem Viele nur glauben mochten, daß er in seinem Hause
einige Spielereien von alten Geräten, Bildern und Büchern habe,
vielleicht einen tieferen und einsameren Kreis um sich gezogen, als
ich jetzt noch erkennen konnte, und hatte ohne Anspruch an diesem
Kreise fort gebaut. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm und fragte ihn, ob
er die Schriftsteller, von denen er spreche, griechisch gelesen habe.

»Wie könnte ich sie denn anders gelesen haben und noch lesen, wenn ich
sie lieben soll«, antwortete er, »die alte vorchristliche Welt hat so
ganz andere Vorstellungen als die unsere, die Völkerwanderung hat so
sehr einen Abschnitt in der Geschichte gemacht, daß die Werke der
vorher gewesenen Völker gar nicht übersetzt werden können, weil
unsere Sprachen in ihrem Körper und in ihrem Geiste auf die alten
Vorstellungen nicht passen. Im Lesen in ihrer Sprache und in ihren
Dichtungen und Geschichten wird man nach und nach einer von ihnen und
lernt ihre Art beurteilen, was man sonst nie mehr kann. In unsern
Schulen lernen wir ja römisch und griechisch, und wenn man in der
Zeit nach der Schule noch etwas nachhilft und fleißig in den alten
Schriften liest, so fügt sich die Sache ohne Mühe und gelingt
leichter, als man etwa das Französische, Italienische oder Englische
lernt, wie es ja jetzt die meisten Leute tun.«

»Du hast ja aber auch diese Sprachen gelernt«, sagte ich.

»Wie sie auch andere lernen«, antwortete er, »und wie es mein Stand
forderte.«

»Ich habe es bis heute nicht gewußt, daß du in den alten Sprachen
Bücher liesest«, sagte ich, »und was noch mehr ist, daß du dich in
die Dichtkunst, in die Geschichte und Weltweisheit der Völker, deren
Schriften du liesest, vertiefest. Du weißt, daß wir uns nie anmaßten,
die Bücher zu untersuchen, in denen du liesest.«

»Es war keine Ursache vorhanden, dir zu erzählen, was ich lese«,
antwortete er, »ich dachte, es wird sich schon geben. Deine Mutter
wußte es wohl.«

Die Hochachtung für den Vater, der ohne Aufheben mehr war, als der
Sohn geahnt hatte, und der geduldig auf den Sohn gewartet hatte, ob
er auf dem Wege zu ihm stoßen werde, war nicht die einzige Frucht
dieses Tages. Ich empfand recht wohl, daß der Vater auch mich höher
achtete und daß er eine große Freude habe, daß der Sohn nun auch in
Kunstdingen sich ihm nähere. Daß wir in einigen wissenschaftlichen
Sachen zusammen trafen, wußte ich wohl, da wir über Gegenstände der
Geschichte, der Dichtungen und über andere in jüngster Zeit manchmal
gesprochen hatten.

Ich wußte aber nie, in wie ferne und auf welchen Wegen der Vater zu
diesen Dingen gekommen war. Heute hatte ich einen großem Einblick
getan, und ich wußte nun auch gar nicht, welch eine geregelte
wissenschaftliche Bildung der Vater aus seinen früheren Jahren hinter
sich habe und ob es nicht etwa gar aus dieser wissenschaftlichen
Bildung herzuschreiben sei, daß er mich gerade meinen Weg habe gehen
lassen, der mir selber zuweilen abenteuerlich vorgekommen war. Ich
mußte jetzt doppelt wünschen, daß mein Vater einmal mit meinem
Gastfreunde zusammen käme, um mit ihm über ähnliche Gegenstände zu
sprechen, wie er heute zu mir gesprochen hatte. Ich konnte doch nicht
hinreichend eingehen und wußte auch nicht, in wie ferne er in seinen
Urteilen über altgriechische Bildnerkunst, Dichtkunst, Malerei und
über die neuere Musik Recht habe. Allein der Vater arbeitete so
ruhig in seinem Berufsgeschäfte weiter, er war in alle Einzelheiten
desselben so vertieft und sorgte für den regelmäßigen Fortgang
desselben, daß es nicht leicht zu erwarten war, daß er sich zu einer
Reise entschließen würde.

Gegen das Ende unseres Gespräches kam auch die Mutter und Klotilde
herein. Das Angesicht der Mutter wurde sehr heiter, als sie uns bei
den Steinen stehen sah, als sie sah, daß der Vater sie mir zeigte
und erklärte, und als sie auch erkennen mochte, daß in dem Wesen des
Vaters eine Freude sei, und daß die Annäherung, die sie geahnt habe,
wirklich eingetreten sei.

Wir gingen noch einige Male bald in das Bilderzimmer, bald in das
Altertumszimmer, in welchem noch immer die Lade mit den Steinen auf
dem Tische stand, und redeten über Verschiedenes.

»Diese Kunstwerke«, sagte der Vater, da er die Steine wieder
verschlossen hatte und da wir uns aus diesem Zimmer entfernten,
»könnt ihr in euren Besitz bringen. Wenn ihr Sinn und tiefe Liebe für
dieselben habet, so werdet ihr sie nach unserem Tode in einer von mir
gemachten und, wie ich glaube, gerechten Teilung empfangen. Sterbe
ich vor eurer Mutter, so bleiben sie als Denkmal unseres friedlichen
Hauses in der Lage, in der sie jetzt sind, und sie werden euch erst
eingehändigt, wenn mir auch die Mutter gefolgt ist. Will Klotilde dir
ihren Anteil abtreten, so ist die Summe schon bestimmt, welche du ihr
dafür geben mußt, und so auch umgekehrt. Ist bei beiden nach unserm
Absterben eine solche Liebe zu diesen Bildern und Steinen nicht
vorhanden, daß ihr sie unzersplittert bewahret, so ist schon bestimmt,
daß auf eure hierin eingeholte Erklärung dieselben gegen ein Entgelt,
das nicht unbillig ist, an einen Ort übergehen, an welchem sie
beisammen bleiben. Ich glaube aber wohl, daß diese Neigung in unserm
Hause fortdauern werde.«

Wir antworteten auf diese Rede nichts, weil sie einen Gegenstand
berührte, der, wie entfernt wir ihn uns auch denken mußten, doch
schmerzlich auf uns einwirkte.

Ich verlegte mich nach dieser gemachten Erfahrung mit noch größerem
Eifer auf die Kenntnis der Werke der bildenden Kunst. Ich lernte mich
in die Bilder des Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten hinein und
war zu diesem Zwecke sehr oft und zuweilen lange in dem Bilderzimmer,
ich besuchte alle größeren zugänglichen Sammlungen und suchte deren
Bilder zu ergründen, ich besah alle Bildnerwerke, die in unserer
Stadt einen Ruf hatten, und strebte nach einer genauen Kenntnis ihrer
Beschaffenheiten, ich las endlich namhafte Werke über die Kunst und
verglich meine Gedanken und Gefühle mit den in den Büchern gefundenen.
Ich sprach viel mit meinem Vater über diese Gegenstände, wir näherten
uns immer mehr, meine Empfindungen wurden stets inniger, und ich
versenkte meine Seele in sie. Unsern Erzdom bewunderte ich jetzt in
einem höheren Maße als in allen früheren Zeiten, und ich stand manche
Stunde vor seinem ungeheuren Baue. Selbst die Gebilde der Mathematik,
wenn ich wieder zu Zeiten etwas in ihr zu tun hatte, erschienen
mir zuweilen schön und zierlich, was mir namentlich bei einigen
französischen Mathematikern geschah. Das Malen schöner Köpfe setzte
ich fort und eben so wurde das Zeichnen und Malen von Landschaften,
welches ich im vorigen Jahre mit der Schwester begonnen hatte, nicht
bei Seite gesetzt. Ich nahm mit ihr die Zeichnungen vor, welche sie im
vergangenen Sommer während meiner Abwesenheit gemacht hatte, und so
wie ich von meinem Gastfreunde, von Eustach und von dem Vater über die
Fehler belehrt worden war, die sich in meinen Landschaftsversuchen
befanden, so belehrte ich Klotilden wieder über die ihrigen.

Seit ich Mathilden kannte, besonders aber jetzt, nachdem ich öfter in
ihrer Gesellschaft gewesen war und im Spätherbste die Reise mir ihr
und den andern in das Hochland gemacht hatte, war ich auch auf die
Angesichter ältlicher und alter Frauen aufmerksam geworden. Man tut
sehr Unrecht, und ich bin mir bewußt, daß ich es auch getan habe, und
gewiß handeln andere Leute in ihrer Jugend ebenfalls so, wenn man die
Angesichter von Frauen und Mädchen, sobald sie ein gewisses Alter
erreicht haben, sofort beseitigt und sie für etwas hält, das die
Betrachtung nicht mehr lohnt. Ich fing jetzt zu denken an, daß es
anders sei. Die große Schönheit und Jugend reißt unsere Aufmerksamkeit
hin und erregt ein tiefstes Gefallen; warum sollten wir aber mit
dem Geiste nicht auch ein Angesicht betrachten, über welches Jahre
hingegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft eine
unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerschein auf
die Züge gießt, daß wir sie mit Rührung lesen oder ahnen? Die Jugend
weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergangenheit.
Hat diese kein Recht auf unsern Anteil? Als ich Mathilden das erste
Mal sah, fiel mir das Bild der verblühenden Rose ein, welches mein
Gastfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es
so treffend fand; und später oft, wenn ich Mathilden betrachtete,
gesellte sich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten sich
neue und es erzeugte sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, daß Mathilde aussehe wie ein Bild der Vergebung, und später
dachte ich es mir öfter. Ihr Angesicht mußte sehr schön gewesen sein,
vielleicht gar so schön wie jetzt Nataliens, nun ist es ganz anders;
aber es spricht leise von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir
müßten sie vernehmen können, und wir vernähmen sie auch gerne, weil
sie uns so anziehend scheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben,
sie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, sie hat
Schmerzen und Kummer ertragen; aber sie hat alles Gott geopfert und
hat gesucht, mit sich in das Gleiche zu kommen, sie ist mit den
Menschen gut gewesen, und jetzt ist sie in tiefem Glücke, mit manchem
unerfüllten Wunsche und mit mancher kleinern und größern Sorge, die
sie sinnen macht. Als ich einen Mann sagen gehört hatte, daß die
Fürstin, in deren Abendgesellschaften ich zuweilen sein durfte, so
schöne Töne in dem Angesichte habe, daß sie nur Rembrandt zu malen
im Stande wäre, wurde ich nicht bloß auf die Fürstin noch mehr
aufmerksam, die in ihrem hohen Alter noch so schön war, sondern ich
betrachtete auch Mathilden wieder genauer und lernte die Schönheit,
wenn schon manche Jahre über sie gegangen sind, besser kennen.
Ich fing nun an, Männer und Frauen, die in höherem Alter sind, zu
betrachten und sie um die Bedeutung ihrer Züge zu erforschen. Dabei
fielen mir die Greisenköpfe auf den Steinen meines Vaters ein. Ich
betrachtete die Steine öfter, da mir der Zugang zu denselben erlaubt
war, und verglich die Köpfe, die sich auf ihnen befanden, mit
denjenigen, die mir in dem jetzt lebenden Geschlechte aufstießen.
Beide Arten waren wirklich nicht mit einander vergleichbar und es
zeigten sich in ihnen die Verschiedenheiten menschlicher Geschlechter.
Das Antlitz der Fürstin erschien mir nun um vieles schöner als in der
früheren Zeit, daß ich aber nicht auf den Wunsch geriet, es malen zu
wollen, also noch weniger dem Wunsche einen Ausdruck gab, begreift
sich. In den Angesichtern der Manchen, welche ich jetzt eifriger
betrachtete, fand ich freilich oft etwas, das mir nicht gefiel, sei
es Neid, sei es irgend eine Begierlichkeit, sei es bloße Abgelebtheit
oder Geistlosigkeit, sei es etwas Anderes, ich stellte bei solchen
Gelegenheiten meine Betrachtung bald ein und hegte nicht den Wunsch,
das Gesehene zu malen. Seit ich Gustav besser kennen gelernt hatte und
näher mit ihm befreundet worden war, betrachtete ich auch gerne Köpfe
von Jünglingen, ob sie nicht Gegenstände zum Malen abgäben. Wenn
gleich sein Angesicht ebenfalls nicht jenen schönen und einfachen
Angesichtern auf den Steinen meines Vaters glich, die besonders edel
und merkwürdig aus den Helmen heraus sahen, so war es ihnen doch näher
als alle andern, welche ich jetzt zu erblicken Gelegenheit hatte, und
war überhaupt so schön, wie es selten einen Kopf eines Knaben geben
wird, der eben in das Jünglingsalter übertritt.

Wenn der Ausdruck der Mienen der Jünglinge unserer Stadt oft darauf
hinwies, daß ihr Geist verzogen worden sein mag, wenn sie etwas
Weichliches oder etwas zu sehr Herausforderndes oder etwas hatten, das
schon über ihre Jahre hinausging, ohne doch Kraft zu zeigen, so war
Gustavs Antlitz so kräftig, daß es vor Gesundheit zu schwellen schien,
es war so einfach, daß es gleichsam keinen Wunsch, keine Sorge, kein
Leiden, keine Bewegung aussprach, und doch war es wieder so weich und
gütig, daß man, wenn der feurige Blick nicht gewesen wäre, in das
Angesicht eines Mädchens zu blicken geglaubt haben würde.

Ich zeichnete und malte meine Köpfe jetzt anders als noch kurz vorher.
Wenn ich früher, vorzüglich bei Beginne dieser meiner Beschäftigung,
nur auf Richtigkeit der äußeren Linien sah, so weit ich dieselbe
darzustellen vermochte, und wenn ich nur die Farben annäherungsweise
zu erringen im Stande war, so glaubte ich, mein Ziel erreicht zu
haben: jetzt sah ich aber auf den Ausdruck, gleichsam, wenn ich das
Wort gebrauchen darf, auf die Seele, welche durch die Linien und die
Farben dargestellt wird. Seit ich die Marmorgestalt in dem Hause
meines Gastfreundes so lieben gelernt hatte und in die Bilder mich
vertiefte, welche ich in dem Rosenhause getroffen hatte und in dem
Hause meines Vaters vorfand, war alles anders als früher, ich suchte
und haschte nach irgend einem Innern, nach irgend etwas, das weit
außer dem Bereiche von Linien und Farben lag, das größer war als diese
Dinge und doch durch sie darzustellen sein mußte. Einen Kopf so zu
zeichnen oder gar zu malen, wie ich jetzt wollte, war viel schwerer
als wie ich früher anstrebte, es war, ohne einen Vergleich zuzulassen,
schwerer; aber es war nicht zu umgehen, wenn man überhaupt die Sache
machen wollte, es war dichten, wenn ein Dichtungswerk geliefert sein
sollte. Ich stellte meine Aufgabe kleiner, ich suchte die Züge auf
einem bescheidenen Raume zu entwerfen und begnügte mich mit den
Andeutungen in Zeichnung und Farben, wenn nur ein Inneres zu sprechen
begann, ohne daß ich darauf beharrte, daß aus dem Begonnenen ein
ausgeführtes Bild werden sollte, was nicht selten, wenn ich es
versuchte, das Innere wieder vertilgte und das Gemälde seelenlos
machte. Mein Vater wurde der Richter und war jetzt ein strenger,
während er früher alles einfach hatte gelten lassen, was ich
unternahm. Er pflegte zu sagen, das, was ich jetzt vor Augen habe, sei
das Künstlerische, mein Früheres sei ein Vergnügen gewesen. Ich nahm
häufig, wenn ich nicht in das Reine kommen konnte, zu den Bildern
meine Zuflucht und suchte zu ergründen, wie es dieser und jener
gemacht habe, um zu dem Ausdrucke zu gelangen, den er darstellte. Mein
Vater sagte, das sei der geschichtliche Weg der Kunst, man könne ihn
verfolgen, wenn man große Bildersammlungen besuche und wenn die Werke
ohne große Lücken da sind, um sie vergleichen zu können. Das sei auch
außer der genauesten Betrachtung der Natur und der Liebe zu ihr der
Weg, auf dem die Kunst wachse und auf dem sie bei den verschiedenen
Anfängen, die sie in verschiedenen Zeiten und Räumen gehabt habe,
gewachsen ist, bis sie wieder versank oder zerstört wurde, um wieder
zu beginnen und zu versuchen, ob sie steigen könne. Wo der bare
Hochmut auftritt, der alles Gewesene verwirft und aus sich schaffen
will, dort ist es mit der Kunst wie auch mit andern Dingen in dieser
Welt aus, und man wirft sich in das bloße Leere.

Außer dem Zeichnungsunterrichte setzte ich mit der Schwester auch die
Übungen in der spanischen Sprache und im Zitherspiele fort. Sie war
ohnehin von Kindheit an geneigt gewesen, alles, was ich tat, ein
wenig nachzuahmen, und ich hatte immer die Lust gehabt, ihr Führer zu
werden. Dies blieb jetzt zum Teile auch so fort.


Der Unterricht, welchen mir mein Freund, der Sohn des Juwelenhändlers,
in der Edelsteinkunde gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen
und fortgesetzt. Da wir auch außerdem in manchen Stunden einen
freundlichen Umgang mit einander pflegten, so nahm ich mir eines
Tages, obwohl es mir stets schwer wird, jemandem über seinen ihm
eigentümlichen Beruf etwas zu sagen, doch den Mut, ihn meine Gedanken
über die Fassung der Edelsteine wissen zu lassen, wie ich nehmlich
glaube, daß es nicht richtig sei, wenn die Edelsteine von der Fassung
erdrückt würden; daß ich es aber auch für nicht richtig halte, wenn
sie keine andere Fassung hätten, als die sie brauchten, um an dem
Kleidungsstücke mit dem Halt, den sie benötigen, befestigt worden zu
können; und daß daher der Mittelweg sich darbiete, daß die Schönheit
des Steines durch die Schönheit der Gestaltgebung vergrößert werde,
wodurch es sich möglich mache, daß der an sich so kostbare Stoff das
Kostbarste würde, nehmlich ein Kunstwerk. Ich wies hiebei auf die
Gestaltungen hin, welche die Kunst des Mittelalters hege und aus denen
geschöpft und weiter fortgeschritten werden könne. »Du hast im Grunde
vollkommen Recht«, erwiderte mein Freund, »wir fühlen das alle
mehr oder minder klar, außer denen, welchen alles gleichgültig und
unwesentlich ist, was nicht unmittelbar zum Erwerbe führt; darum sind
auch allerlei Versuche gemacht worden und werden noch gemacht, die
Fassung zu vergeistigen. Sie gelingen insoferne mehr oder weniger, je
nachdem es größere oder kleinere Künstler sind, welche die Entwürfe
machen. Hierin liegt aber eine mehrfache Schwierigkeit. Zuerst sind
die, welche in Juwelen und Perlen arbeiten, sehr selten Künstler, sie
können es nicht leicht werden, weil die Vorbereitung dazu zu viel Zeit
und Kräfte in Anspruch nehmen würde; werden sie es aber, so bleiben
sie gleich Künstler, verfertigen Kunstwerke und arbeiten nicht in
Edelsteinen, was ihrem Geiste und ihrem Einkommen abträglich wäre.
Müssen nun Künstler um Entwürfe angegangen werden, so bietet sich
zweitens der Übelstand, daß der Künstler die Juwelen zu wenig kennt
und die Fassung daher zu wenig auf ihre Natur berechnen kann, wozu
sich noch gesellt, daß die großen Künstler schwer zugänglich sind,
Entwürfe für Edelsteinfassungen auszuarbeiten, es müßte denn dies eine
besondere Liebhaberei sein; und wenn sie es tun, so kömmt die Fassung
sehr teuer. Deshalb muß man zu geringeren Künstlern seine Zuflucht
nehmen, welche dann auch wieder geringere Entwürfe liefern. Wir haben
die Sache in unserer Handelsstube ganz im Klaren. Wir versuchen auch
von Zeit zu Zeit ein wirkliches Kunstwerk in Perlen und edlen Steinen
darzustellen und warten, ob ein Kenner komme und es übernehme; denn
der Leute, welche Edelsteine brauchen, sind viel mehr als welche
Kunstdinge suchen. Solche Werke in großer Zahl ausführen zu lassen,
hindert uns der Mangel an zahlreichen trefflichen Entwürfen und der
Mangel an Käufern, da der Juwelenverkauf doch endlich unser Erwerb
ist. Da unsere gewöhnlichen Kunden aber doch so viel Geschmack haben,
daß sie eine unedle Fassung beleidigen würde, so wählen wir den
natürlichsten Weg, die Fassung im Stoffe edel und in der Gestalt auf
das Einfachste zu machen, so daß die Schönheit der Steine oder der
Perlen allein es ist, was herrscht, und der Anker, an dem es haftet,
sich verbirgt. Was deinen Gedanken von mittelalterlichen Gestaltungen
anbelangt, so ist er nicht neu; man hat schon solche versucht, und der
Freiherr von Risach hat bei uns nach beigebrachten Zeichnungen Dinge
ähnlicher Art verfertigen lassen.« Mir leuchtete die Sache sehr ein,
und ich konnte sie nicht weiter bereden. Ich betrachtete von nun an
mit noch größerer Sorgfalt und Genauigkeit die Arbeiten, welche mein
Freund in den verschiedenen Werkstätten der Stadt machen ließ. Sie
waren meistens sehr schön, ja ich glaube, schöner, als man sie
irgendwo zu sehen gewohnt ist. Desungeachtet mußte ich behaupten, daß
wenn nur überhaupt ein edlerer und höherer Sinn für Kunst vorhanden
wäre, diejenigen Leute, welche große Summen für Schmuck ausgeben,
dieselben Summen oder vielleicht noch größere dahin verwenden würden,
daß sie gleich wirkliche Kunstwerke in Juwelen bestellten. Dagegen
erwiderte mein Freund, daß, wie hoch der Kunstsinn auch stehe und
wie weit er sich verbreite, doch die Zahl derer immer größer bleiben
würde, welche bloß Schmuck als Schmucksachen kaufe, als derer, welche
Kunstwerke in Kleinodien entwerfen und ausführen lassen, was er
allerdings als die höchste Spitze seines Berufes ansehen würde. Dazu
komme noch, daß mancher, der Kunstsinn habe, von der Schönheit der
Steine sich gefangen nehmen lasse und zuletzt nichts begehre als
diese einzige Schönheit. In dem letzten Grunde hatte mein Freund ganz
besonders Recht; denn je mehr ich selber die Steine betrachtete, je
mehr ich mit ihnen umging, eine desto größere Macht übten sie auf
mich, daß ich begriff, daß es Menschen gibt, welche bloß eine
Edelsteinsammlung ohne Fassung anlegen und sich daran ergötzen. Es
liegt etwas Zauberhaftes in dem feinen sammtartigen Glanze der Farbe
der Edelsteine. Ich zog die farbigen vor, und so sehr die Diamanten
funkelten, so ergriff mich doch mehr das einfache, reiche, tiefe
Glühen der farbigen.

Meinen Beruf, den ich im Sommer bei Seite gesetzt hatte, nahm ich
wieder auf. Ich machte mir gleichsam Vorwürfe, daß ich ihn so
verlassen und mich einem planlosen Leben hatte hingeben können. Ich
tat das, wozu der Winter gewöhnlich ausersehen war, und setzte die
Arbeiten der vorigen Zeiten fort. Das Regelmäßige der Beschäftigung
übte bald seine sanfte Wirkung auf mich; denn was ich trotz der
freudigen Stimmung, in welcher ich aus meinen Erringungen in der Kunst
und in der Wissenschaft war, doch Schmerzliches in mir hatte, das
wich zurück und mußte erblassen vor der festen, ernsten, strengen
Beschäftigung, die der Tag forderte und die ihn in seine Zeiten
zerlegte.

Ich besuchte auch, wie im vergangenen Winter, meine Kreise, dann
Musik- und Kunstanstalten.

Daß das alles vereinigt werden konnte, mußte eine genaue
Zeiteinteilung gemacht werden, und ich mußte die Zeit richtig
verwenden. Dazu war ich wohl von Kindheit an gewöhnt worden, ich stand
sehr früh auf und hatte Manches für den Tag schon an der Lampe fertig
gemacht, wenn die allgemeine Frühstunde in unserm Hause heran rückte
und man sich zu dem Frühmahle versammelte. Dazu brauchte ich nicht
viel Schlaf und konnte manche Stunde von der beginnenden Nacht nehmen.
Die Tätigkeit stärkte, und wenn ein Schwung und eine Erhebung in
meinem Wesen war, so wurde der Schwung und die Erhebung durch die
Tätigkeit noch klarer und fester.

Einer meiner ersten Gänge war nach meiner Zurückkunft zu der Fürstin,
um mich ihr vorzustellen.

Sie war selber erst vor wenigen Tagen von ihrem Lieblingslandsitze
in die Stadt zurückgekehrt und noch nicht recht heimisch. Sie
empfing mich sehr freundlich wie immer und fragte mich um meine
Beschäftigungen während des Sommers. Ich konnte ihr nicht viel sagen
und erzählte ihr außer den Messungen, die ich am Lautersee vorgenommen
hatte, von meinen Kunstbestrebungen, meiner Kunstneigung und meiner
Liebe zu den Dichtungen. Von den besonderen Verhältnissen zu meinem
Gastfreunde erwähnte ich nur das Allgemeine, weil ich es für anmaßend
gehalten hätte, einer alten, würdigen Frau, deren Beziehungen
ausgebreitet und inhaltsreich waren, unaufgefordert Einzelheiten von
meinem Leben mitzuteilen. Sie ging auch nicht näher darauf ein, dafür
verweilte sie desto eifriger bei der Kunst und bei den Dichtern. Sie
fragte mich, was ich gelesen hätte, wie ich es aufgefaßt hätte und
was ich darüber dächte. Sie zeigte sich hierbei mit allen den Werken
bekannt, welche ich ihr nannte, nur hatte sie das Griechische, von
dem ich ihr erzählte, bloß in der Übersetzung gelesen. Sie ging
im Allgemeinen auf die Gegenstände ein und verweilte bei manchem
Einzelnen ganz besonders. Unsere Ansichten trafen oft zusammen, oft
gingen sie auch auseinander, und sie suchte ihre Meinung zu begründen,
was mir zum mindesten immer manche neue Gesichtspunkte gab. In Bezug
auf die Kunst verlangte sie, daß ich ihr einige Zeichnungen und
Malereien zeigen möchte, deren Wahl ich selber vornehmen könne, wenn
ich schon nicht alle vor ihre Augen bringen wollte.

Ich sagte, daß alle wohl zu viel wären, namentlich, da ich in erster
Zeit so viele bloß naturwissenschaftliche Zeichnungen gemacht
habe, und daß ich selber die Grenze nicht angeben könne, wo die
naturwissenschaftlichen Zeichnungen in die künstlerisch angelegten
übergingen. Ich würde aus allen Zeitabschnitten etwas auswählen und es
ihr bringen. Es wurde ein Tag bestimmt, an welchem ich zur Mittagszeit
zu ihr kommen sollte.

Ich kam an dem Tage, es war niemand als die Vorleserin zugegen, und es
wurde der Befehl gegeben, niemanden vorzulassen; denn ihr allein hätte
ich ja die Zeichnungen gebracht, nicht jedem fremden Auge, das dazu
käme. Sie sah alle Blätter an und billigte alle, besonders erregten
naturwissenschaftliche Pflanzenzeichnungen ihre Aufmerksamkeit,
weil sie sich viel mit Pflanzenkunde beschäftigt hatte, noch jetzt
Anteil an dieser Wissenschaft nahm und sie besonders bei ihren
Landaufenthalten pflegte. Sie freute sich an der Genauigkeit der
Abbildungen und sagte mir ganz richtig, welche den Urbildern am
meisten entsprächen. Nach diesen Pflanzenzeichnungen sagten ihr am
meisten die der Köpfe zu. An den landschaftlichen Versuchen mochte
ihr die Einseitigkeit aufgefallen sein, da sie gewiß eine Kennerin
landschaftlicher Bildungen war, weil sie sehr gerne im Sommer einige
Wochen an irgend einer der schönsten Stellen unseres Landes verweilte.
Sie äußerte sich aber in dieser Richtung nicht. Von den Köpfen sagte
sie, daß man auf diese Weise eine ganze Sammlung merkwürdiger Menschen
anlegen könnte. Ich erwiderte, darauf sei ich nicht ausgegangen, ich
könnte auch nicht so leicht beurteilen, wer ein merkwürdiger Mensch
sei. Es habe mir nur, da ich lange Zeit Gegenstände der Natur
gezeichnet hatte, eingeleuchtet, daß das menschliche Antlitz der
würdigste Gegenstand für Zeichnungen sei, und da habe ich die Versuche
begonnen, es in solchen auszudrücken. Ich habe anfangs dabei unwissend
fast immer die Richtung von Naturzeichnungen verfolgt, bis sich mir
etwas Höheres zeigte, dessen Darstellung darüber hinausgeht, das
uns erst die Züge und Mienen recht menschlich macht und dessen
Vergegenwärtigung ich nun anstrebe, in Ungewißheit, ob es gelingen
werde oder nicht.

Sie fragte auch nach denjenigen von meinen wissenschaftlichen
Bestrebungen, die ich im Zusammenhange aufgeschrieben habe, und
ließ den Wunsch blicken, etwas Zusammengehöriges zu erfahren. Die
Geschichte, wie unsere Erde entstanden sei und wie sie sich bis auf
die heutigen Tage entwickelt habe, mußte den größten Anteil erwecken.
Ich entgegnete, daß wir nicht so weit seien und daß ich am wenigsten
zu denen gehöre, welche einen ergiebigen Stoff zu neuen Schlüssen
geliefert haben, so sehr ich mich auch bestrebe, für mich, und wenn
es angeht, auch für Andere so viel zu fördern, als mir nur immer
möglich ist. Wenn sie davon und auch von dem, was Andere getan haben,
Mitteilungen zu empfangen wünsche, ohne sich eben in die vorhandenen
wissenschaftlichen Werke vertiefen und den Gegenstand als eigenen
Zweck vornehmen zu wollen, so werde sich wohl Zeit und Gelegenheit
finden. Sie zeigte sich zufrieden und entließ mich mit jener Güte und
Anmut, die ihr so eigen war.

Seit dieser Zeit verwandelte sich mein Verhältnis zu ihr in ein
anderes. Da ich nun einmal unter Tags in ihrer Wohnung gewesen
war, geschah dies öfter, entweder, wenn wir Werke oder Abbildungen
anzuschauen hatten, wozu das Licht der abendlichen Lampen nicht
ausreichend gewesen wäre, oder wenn sie mich zu Gesprächen einladen
ließ, die dann gewöhnlich zwischen ihr, ihrer Gesellschafterin und
mir vorfielen - selten geschah es, daß einer ihrer Söhne gelegentlich
anwesend war oder eine Enkelin oder jemand von ihren näheren
Anverwandten - und bei denen meistens die Geschichte der Erde oder
etwas in die Naturlehre Einschlägiges der Gegenstand war. Öfter machte
ich auch selber einen kurzen Besuch, um mich um den Zustand ihrer
Gesundheit zu erkundigen. Auch die Abende kamen in Bezug auf mich in
eine andere Gestalt. Da wir einmal von Dichtungen geredet hatten, mit
denen ich mich in der letzten Zeit beschäftigte und da gerade diese
Dichtungen aus einer vergangenen Zeit stammten, die nichts mit den
Tageserzeugnissen gemein hatte, da die Fürstin sich in ihren jetzigen
Jahren mit diesen Dingen nicht beschäftigte und die Zeit schon
ziemlich weit hinter ihr lag, in der sie Kenntnis von solchen Werken
genommen hatte, so wurde beschlossen, wieder das eine oder das andere
vorzunehmen und es gemeinschaftlich zu genießen. Das geschah an
Abenden, und ich mußte oft die Pflicht des Vorlesers übernehmen,
besonders wenn die Gesellschaft nicht zahlreich war, was sich gerne an
Abenden ereignete, in denen Dichtungen vorgenommen wurden. In diese
Pflicht geriet ich bei Gelegenheit der Vornahme einiger spanischen
Romanzen. Die Fürstin, die Gesellschafterin, ich und noch ein
Mann, welcher zugegen war, verstanden schlecht spanisch; doch war
beschlossen worden, die Romanzen in spanischer Sprache zu lesen. Das
Vorlesen wurde mir aufgetragen, und wie schlecht oder gut es ging, wir
verstanden doch mit eingemischten Erklärungen und mit gelegentlichen
Gesprächen in unserer Muttersprache zuletzt die Romanzen. Nach diesem
Vorgange mußte ich nun auch öfter in deutscher Sprache vorlesen, und
es geschah nicht selten, daß ich um meine Meinung über Teile des
Gelesenen befragt wurde und daß man eine Erklärung verlangte. Dies
wurde um so mehr der Fall, als wir uns auch über Abteilungen aus
Cervantes und Calderon wagten. In andern Sprachen, besonders im
Italienischen des Dante und Tasso, las sehr gerne die Gesellschafterin
der Fürstin. Das Alte aus dem Griechischen - es wurde nur die Ilias
und Odysseus, dann einiges aus Äschylos vorgenommen - mußte ich ganz
allein in deutscher Übersetzung vorlesen. Es wurde da auch sehr viel
über das uralte gesellschaftliche Leben der Griechen, über ihre
häuslichen Einrichtungen, über ihren Staat, ihre Kunst und über die
Gestalt und Beschaffenheit ihres Landes und ihrer Meere gesprochen.
Ich wurde zu diesen Beschäftigungen in diesem Winter weit öfter zu der
Fürstin eingeladen, als es früher der Fall gewesen war. Der Frühling
und die Zeit, in welcher man wieder den Landaufenthalt zu suchen
pflegt, kam uns zu früh, wir verabredeten noch, was wir in dem
nächsten Winter vorzunehmen gedächten, und die Fürstin beurlaubte mich
mit vieler und sehr gewinnender Freundlichkeit.


Die Beschäftigungen im Kreise unserer Familie bestanden jetzt in sehr
häufigen Gesprächen zwischen dem Vater und mir über die Kunst und über
Bücher. Er erzählte mir, wie er dazu gekommen wäre, Bilder lieb zu
gewinnen und sich Bilder zu sammeln. Er kam hiebei auf seine Jugend,
und da er in einer freudigeren und erregteren Stimmung war, als sonst,
so erzählte er mir ausführlich, wie er dieselbe verlebt habe. Er
stellte mir dar, wie er sich die Mittel, um etwas lernen zu können,
selber habe verschaffen müssen, und wie ihm sein älterer Bruder, der
ein sehr begabter Mensch gewesen wäre, hierin zwar ein wenig, aber in
der Tat sehr wenig habe beistehen können, weil er sich selbst alles
habe herbei schaffen müssen und nur um wenige Jahre älter gewesen sei.
Nach Anweisung vernünftiger Menschen habe er zu lesen begonnen, und
manchen freien Tag in seiner Lehrzeit habe er in seiner Kammer bei den
Büchern zugebracht. Er habe, da er frei wurde und teils in unserer
Stadt, teils in den ersten Handelsplätzen Europas Dienste tat, die
Bekanntschaft von Künstlern gemacht, habe sie in ihren Arbeitsstuben
besucht, habe über die Art zu malen sich Kenntnisse gesammelt und
sei mit diesen Kenntnissen in die berühmtesten Bildersammlungen der
größten Städte gegangen. Hiebei sei es ihm widerfahren, daß er zweimal
im Lernen habe von vorne anfangen müssen. So sei es ihm in Rom, wohin
er sich von Triest aus begeben hatte, um dort ein halbes Jahr für
sich selber zu leben, klar geworden, daß er gar nichts wisse. Er habe
wieder unverdrossen angefangen, und von Rom schreibe sich seine Liebe
für alte Bilder her. Sein Bruder habe den Weg durch die Staatsschulen
gemacht, und da er ihn sehr liebte, habe er von ihm auch die Liebe zu
den alten Sprachen angenommen. In seinen Diensten habe er mehr freie
Zeit gehabt als da er noch lernte, und diese Zeit habe er zu seinen
Lieblingsneigungen angewendet. Mit einem alten Abte, der die
Verwaltung seines Klosters abgegeben hatte und seine würdevolle Muße,
wie er sich ausdrückte, im Winter in unserer Stadt genoß, habe er alte
Dichter und Geschichtschreiber gelesen. Der Abt sei ein großer Freund
der alten Schriften gewesen, habe bei ihm Neigung zu diesen Dingen
entdeckt und sei ihm mit seinen Kenntnissen beigestanden. Er habe sehr
oft im Zimmer des Abtes laut aus den sogenannten Classikern lesen
müssen. Die Bekanntschaft desselben habe er bei seinem Dienstherrn
in unserer Stadt gemacht, in dessen Hause dem Abte, der einst Lehrer
dieses Dienstherrn gewesen sei, jährlich ein oder zwei Male ein Fest
gegeben wurde. Der Dienstherr, der letzte, bei dem sich mein Vater
befunden, sei ein Ehrenmann gewesen, der seinen Leuten nicht nur
Gelegenheit verschafft habe, etwas lernen zu können, indem er sie zu
den vorkommenden Reisen benützte, auf denen sie Geschäftsfreunde,
Handelsverbindungen, Verkehrswege und dergleichen kennen lernten,
sondern der ihnen auch Zeit gönnte, selber, wenn sie nicht die Mittel
zu großen Geschäftsanlagen besaßen, mit kleinen Anfängen zu größeren
Unternehmungen und zu endlicher Selbstständigkeit schreiten zu können.
So habe auch der Vater mit kleinen Ersparnissen begonnen, habe sich
ausgedehnt und sei endlich, da die Anfänge unter den Flügeln seines
Herrn geschehen seien, mit dessen Unterstützung ein selbstständiger
Kaufmann geworden. Was er zu Vergnügungen hätte verwenden können, habe
er bei Seite gelegt und habe sich entweder ein Buch oder ein Kunstwerk
gekauft oder habe eine Reise zu seiner Belehrung gemacht. Da sich
seine Verbindungen mehrten und stets ergiebiger zu werden versprachen,
habe er meine Mutter kennen gelernt und ihre Hand gewonnen. Sie habe
eine nicht unbeträchtliche Mitgift in das Haus gebracht, und so sei
gemeinschaftlich der Grund gelegt worden, daß wir Kinder nun nicht nur
frei und unabhängig bei unsern Eltern in ihrem eigenen Hause leben
können, sondern auch für die Zukunft einen Notpfennig zu erwarten
hätten, und daß er selber sich mit Manchem habe umringen können, was
ihm die sanfte Neigung seines Herzens geboten habe und was ihm als
Erheiterung und nach der Liebe seiner Gattin und der Wohlgeratenheit
seiner Kinder auch als Lohn seines Alters dienen werde. Der betagte
Abt habe ihn als seinen letzten Schüler noch getraut und sei bald
darauf gestorben. Mit der jungen Frau habe er dreimal seine alten
Eltern, welche ferne in einem waldigen Lande von einer wenig
ergiebigen Feldwirtschaft lebten, besucht, sie seien dann kurz darauf
eins nach dem andern gestorben.

Sein Dienstherr habe uns noch aus der Taufe gehoben, sei dann von den
Geschäften zurück getreten, habe bei seinem einzigen Kinde, einer
Tochter, die an einen angesehenen Güterbesitzer verheiratet war,
gelebt und sei bei ihr auch endlich gestorben. So haben sich alle
Verhältnisse geändert. Das heimatliche Waldhaus mit der geringen
Feldwirtschaft haben er und sein Bruder einer Schwester geschenkt,
diese sei ohne Kinder gestorben, und da weder er noch der Bruder das
Haus bewirtschaften konnten, so haben sie eingewilligt, daß es an
einen entfernten Verwandten falle. Der Bruder sei während unserer
Unmündigkeit gestorben, eben so die Großeltern von mütterlicher Seite
und endlich ein Großoheim von eben dieser Seite, der uns Kinder zu
Erben eingesetzt, und da die Mutter keine Geschwister gehabt habe,
so seien wir nun allein und so sei keine Verwandtschaft weder von
väterlicher noch von mütterlicher Seite übrig. Er habe die Liebe,
welche ihm durch den Tod seiner Angehörigen, denen er, besonders dem
Bruder, eine treue Erinnerung weihe, anheimgefallen sei, an die Mutter
und uns übertragen, sein Haus sei nun sein Alles, und wir zwei, die
Schwester und ich, sollten verbunden bleiben und sollten in Neigung
nicht von einander lassen, besonders wenn auch wir allein sein und er
und die Mutter im Kirchhofe schlummern würden.

Diese Ermahnung zur Liebe war nicht nötig; denn daß wir, die Schwester
und ich, uns mehr lieben könnten, als wir taten, schien uns nicht
möglich, nur die Eltern liebten wir beide noch mehr, und wenn eine
Anspielung darauf gemacht wurde, daß sie uns einst verlassen sollten,
so betrübte uns das außerordentlich, und wohin wir die Liebe, die uns
dann zurückfallen sollte, wenden würden, wußten wir sehr wohl, wir
würden sie an gar nichts wenden, sie würde von selber über die
Grabhügel hinaus gegen die verstorbenen Eltern bis an unser Lebensende
fortdauern.


Die andern Vorkommnisse, die zwar auch in unserer Familie, aber nicht
in ihr allein, sondern zugleich in Gesellschaft von geladenen Menschen
vorfielen, waren mir nicht so angenehm als in früheren Zeiten, ja sie
waren mir eher widerwärtig und dünkten mir Zeitverlust. Sie bestanden
beinahe gleichmäßig wie in früheren Jahren aus abendlichen Kreisen, in
denen gesprochen wurde, oder aus Gesellschaften, in denen etwas Musik
oder gar Tanz vorkam. An dem letzteren nahm ich gar keinen Teil, und
die Schwester, welche, wie ich schon seit länger wahrnahm, schier alle
meine Neigungen teilte, tat es sehr wenig und flüchtete an solchen
Abenden sehr gerne zu mir. Ich hatte die Leute, darunter aber
vorzüglich die jungen, welche bei solchen Gelegenheiten zu uns kamen,
schon genau kennen gelernt, und wenn ich in früherer Zeit eine Scheu,
ja sogar eine gewisse Gattung von Ehrfurcht vor ihnen gehabt hatte,
so war dies jetzt nicht mehr der Fall; ich hatte durch Nachdenken und
durch Erfahrungen im Umgange mit andern Menschen einsehen gelernt, daß
das, wovor ich besonders eine Scheu hatte, nehmlich ihre Sicherheit
und Vornehmheit, nur ein Ding ist welches man lernt, wenn man sehr
viel in solchen Gesellschaften ist, wie sie bei uns waren, und wenn
man in diesen Gesellschaften viel spricht und in den Vordergrund
tritt. Und daß dieses Ding nicht schwer zu erlernen ist, sah ich
daraus, daß es solche inne hatten, deren Geisteskräfte hoch zu achten
ich nicht veranlaßt war. Meine Erfahrungen an Menschen hatte ich aber
nicht bloß in hohen Ständen gemacht, sondern auch in niedern, und
in diesen zwar nicht in der Stadt, sondern bei Gebirgsbewohnern und
Landbebauern. In hohen Ständen sah ich junge Leute, namentlich bei
der Fürstin war das der Fall, welche jenes Benehmen, das mir sonst so
hoch über mir schien, nicht hatten, sondern sich einfach und wenig
vortretend gaben, höflich und nicht linkisch waren, und an das Wort,
das ich öfter in meiner Jugend gehört, aber falsch verstanden hatte,
»ein junger Mann von guter Erziehung« erinnerten. In den untern
Ständen habe ich manchen Mann kennen gelernt, der, wenn er vor solchen
stand, die er für höher erachtete als sich selbst, nicht die Mühe
übernahm, auch höher in seinem Benehmen sein zu wollen, sondern
der ruhig so sprach, wie er die Sache verstand, und ruhig die Rede
anhörte, die ihm ein Anderer erwiderte. Dieser Mann schien mir auch
von höherer Erziehung als die, welche viele Arten des Benehmens wissen
und ersichtlich machen. Ein gültiges Beispiel gab mein Gastfreund, der
noch einfacher war als jene Männer, von denen ich sagte, daß ich sie
bei der Fürstin gesehen habe, und dessen Rede und Tun so klare Achtung
erzeugten. Selbst sein Anzug, der Anfangs auffiel, stimmte zu Allem.
Auch Eustach, Gustav aber ganz gewiß, standen im entschiedenen Vorzuge
vor meinen Gesellschaftsleuten. Weil ich nun diese Menschen sehr gut
kannte und weil sie mir keine hohe Rücksichtnahme mehr einflößten, war
es mir unersprießlich, mit ihnen zu sein, und es erschien mir, daß ich
die Zeit besser würde benützen können. Aber auch die Erfahrungen in
dieser Hinsicht mochte mein Vater für nützlich gehalten haben. Ich
machte sie nur an jungen Männern. Über Mädchen konnte ich ein Urteil
gar nicht sagen, weil ich sehr wenig mit ihnen sprach und weil mich
natürlich keine in meiner Zurückgezogenheit aufsuchen konnte. Wie
älteren Leuten, Männern wie Frauen, kam mir oft jemand entgegen, dem
ich Achtung zollen mußte; aber auch zu alten Leuten wie zu Mädchen
konnte ich mich nicht drängen. Unter denen, welchen ich mehr zugetan
war, stand der Sohn des Juwelenhändlers oben an, ich war ihm wirklich
in der eigentlichen Bedeutung ein Freund. Wir brachten außer unseren
Kleinodienlehrstunden manche Zeit mit einander zu, wir besprachen
verschiedene Dinge und lasen auch mitunter kleine Abschnitte von
Schriften mit einander, die wir gemeinschaftlich achteten. Seine
Eltern waren sehr liebenswürdig und fein. Der junge Preborn war mir
auch nicht unangenehm. Er sprach noch öfter von der schönen Tarona
und bedauerte sehr, daß sie auf weite Reisen gegangen und daher gar
nicht in die Stadt gekommen sei, weswegen er mir sie nie habe zeigen
können. An den eigentlichen Vergnügungen, die junge Männer unter sich
anstellten, nahm ich nur ungemein selten Teil. Daß ich aber auch
überhaupt viel weniger mit Männern meines Alters umging und nicht, wie
es bei vielen jungen Leuten in unserer Stadt der Gebrauch ist, Tage
mit ihnen zubrachte und dies öfter wiederholte, rührte daher, daß ich
viele Beschäftigungen hatte und daß mir daher zu wenig Zeit übrig
blieb, sie auf Anderes zu verwenden. Am liebsten war es mir, wenn ich
mit meinen Angehörigen allein war.


Ich ging nach dem Winter ziemlich spät im Frühlinge auf das Land. So
erfreulich der letzte Sommer für mich gewesen war, so sehr er mein
Herz gehoben hatte, so war doch etwas Unliebes in dem Grunde meines
Innern zurück geblieben, was nichts anders schien als das Bewußtsein,
daß ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe und einer
planlosen Beschäftigung anheim gegeben gewesen sei. Ich wollte das
nun einbringen und den größten Teil des Sommers einer festen und
angestrengten Tätigkeit weihen. Ich nahm alle Geräte und Werke mit,
welche ich zur Fortsetzung meiner Arbeiten brauchte. Freie Stunden,
die nach genauer Zeiteinteilung übrig blieben, wollte ich dann meinen
Lieblingsdingen widmen.

Ich kam in das Ahornwirtshaus und bestellte mir da hin auch die Leute,
die ich verwenden wollte, wenn sie sich nehmlich bereit erklärten, mir
in entferntere Teile der Gebirge zu folgen, wohin mich heuer meine
Arbeiten führen würden. Der alte Kaspar wollte mitgehen, zwei andere
auch, und so hatte ich genug. Ich erkundigte mich nach meinem
Zitherspiellehrer, er war fort und so gut wie verschollen. Kein Mensch
wußte etwas von ihm. Ich ging in das Rothmoor, um nachzusehen, wie
weit die Marmorarbeiten gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und
ich konnte sie im Herbste nach Hause bringen lassen. Da das geschehen
war, verließ ich für diesen Sommer das Ahornwirtshaus, in welchem ich
nun so lange gewohnt hatte, um mich in die Bergabteilung zu begeben,
die ich durchforschen wollte. Ich ging mit einem wehmütigen Gefühle
von dem Hause fort.

An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten,
aber deßohngeachtet bei Weitem nicht so schön war wie das, welches
ich verlassen hatte, setzte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner
Bestrebungen fest. Ich vermißte das heitere, fensterschimmernde
Ahornhaus, ich vermißte das ganze Tal, in dem ich beinahe heimisch
geworden war. In einem Hause, das an der Öffnung dreier Täler lag
und mir daher den geeignetsten Platz abgab, mietete ich mich ein.
Schwarzer Tannenwald sah auf meine Fenster, schritt an den Bächen,
welche aus den drei Tälern kamen, neben feuchten Wiesen und andern
offenen Stellen in die Talgründe hinein und zog sich auf die Berge.
Die höheren Kuppen oder gar die Schneeberge konnte man wegen der
Enge des Tales über den finstern Tannen nicht sehen. Das mochte auch
die Ursache sein, daß das Haus und die mehreren in den Waldlehnen
zerstreuten und an den Bächen hingehenden Hütten die Tann hießen.
Mauern, mit grünem Moose bewachsen, bildeten mein Haus und grenzten
an ein zerfallenes Gärtchen, in welchem wenig mehr als Schnittlauch
wuchs. Auf der Gasse war der Boden schwarz, und dieselbe Schwärze zog
sich in das Gras hinein; denn das Einzige, welches häufig an diesem
Wirtshause ankam und da hielt, damit sich Menschen und Tiere
erquickten, waren Kohlenfuhren. In dem ganzen, bei näherer
Besichtigung sich als ungeheuer zeigenden Waldgebiete waren die
Kohlenbrennereien zerstreut, und ganze Züge von den schwarzen
Fuhrwerken und den schwarzen Fuhrmännern zogen die düstere Straße
hinaus, um die Kohlen gegen die Ebenen zu bringen, von wo sie sogar
bis in unsere Stadt befördert wurden. Nur ein einziges Zimmer mit
kleinen Fenstern und eisernen Kreuzen daran konnte ich haben. In
demselben war ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett und eine bemalte Truhe,
in die ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Für meine größeren
Kisten wurde mir ein Verschlag in einem Schuppen eingeräumt. Kaspar
und die andern schliefen, wenn wir uns in dem Hause befanden, in der
Scheuer im Heu. Ich ließ mein Gepäcke größtenteils in meinen Koffern,
hing nur das Nötige an Nägel, die in dem Zimmer waren, legte meine
Schreibgeräte, meine wissenschaftlichen Bücher und meine Dichter auf
den Tisch, füllte das Bettgestelle mit meinen von Hause mitgebrachten
Bettstücken, stellte meine Bergstöcke in eine Ecke und war
eingerichtet. Die Sonne, welche am späten Vormittage bei einem Fenster
meines Zimmers hereinkam, streifte am Nachmittage das andere, um bald
die Spitzen der Tannen zu vergolden und zu verschwinden. Ich war in
manchen ähnlichen Herbergen schon gewesen, war daran gewöhnt, fügte
mich und wurde mit dem Wirte, der Wirtin und einer rührigen Tochter,
einfachen, gutmütigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten,
bald bekannt. Sonst kam noch manches Mal ein Gebirgsjäger, ein
seltener Wandersmann oder ein Hausierer in das Tannwirtshaus. Die
größte Zahl der Gäste bestand außer den Kohlenführern in Holzknechten,
welche in den großen Wäldern zerstreut waren und welche gerne an
Samstagen oder an Tagen vor großen Festen heraus kamen, um zu den
Ihrigen zu gehen. Da verweilten sie denn nun nicht selten gerne
ein wenig in dem Tannwirtshause, um sich ein Gutes zu tun. Die
Hauptbeschäftigung aller Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr
Hauptreichtum waren Kühe und Ziegen, welche täglich in die Wälder
gingen und von welchen die jüngeren den ganzen Sommer hindurch auf der
Höhe der Waldungen und der Holzschläge blieben.

Von diesem Hause aus fingen wir nun an, unsere Beschäftigungen zu
betreiben. Durch die langen und weithingestreckten Waldungen ging
unser Hammer, und die Leute trugen die Zeugen der verschiedenen
Bodenbeschaffenheiten, auf denen die ausgedehnten Waldbestände
wuchsen, in der Gestalt der mannigfaltigen Gesteine in die Tann. Wenn
auch von unserem Gasthause aus die Felsenberge oder gar das Eis nicht
zu erblicken waren, so waren sie darum nicht weniger vorhanden. Weil
hier Alles großartiger war.

Da wir uns tiefer im Gebirge und näher seinem Urstocke befanden, so
dehnten sich auch die Wälder in mächtigeren Anschwellungen aus, und
wenn man durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schatten der
feuchten Tannen und Fichten gegangen war, so wurden endlich ihre
Reihen lichter, ihr Bestand minderte sich, erstorbene Stämme oder
solche, die durch Unfälle zerstört worden waren, wurden häufiger, das
trockene Gestein mehrte sich, und wenn nun freie Plätze mit kurzem
Grase oder Sandgrieß oder Knieholz folgten, so sah man dämmerige
Wände in riesigen Abmessungen vor den Augen stehen, und blitzende
Schneefelder waren in ihnen, oder zwischen auseinanderschreitenden
Felsen schaute ein ganz in Weiß gehüllter Berg hervor. Die Gesteinwelt
folgte nun in noch größeren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns führte
unsere Absicht oft aus der Umschließung der Wälder in das Freie
der Berge hinaus. Wenn die Bestandteile eines ganzen Gesteinzuges
ergründet waren, wenn alle Wässer, die der Gesteinzug in die Täler
sendet, untersucht waren, um jedes Geschiebe, das der Bach führt, zu
betrachten und zu verzeichnen, wenn nun nichts Neues nach mehrfacher
und genauer Untersuchung sich mehr ergab, so wurde versucht, sich des
Zuges selbst zu bemächtigen und seine Glieder, so weit es die Macht
und Gewalt der Natur zuließ, zu begehen. In die wildesten und
abgelegensten Gründe führte uns so unser Plan, auf die schroffsten
Grate kamen wir, wo ein scheuer Geier oder irgend ein unbekanntes
Ding vor uns aufflog und ein einsamer Holzarm hervor wuchs, den in
Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte; auf lichte Höhen
gelangten wir, welche die ungeheure Wucht der Wälder, in denen unser
Wirtshaus lag, und die angebauteren Gefilde draußen, in denen die
Menschen wohnten, wie ein kleines Bild zu unsern Füßen legten. Meine
Leute wurden immer eifriger. Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat,
die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die
Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen, noch mehr aber durch
Zerstören zeigen und was die Erwachsenen dadurch dartun, daß sie die
Erde nicht nur zur nahrungsprossenden machen, wie der Dichter des
Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnügen
umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb
hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen, zu überwinden und sucht
selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer, wichtigerer
Zweck gar nicht treibt. Die Erzählung solcher bestandener Züge bildet
einen Teil der Würze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute waren
in einer gesteigerten Freude und Empfindung, wenn wir mit dem Hammer
und Meißel teils Stufen in die glatten Wände schlugen, teils Löcher
machten, unsere vorrätigen Eisen eintrieben, auf solche Weise Leitern
verfertigten und auf einen Standort gelangten, auf den zu gelangen
eine Unmöglichkeit schien.

Wir kamen oft eine Reihe von Tagen nicht in unser Tannwirtshaus hinab.

Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn
mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte. Ich stand auf
dem Felsen, der das Eis und den Schnee überragte, an dessen Fuß sich
der Firnschrund befand, den man hatte überspringen müssen oder zu
dessen Überwindung wir nicht selten Leitern verfertigten und über das
Eis trugen, ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche des letzten
Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der
Berge um mich und unter mir, die entweder noch höher mit den weißen
Hörnern in den Himmel ragten und mich besiegten oder die meinen Stand
in anderen Luftebenen fortsetzten oder die einschrumpften und hinab
sanken und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Täler wie rauchige
Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines
Täfelchen unten stehen, ich sah die Länder wie eine schwache Mappe vor
mir liegen, ich sah in die Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen
Nebel getaucht die Stadt sein mußte, in der alle lebten, die mir
teuer waren, Vater, Mutter und Schwester, ich sah nach den Höhen, die
von hier aus wie blauliche Lämmerwolken erschienen, auf denen das
Asperhaus sein mußte und der Sternenhof, wo mein lieber Gastfreund
hauste, wo die gute, klare Mathilde wohnte, wo Eustach war, wo der
fröhliche, feurige Gustav sich befand und wo Nataliens Augen blickten.

Alles schwieg unter mir, als wäre die Welt ausgestorben, als wäre das,
daß sich Alles von Leben rege und rühre, ein Traum gewesen. Nicht
einmal ein Rauch war auf die Höhe hinauf zu sehen, und da wir zu
solchen Besteigungen stets schöne Tage wählten, so war auch meistens
der Himmel heiter und in der dunkelblauen Finsternis hin eine
endlosere Wüste, als er in der Tiefe und in den mit kleinen
Gegenständen angefüllten Ländern erscheint. Wenn wir hinab stiegen,
wenn Kaspar hinter uns die Eisen aus den Steinen zog und in den Sack
tat, den er an einem Stricke um die Schultern hängen hatte, wenn wir
nun die Leiter über den Firnschrund zurückzogen oder im Falle, daß
wir keine Leiter gebraucht hatten, über den Spalt gesprungen waren,
so zeigte sich in dem Ernste von Kaspars harten Zügen oder in
den Angesichtern der Andern, die uns begleiteten, eine gewisse
Veränderung, so daß ich schloß, daß der Stand, auf dem wir gestanden
waren, einen Eindruck auf sie gemacht haben mußte.

Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner Arbeit abdingen konnte,
weil ich Ruhe brauchte oder das Wetter mich hinderte, wendete ich zur
Entwerfung leichter Landschaftsgebilde an, und die Tiefe der Nacht
wurde, ehe sich die Augen schlossen, durch die großen Worte eines, der
schon längst gestorben war und der sie uns in einem Buche hinterlassen
hatte, erhellt, und wenn die Kerze ausgelöscht war, wurden die Worte
in jenes Reich mit hinüber genommen, das uns so rätselhaft ist und das
einen Zustand vorbildet, der uns noch unergründlicher erscheint.

Wie in der jüngstvergangenen Zeit konnte ich auch jetzt nicht mehr mit
der bloßen Sammlung des Stoffes meiner Wissenschaft mich begnügen,
ich konnte nicht mehr das Vorgefundene bloß einzeichnen, daß ein Bild
entstehe, wie Alles über einander und neben einander gelagert ist -
ich tat dieses zwar jetzt auch sehr genau -, sondern ich mußte mich
stets um die Ursache fragen, warum etwas sei, um die Art, wie es
seinen Anfang genommen habe. Ich baute in diesen Gedanken fort und
schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in
irgend einer Zukunft etwas daraus.


Zur Zeit der Rosenblüte machte ich einen Abschnitt in meinem Beginnen,
ich wollte mir eine Unterbrechung gönnen und den Asperhof besuchen.

Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Versprechen, daß ich sie in
Zukunft wieder verwenden werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines
Heimreisegeld und entließ sie. In dem Tannhause verpackte ich Alles
wohl, was mein Eigentum war, berichtigte das, was ich schuldig
geworden, sagte, daß ich wiederkommen werde, daß man mir das
Dagelassene unterdessen gut bewahren möge und fuhr in einem
einspännigen Gebirgswäglein durch den tiefen Weg, der von dem
rauschenden Bache des Tannwirtshauses waldaufwärts führt, davon. Als
ich die Heerstraße erreicht hatte, sendete ich meinen Fuhrmann zurück
und wählte für die weitere Fahrt einen Platz im Postwagen. Die Strecke
von der letzten Post zu meinem Freunde legte ich zu Fuße zurück. Für
Nachsendung meines Gepäckes trug ich Sorge.

Ich war später gekommen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. In der
tiefen Abgeschiedenheit und in der hohen kühlen Lage der Tann hatte
ich mich über das, was draußen geschah, getäuscht. In dem freieren
Lande war ein warmer Frühling und ein sehr warmer Frühsommer gewesen,
was ich in den Bergen nicht so genau hatte ermessen können. Darum
blühten schon die Rosen mit freudiger Fülle in allen Gärten, an denen
ich vorüber kam. In schöner Vollkommenheit schauten die untadeligen
Laubkronen meines Gastfreundes über das dunkle Dach des Hauses und
standen an den beiden Flügeln des Gartengitters, als ich den Hügel
hinan stieg. Die Fenstervorhänge, welche teils ein wenig geöffnet,
teils der Hitze willen geschlossen waren, luden mich gastlich ein, und
der Schmelz des Gesanges der Vögel und mancher lautere vereinzelte Ruf
grüßte mich wie einen, der hier schon lange bekannt ist.

Da ich die Einrichtung des Gittertores kannte, drückte ich an der
Vorrichtung, der Flügel öffnete sich und ich trat in den Garten.

Mein Gastfreund war bei den Bienen. Ich erfuhr das von dem Gärtner,
welcher der erste war, den ich zu sehen bekam. Er ordnete etwas an
einem Geranienbeete in der Nähe des Einganges. Ich schlug den Weg zu
den Bienen ein. Mein Gastfreund stand vor der Hütte und erwartete das
Erscheinen einer jungen Familie, die schwärmen wollte. Er sagte mir
dieses, als ich hinzutrat, ihn zu begrüßen. Der Empfang war beinahe
bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine
Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine
Zuneigung zu mir gewonnen haben.

Da er doch wohl von seinem Vorhaben nicht weggehen konnte, sagte ich,
ich wolle die andern auch begrüßen, und er billigte es. Er hatte mir
erzählt, daß Mathilde und Natalie in dem Asperhofe seien.

Ich ging gegen das Haus. Gustav hatte es schon erfahren, daß ich da
sei, er flog die Treppe herunter und auf mich zu. Gruß, Gegengruß,
Fragen, Antworten, Vorwürfe, daß ich so spät gekommen sei und daß
ich in dem Frühlinge doch nicht einige Tage benützt habe, um in den
Asperhof zu gehen. Er sagte, daß er mir sehr viel zu erzählen habe,
daß er mir alles erzählen wolle und daß ich recht lange, lange da
bleiben müsse.

Er führte mich nun zu seiner Mutter. Diese saß an einem Tische im
Gebüsche und las. Sie stand auf, da sie mich nahen sah, und ging mir
entgegen. Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unserer Stadt
Sitte war, küssen wollte. Sie ließ es nicht zu. Ich hatte wohl schon
früher bemerkt, daß sie nicht zugab, daß ihr die Hand geküßt werde;
aber ich hatte in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie sagte, daß
ich ihr sehr willkommen sei, daß sie mich schon früher erwartet habe
und daß ich nun eine nicht zu kurze Zeit meinen hiesigen Freunden
schenken müsse. Wir gingen unter diesen Worten wieder zu dem Tische
zurück, auf den sie ihr Buch gelegt hatte, und sie hieß mich an ihm
Platz nehmen. Ich setzte mich auf einen der dastehenden Stühle. Gustav
blieb neben uns stehen. Ihr Angesicht war so heiter und freundlich,
daß ich meinte, es nie so gesehen zu haben. Oder es war wohl immer so,
nur in meiner Erinnerung war es ein wenig zurück getreten. Wirklich,
so oft ich Mathilden nach längerer Trennung sah, erschien sie mir,
obwohl sie eine alternde Frau war, immer lieblicher und immer
anmutiger. Zwischen den Fältchen des Alters und auf den Zügen, welche
auf eine Reihe von Jahren wiesen, wohnte eine Schönheit, welche rührte
und Zutrauen erweckte. Und mehr als diese Schönheit war es, wie ich
wohl jetzt erkannte, da ich so viele Angesichter so genau betrachtet
hatte, um sie nachzubilden, die Seele, welche gütig und abgeschlossen
sich darstellte und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte. Um die
reine Stirne zog sich das Weiß der Haubenkrause, und ähnliche weiße
Streifen waren um die feinen Hände.

Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln, fast
veilchenblauen Rose. Sie lehnte sich in dem Rohrstuhle, auf dem sie
saß, zurück, faltete die Hände auf ihrem Schooße und sagte: »Wir
werden in dem Sternenhofe ein kleines Fest feiern. Ihr wißt, daß wir
begonnen haben, die Tünche, womit die großen Steinflächen, die die
Mauern unsers Hauses bekleiden, in früheren Jahren überstrichen worden
sind, wegzunehmen, weil unser Freund meinte, daß dieselbe das Haus
entstelle und daß es sich weit schöner zeigen würde, wenn sie
weggenommen und der bloße Stein sichtbar wäre. Heuer ist nun die ganze
vordere Fläche des Hauses fertig geworden, die Gerüste werden eben
abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren auch auf dem Boden vor
dem Hause vertilgt sind, wenn der Sand geebnet ist, wenn der Rasen
gereinigt und gewaschen ist, daß er keine Kalkflecke, sondern das
reine Grün zeigt, wir alle hinausfahren, um die Sache zu betrachten
und ein Urteil abzugeben, ob das Haus den Gewinn gemacht habe, der
sich uns versprochen hat.

Es werden auch andere Menschen kommen, es werden wahrscheinlich sich
einige Nachbarn einfinden, und da ihr zu unsern Freunden aus dem
Asperhofe gehört, und da wir alle euer Urteil in Anschlag bringen
möchten, so seid ihr gebeten, auch dabei zu sein und die Gesellschaft
zu vermehren.«

»Mein Urteil ist wohl sehr geringe«, antwortete ich, »und wenn es
nicht ganz verwerflich ist, und wenn ich mir einige Kenntnisse und
eine bestimmte Empfindung des Schönen erworben habe, so danke ich
Alles dem Besitzer dieses Hauses, der mich so gütig aufgenommen und
Manches in mir hervor gezogen hat, das wohl sonst nie zu irgend einer
Bedeutung gekommen wäre. Ich werde also kaum zur Feststellung der
Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen können, und meine Ansicht
wird gewiß die meines Gastfreundes und Eustachs sein; aber da ihr mich
so freundlich einladet und da es mir eine Freude macht, in eurem Hause
sein zu können, so nehme ich die Einladung gerne an, vorausgesetzt,
daß die Zeit nicht zu spät bestimmt ist, da ich doch wohl noch in
diesem Sommer in den Ort meiner jetzigen Tätigkeit zurückkehren und
Einiges vor mich bringen möchte.«

»Die Zeit ist sehr nahe«, erwiderte sie, »es ist ohnehin schon seit
länger her gebräuchlich, daß nach der Rosenblüte, zu welcher ich immer
in diesem Hause eingeladen bin, unsere hiesigen Freunde auf eine Weile
in den Sternenhof hinüber fahren. Das wird auch heuer so sein.

Während hier die feinen Blätter dieser Blumen sich vollkommen
entwickeln und endlich welken und abfallen, wird unser Hausverwalter
in dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, daß keine Verwirrung mehr
zu sehr sichtbar ist, er wird uns hierüber einen Brief schreiben und
wir werden den Tag der Zusammenkunft bestimmen. Von dem Urteile, wenn
irgend eines mit einem überwiegenden Gewichte zu Stande kömmt, wird
es abhängen, ob auch die Kosten zu der Reinigung der andern Teile des
Hauses verwendet werden oder ob der jetzige Zustand, daß eine Seite
von der Tünche befreit ist, die übrigen aber damit behaftet sind, der
gewiß weniger schön ist, als wenn Alles übertüncht geblieben wäre,
fortbestehen oder ob gar das Befreite wieder übertüncht werden solle.
Daß ihr übrigens eure Ansichten geringe achtet, daran tut ihr Unrecht.
Wenn in der Nähe unsers Freundes Einiges an euch früher zur Blüte kam,
so ist dies wohl sehr natürlich; es ist ja Alles an uns Menschen so,
daß es wieder von andern Menschen groß gezogen wird, und es ist das
glückliche Vorrecht bedeutender Menschen, daß sie in andern auch das
Bedeutende, das wohl sonst später zum Vorscheine gekommen wäre, früher
entwickeln. Wie sicher in euch die Anlage zu dem Höheren und Größeren
vorhanden war, zeigt schon die Wahl, mit der ihr aus eigenem Antriebe
auf eine wissenschaftliche Beschäftigung gekommen seid, die sonst
unsere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch entschieden habt,
nicht zu ergreifen pflegen, und daß euer Herz dem Schönen zugewendet
war, geht daraus hervor, daß ihr schon bald begannet, die Gegenstände
eurer Wissenschaft abzubilden, worauf der, dem der bildende Sinn
mangelt, nicht so leicht verfällt, er macht sich eher schriftliche
Verzeichnisse, und endlich habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer
Dinge, menschlicher Köpfe, Landschaften, versucht und habt euch auf
die Dichter gewendet. Daß es aber auch nicht ein unglücklicher Tag
war, an welchem ihr über diesen Hügel herauf ginget, zeigt sich in
einer Tatsache: ihr liebt den Besitzer dieses Hauses, und einen
Menschen lieben können ist für den, der das Gefühl hat, ein großer
Gewinn.«

Gustav hatte während dieser Rede die Mutter stets freundlich
angesehen.

Ich aber sagte: »Er ist ein ungewöhnlicher, ein ganz außerordentlicher
Mensch.«

Sie erwiderte auf diese Worte nichts, sondern schwieg eine Weile.
Später fing sie wieder an: »Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den
Tisch gestellt, gewissermaßen als die Gesellschafterin meines Lesens -
gefällt euch die Blume?«

»Sie gefällt mir sehr«, antwortete ich, »wie mir überhaupt alle Rosen
gefallen, die in diesem Hause gezogen werden.«

»Sie ist eine neue Art«, sagte sie, »ich habe aus England einen Brief
bekommen, in welchem eine Freundin mit Auszeichnung von einer Rose
sprach, die sie in Kew gesehen habe und deren Namen sie hinzu fügte.
Da ich in dem Verzeichnisse unserer Rosen den Namen nicht fand, dachte
ich, daß dies eine Art sein dürfte, welche unser Freund nicht hat.
Ich schrieb an die Freundin, ob sie mir eine solche Rosenpflanze
verschaffen könne. Mit Hilfe eines Mannes, der uns beide kennt,
erhielt sie die Pflanze, und in diesem Frühlinge wurde sie mir in
einem Topfe, sehr wohl und sinnreich verpackt, aus England geschickt.
Ich pflegte sie, und da die Blumen sich entwickeln wollten, brachte
ich sie unserm Freunde. Die Rosen öffneten sich hier vollends, und
wir sahen - besonders er, der alle Merkmale genau kennt -, daß diese
Blume sich in der Sammlung dieses Hauses noch nicht befindet. Eustach
bildete sie ab, daß wir sie festhalten und ob die, welche in Zukunft
kommen werden, ihr gleichen. Mein Freund schrieb nach England um
Pfropfreiser für den nächsten Frühling, diese Pflanze bleibt indessen
in dem Topfe und wird hier besorgt werden.«

Während sie so sprach, regten sich die Zweige neben einem schmalen
Pfade, der aus dem Gebüsche auf den Platz führte, und Natalie trat auf
dem Pfade hervor. Sie war erhitzt und trug einen Strauß von Feldblumen
in der Hand. Sie mußte nicht gewußt haben, daß ein Fremder bei der
Mutter sei; denn sie erschrak sehr, und mir schien, als ginge durch
das Rot des erwärmten Angesichtes eine Blässe, die wieder mit einem
noch stärkeren Rot wechselte. Ich war ebenfalls beinahe erschrocken
und stand auf.

Sie war an der Ecke des Gebüsches stehen geblieben, und ich sagte die
Worte: »Mich freut es sehr, mein Fräulein, euch so wohl zu sehen.«

»Mich freut es auch, daß ihr wohl seid«, erwiderte sie.

»Mein Kind, du bist sehr erhitzt«, sagte die Mutter, »du mußt weit
gewesen sein, es kömmt schon die Mittagsstunde, und in derselben
solltest du nicht so weit gehen. Setze dich ein wenig auf einen dieser
Sessel, aber setze dich in die Sonne, damit du nicht zu schnell
abkühlest.«

Natalie blieb noch ein ganz kleines Weilchen stehen, dann rückte sie
folgsam einen von den herumstehenden Sesseln so, daß er ganz von der
Sonne beschienen wurde, und setzte sich auf ihn. Sie hatte den runden
Hut mit dem nicht gar großen Schirme, wie ihn Mathilde und sie
sehr gerne auf Spaziergängen in der Nähe des Rosenhauses und des
Sternenhofes trugen, als sie aus dem Gebüsche getreten war, in der
Hand gehabt, jetzt, da die Sonne auf ihren Scheitel schien, setzte sie
ihn auf. Sie legte den Strauß von Feldblumen, den sie gebracht hatte,
auf den Tisch und fing an, die einzelnen Gewächse heraus zu suchen und
gleichsam zu einem neuen Strauße zu ordnen.

»Wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter.

»Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen«, antwortete
Natalie, »ich bin zwischen den Gebüschen neben den Zwergobstbäumen und
unter den großen Bäumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in
das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten und es blühten
Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen
Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, saß dort ein
wenig, ging dann auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne Weg
zwischen den Feldern herum, pflückte diese Blumen und ging dann wieder
in den Garten zurück.«

»Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du
alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pflücken dieser Blumen verwendet?«
fragte Mathilde.

»Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe;
aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein«, antwortete Natalie,
»ich habe nicht bloß diese Blumen gepflückt, sondern auch auf die
Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen und auf die Gegend,
auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt.«

»Mein Kind«, sagte Mathilde, »es ist kein Übel, wenn du in den
Umgebungen dieses Hauses herum gehst; aber es ist nicht gut, wenn du
in der heißen Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heißesten ist,
aber immerhin schon heiß genug, auf dem Hügel herum gehst, welcher ihr
ganz ausgesetzt ist, welcher keinen Baum - außer bei der Felderrast -
und keinen Strauch hat, der Schatten bieten könnte. Und du weißt auch
nicht, wie lange du in der Hitze verweilest, wenn du dich in das
Herumsehen vertiefest oder wenn du Blumen pflückest und in dieser
Beschäftigung die Zeit nicht beachtest.«

»Ich habe mich in das Blumenpflücken nicht vertieft«, erwiderte
Natalie, »ich habe die Blumen nur so gelegentlich gelesen, wie sie mir
in meinem Dahingehen aufstießen. Die Sonne tut mir nicht so weh, liebe
Mutter, wie du meinst, ich empfinde mich in ihr sehr wohl und sehr
frei, ich werde nicht müde, und die Wärme des Körpers stärkt mich
eher, als daß sie mich drückt.«

»Du hast auch dein Hut an dem Arme getragen«, sagte die Mutter.

»Ja, das habe ich getan«, antwortete Natalie, »aber du weißt, daß ich
dichte Haare habe, auf dieselben legt sich die Sonnenwärme wohltätig,
wohltätiger als wenn ich den Hut auf dem Haupte trage, der so heiß
macht, und die freie Luft geht angenehm, wenn man das Haupt entblößt
hat, an der Stirne und an den Haaren dahin.«

Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jetzt,
warum sie mir immer so merkwürdig gewesen ist, ich erkannte es, seit
ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien
es, Natalie sehe einem der Angesichter ähnlich, welche ich auf
den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in ihren Zügen war das
Nehmliche, was in den Zügen auf den Angesichtern der geschnittenen
Steine ist. Die Stirne, die Nase, der Mund, die Augen, die Wangen
hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie,
das Hohe, das Einfache, das Zarte und doch das Kräftige, welches auf
einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen
eigentümlichen Willen und eine eigentümliche Seele. Ich blickte auf
Gustav, der noch immer neben dem Tische stand, ob ich auch an ihm
etwas Ähnliches entdecken könnte. Er war noch nicht so entwickelt, daß
sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen konnte, die Züge
waren noch zu rund und zu weich; aber es däuchte mir, daß er in
wenigen Jahren so aussehen würde, wie die Jünglingsangesichter unter
den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er dann Natalien noch
mehr gleichen würde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Züge
waren wieder in das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte
deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch sie ausgesehen haben,
wie die älteren Frauen auf den Steinen aussehen. Natalie stammte also
gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen war und das anders und
selbständiger war als das jetzige. Ich sah lange auf die Gestalt,
welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder
auf ihre Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik erschien,
wie der Vater mit einem altrömischen Beiworte von seinen Steinen
sagte, mochte zum Teile auch daher kommen - wenigstens gewann ihre
Erscheinung dadurch -, daß es mit einem richtig gebildeten Halse
aus einem ganz einfachen, schmucklosen Kleide hervor sah. Keine
überflüssige Zutat von Stoffen und keine Kette oder sonst ein Schmuck
umgab den Hals - dieses macht nur die bloß anmutigen Angesichter noch
anmutiger -, sondern das Kleid mit einer nicht auffallenden Farbe und
mit einem nicht auffallenden Schnitte schloß den reinen Hals und ging
an der übrigen Gestalt hernieder.

Die Mutter sah Natalien freundlich an, da sie sprach, und sagte dann:
»Der Jugend ist alles gut, der Jugend schlägt alles zum Gedeihen
aus, sie wird wohl auch empfinden, was ihr not tut, wie das Alter
empfindet, was es bedarf - Ruhe und Stille -, und unser Freund sagt ja
auch, man soll der Natur ihr Wort reden lassen; darum magst du gehen,
wie du fühlest, daß du es bedarfst, Natalie, du wirst kein Unrecht
begehen, wie du es ja nie tust, du wirst keine Maßregel außer Acht
lassen, die wir dir gesagt haben, und du wirst dich in deine Gedanken
nicht so vertiefen, daß du deinen Körper vergäßest.«

»Das werde ich nicht tun, Mutter«, entgegnete Natalie, »aber lasse
mich gehen, es ist ein Wunsch in mir, so zu verfahren. Ich werde ihn
mäßigen, wie ich kann; ich tue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich
nicht beunruhigest. Ich möchte auf dem Felderhügel herum gehen, dann
auch in dem Tale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen
und Alles darin beschauen und betrachten. Und die Ruhe schließt dann
so schön das Gemüt und den Willen ab.«

Daß Natalie doch durch das Wandeln in der heißen Sonne unmittelbar
vor der Mittagszeit sich erhitzt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe
behielt die Röte, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte,
und verlor sie nur in geringem Maße, während sie an dem Tische saß,
was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieses Rot wie ein
sanftes Licht auf ihren Wangen und verschönerte sie gleichsam wie ein
klarer Schimmer.

Sie fuhr in ihrem Geschäfte mit den Blumen fort, sie legte eine nach
der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere
Strauß der größere wurde, der größere aber sich immer verkleinerte.
Sie schied keine einzige Blume aus, sie warf nicht einmal einen
Grashalm weg, der sich eingefunden hatte; es erschien also, daß sie
weniger eine Auslese der Blumen machen, als dem alten Strauße eine
neue, schönere Gestalt geben wollte. So war es auch, denn der alte
Strauß war endlich verschwunden und der neue lag allein auf dem
Tische.

Mathilde hatte ihr Buch immer vor sich auf dem Tische liegen und sah
nicht wieder hinein. Sie frug mich um meinen letzten Aufenthalt und um
meine letzten Arbeiten. Ich setzte ihr beides auseinander.

Gustav hatte sich indessen auch auf einen Sessel, ganz nahe an mir,
gesetzt, und hörte aufmerksam zu.

Als die Sonne im Mittage angekommen war und nachgerade unsern ganzen
Tisch erfüllt hatte, erschien Arabella, um uns zum Mittagessen zu
rufen.

Ein Mann, der in dem Garten arbeitete, mußte den Blumentopf in das
Haus tragen. Mathilde nahm das Buch und ein Arbeitskörbchen, das neben
ihr auf dem Tische gestanden war, Natalie nahm ihren Blumenstrauß,
hing ihren Hut wieder an ihren Arm, und so gingen wir in das Haus. Die
Frauen wandelten vor uns, Gustav und ich gingen hinter ihnen.


Daß ich mich gegen meinen Gastfreund, gegen Eustach, gegen Gustav und
selbst gegen die Leute des Hauses verteidigen mußte, weil ich heuer so
spät gekommen sei, nahm mich nicht Wunder, da ich immer so freundlich
hier aufgenommen worden war, und da man sich beinahe daran gewöhnt
hatte, daß ich alle Sommer in das Rosenhaus komme, wie ja auch mir
diese Besuche zur Gewohnheit geworden waren.

Mein Gastfreund und ich sprachen von den Dingen, welche ich im Laufe
des heurigen Sommers unternommen hatte, so wie er mir auch in den
ersten Tagen alles zeigte, was in dem Rosenhause geschah und was sich
in meiner Abwesenheit verändert hatte.

Ich sah, daß die Zeit der Rosenblüte nicht so lange dauern werde,
weil ich ja auch nicht zu ihrem ersten Anfange, sondern etwas später
gekommen war.

Die Bilder gaben mir wieder eine süße Empfindung, und die hohe Gestalt
auf der Treppe trat mir immer näher, seit ich die geschnittenen Steine
gesehen hatte und seit ich wußte, daß etwas unter den Lebenden wandle,
das ähnlich sei. Ich ging mit Gustav oder allein öfter in der Gegend
herum.

Eines Nachmittages waren wir in dem Rosenzimmer. Mathilde sprach
recht freundlich von verschiedenen Gegenständen des Lebens, von den
Erscheinungen desselben, wie man sie aufnehmen müsse und wie sie in
dem Laufe der Jahre sich ablösen. Mein Gastfreund antwortete ihr. Bei
dieser Gelegenheit sah ich erst, wie zart und schön für das Zimmer
gesorgt worden war; denn die vier an Größe wie an Rahmen gleichen
Gemälde, die in demselben hingen, waren trotz ihrer Kleinheit bei
Weitem das Herrlichste und Außerordentlichste, was es an Gemälden im
Rosenhause gab. Ich hatte mein Urteil doch schon so weit gebildet, um
bei dem großen Unterschiede, der da waltete, das einsehen zu können.
Doch leitete ich auch meinen Gastfreund auf den Gegenstand, und er
gab meine Wahrnehmung, freilich in sehr bescheidenen Ausdrücken, weil
Mathilde zugegen war, zu. Wir besahen, nachdem das Gespräch eine
Wendung genommen hatte, die Bilder und machten uns auf das Zarte,
Liebliche und Hohe derselben aufmerksam.

Besuche, wie gewöhnlich zur Rosenzeit, kamen auch heuer; aber ich
mischte mich weniger als etwa in früheren Jahren unter die Leute.

Natalie ging wirklich, wie ich jetzt selber wahrnahm, in diesem Sommer
mehr als in vergangenen im Garten und in der Gegend herum, sie ging
viel weiter und ging auch öfter allein. Sie ging nicht bloß bei dem
großen Kirschbaume öfter in das Freie und ging dort zwischen den
Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu
der Straße, oder sie ging in den Meierhof oder längs der Hügel dahin,
oder sie ging ein Stück auf dem Wege nach dem Inghofe. Wenn sie
zurückgekehrt war, saß sie in ihrem Lehnstuhle und blickte auf das,
was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah.

Eines Tages, da ich selber einen weiten Weg gemacht hatte und gegen
Abend in das Rosenhaus zurück kehrte, sah ich, da ich von dem
Erlenbache hinauf eine kürzere Richtung eingeschlagen hatte, auf
bloßem Rasen zwischen den Feldern gegangen, auf der Höhe angekommen
war und nun gegen die Felderrast zuging, auf dem Bänklein, das unter
der Esche derselben steht, eine Gestalt sitzen. Ich kümmerte mich
nicht viel um sie und ging meines Weges, welcher gerade auf den Baum
zuführte, weiter. Ich konnte, wie nahe ich auch kam, die Gestalt nicht
erkennen; denn sie hatte nicht nur den Rücken gegen mich gekehrt,
sondern war auch durch den größten Teil des Baumstammes gedeckt. Ihr
Angesicht blickte nach Süden. Sie regte sich nicht und wendete sich
nicht. So kam ich fast dicht gegen sie heran. Sie mußte nun meinen
Tritt im Grase oder mein Anstreifen an das Getreide gehört haben; denn
sie erhob sich plötzlich, wendete sich um, damit sie mich sähe, und
ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander
entfernt. Das Bänklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt
etwas seitwärts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht - auch
nicht im Entferntesten - daran gedacht, daß Natalie auf dem Bänklein
sitzen könne, und sie mußte erschrocken sein, weil sie plötzlich
Schritte hinter sich gehört hatte, wo doch kein Weg ging, und weil
sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte.
Ich mußte annehmen, daß sie nicht gleich erkannt habe, daß ich es sei.

Ein Weilchen standen wir stumm gegenüber, dann sagte ich: »Seid
ihr es, Fräulein, ich hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem
Eschenbaume sitzend finden würde.«

»Ich war ermüdet«, antwortete sie, »und setzte mich auf die Bank, um
zu ruhen. Auch dürfte es wohl an der Zeit später geworden sein, als
man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen.«

»Wenn ihr ermüdet seid«, sagte ich, »so will ich nicht Ursache sein,
daß ihr steht, ich bitte, setzet euch, ich will, so schnell ich kann,
durch die Felder und den Garten eilen und euch Gustav herauf senden,
daß er euch nach Hause begleite.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte sie, »es ist ja noch nicht
Abend, und selbst wenn es Abend wäre, so droht wohl nirgends
ringsherum eine Gefahr. Ich bin schon viel weiter allein gegangen, ich
bin allein nach Hause zurückgekehrt, meine Mutter und unser Gastfreund
haben deshalb keine Besorgnisse gehabt. Heute bin ich bis auf dem
Raitbühel bei dem roten Kreuze gewesen und bin von dort zu der Bank
hieher zurück gegangen.«

»Das ist ja fast über eine Stunde Weges«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin«, antwortete sie, »ich
ging zwischen den Feldern hin, auf denen die ungeheure Menge des
Getreides steht, ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain
enthält, ich ging an manchem Baume vorbei, der in dem Getreide steht,
und kam zu dem roten Kreuze, das aus den Saaten empor ragt.«

»Wenn ich sehr gut gehe«, sagte ich, »so brauche ich von hier bis zu
dem roten Kreuze eine Stunde.«

»Ich habe, wie ich sagte, die Zeit nicht gezählt«, entgegnete sie,
»ich bin von hier zu dem Kreuze gegangen, und bin von dem Kreuze
wieder hieher zurück gekehrt.«

Während dieser Worte war ich aus der ungefügen Stellung im Grase
hinter dem Bänklein auf den freien Raum herüber getreten, der sich vor
dem Baume ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung gemacht und
sich wieder auf das Bänkchen gesetzt.

»Nach einem solchen Gange bedürft ihr freilich der Ruhe«, sprach ich.

»Es ist auch nicht gerade deswillen«, antwortete sie, »weshalb ich
diese Bank suchte. So ermüdet ich bin, so könnte ich wohl noch recht
gut den Weg durch die Felder und den Garten nach Hause, ja noch einen
viel weiteren machen; aber es gesellte sich zu dem körperlichen
Wunsche noch ein anderer.«

»Nun?«

»Auf diesem Platze ist es schön, das Auge kann sich ergehen, ich bin
bei meinen Gedanken, ich brauche diese Gedanken nicht zu unterbrechen,
was ich doch tun muß, wenn ich zu den Meinigen zurück kehre.«

»Und darum ruhet ihr hier?«

»Darum ruhe ich hier.«

»Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in den Feldern gegangen?«

»Ich erinnere mich des Wunsches nicht«, antwortete sie, »wie es denn
überhaupt einige Zeitabschnitte in meiner Kindheit gibt, an welche
ich mich nicht genau erinnern kann, und da der Wunsch in meinem
Gedächtnisse nicht gegenwärtig ist, so wird auch die Tatsache nicht
gewesen sein, obwohl es wahr ist, daß ich als Kind lebhafte Bewegungen
sehr geliebt habe.«

»Und jetzt führt euch eure Neigung öfter in das Freie?« fragte ich.

»Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin«, antwortete sie, »ich
gehe zwischen den Feldern und den wallenden Saaten, ich steige auf die
sanften Hügel empor, ich wandere an den blätterreichen Bäumen vorüber
und gehe so fort, bis mich eine fremde Gegend ansieht, der Himmel über
derselben gleichsam ein anderer ist und andere Wolken hegt. Im Gehen
sinne und denke ich dann. Der Himmel, die Wolken darin, das Getreide,
die Bäume, die Gesträuche, das Gras, die Blumen stören mich nicht.
Wenn ich recht ermüdet bin und auf einem Bänklein wie hier oder auf
einem Sessel in unserem Garten oder selbst auf einem Sitze in unserem
Zimmer ausruhen kann, so denke ich, ich werde nun nicht wieder so weit
gehen. - Und wo seid denn ihr gewesen?« fragte sie, nachdem sie sich
unterbrochen und ein Weilchen geschwiegen hatte.

»Ich bin nach dem Essen von dem Erlenbache zu dem Teiche hinauf
gegangen«, antwortete ich, »dann durch das Gehölze auf den Balkhügel
empor, von dem man die Gegend von Landegg sieht und den Turm seiner
Pfarrkirche erblicken kann. Von dem Balkhügel bin ich dann noch auf
den Höhen fortgegangen, bis ich zu den Rohrhäusern gekommen bin. Da
ich dort schon zwei starke Wegstunden von dem Asperhofe entfernt
war, schlug ich den Rückweg ein. Ich hatte im Hingehen viele Zeit
verbraucht, weil ich häufig stehen geblieben war und verschiedene
Dinge angesehen hatte, deshalb wählte ich nun einen kürzeren Rückgang.
Ich ging auf Feldpfaden und mannigfaltigen Kirchenwegen durch die
Felder, bis ich zwischen Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und
zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren mir Raine bekannt, die
am kürzesten auf die Felderrast herüber führten. Obwohl auf ihnen kein
Weg führt, ging ich doch auf ihrem Grase fort und kam so gegen euch
herzu.«

»Da müßt ihr ja recht müde sein«, sagte sie und machte eine Bewegung
auf dem Bänklein, um mir Platz neben sich zu verschaffen.

Ich wußte nicht recht, wie ich tun sollte, setzte mich aber doch an
ihrer Seite nieder.

»Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu
lesen«, fragte ich, »oder habt ihr nicht Blumen gepflückt?«

»Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflückt«,
antwortete sie, »ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch
nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem
Steine sitze.«

Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Körbchen
oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen,
um Gegenstände hinein legen zu können; sie saß müßig auf dem Bänklein,
und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr
in dem Grase.

»Die Blumen pflücke ich«, fuhr sie nach einem Weilchen fort, »wenn sie
bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn,
der aber wenig zu Sträußen paßt, weil er gerne die Blätter fallen
läßt, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere.
Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir
stehen.«

Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein unter der Esche der
Felderrast sitze. Ihre Fußspitzen ragten in den Staub der vor uns
befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider
berührte denselben Staub. In der Krone der Esche rührte sich kein
Blättchen; denn die Luft war still. Weit vor uns hinabgehend und weit
zu unserer Rechten und Linken hin sowie rückwärts war das grüne, der
Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume desselben, der uns am
nächsten war, sahen uns der rote Mohn und die blauen Kornblumen an.
Die Sonne ging dem Untergange zu und der Himmel glänzte an der Stelle,
gegen die sie ging, fast weißglühend über die Saatfelder herüber,
keine Wolke war und das Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten
an dem südlichen Himmel.

»Und habt ihr bei dem roten Kreuze auch ein wenig geruht?« fragte ich
nach einer Weile.

»Bei dem roten Kreuze habe ich nicht geruht«, antwortete sie,
»man kann dort nicht ruhen, es steht fast unter lauter Halmen des
Getreides, ich lehnte mich mit einem Arme an seinen Stamm und sah
auf die Gegend hinaus, auf die Felder, auf die Obstbäume und auf die
Häuser der Menschen, dann wendete ich mich wieder um und schlug den
Rückweg zu diesem Bänklein ein.«

»Wenn heiterer Himmel ist und die Sonne scheint, dann ist es in der
Weite schön«, sagte ich.

»Es ist wohl schön«, erwiderte sie, »die Berge gehen wie eine Kette
mit silbernen Spitzen dahin, die Wälder sind ausgebreitet, die Felder
tragen den Segen für die Menschen, und unter all den Dingen liegt das
Haus, in welchem die Mutter und der Bruder und der väterliche Freund
sind; aber ich gehe auch an bewölkten Tagen auf den Hügel oder an
solchen, an denen man nichts deutlich sehen kann. Als Bestes bringt
der Gang, daß man allein ist, ganz allein, sich selber hingegeben. Tut
ihr bei euren Wanderungen nicht auch so, und wie erscheint denn euch
die Welt, die ihr zu erforschen trachtet?«

»Es war zu verschiedenen Zeiten verschieden«, antwortete ich; »einmal
war die Welt so klar als schön, ich suchte Manches zu erkennen,
zeichnete Manches und schrieb mir Manches auf. Dann wurden alle Dinge
schwieriger, die wissenschaftlichen Aufgaben waren nicht so leicht zu
lösen, sie verwickelten sich und wiesen immer wieder auf neue Fragen
ein. Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als sei die Wissenschaft
nicht mehr das Letzte, es liege nichts daran, ob man ein Einzelnes
wisse oder nicht, die Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit,
die man auf ein Mal fassen soll, nicht zerstückt, ich bewunderte sie,
ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen und sehnte mich nach
etwas Unbekanntem und Großem, das da sein müsse.«


Sie sagte nach diesen Worten eine Zeit hindurch nichts; dann aber
fragte sie: »Und ihr werdet in diesem Sommer noch einmal in euren
Aufenthaltsort zurück kehren, den ihr euch jetzt zu eurer Arbeit
auserkoren habt?«

»Ich werde in denselben zurück kehren«, antwortete ich.

»Und den Winter bringt ihr bei euren lieben Angehörigen zu?« fragte
sie weiter.

»Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hause meiner Eltern
verleben«, sagte ich.

»Und seid ihr in dem Winter im Sternenhofe?« fragte ich nach einiger
Zeit.

»Wir haben ihn früher zuweilen in der Stadt zugebracht«, antwortete
sie, »jetzt sind wir schon einige Male in dem Sternenhofe geblieben,
und zwei Mal haben wir eine Reise gemacht.«

»Habt ihr außer Klotilden keine andere Schwester?« fragte sie, nachdem
wir wieder ein Weilchen geschwiegen hatten.

»Ich habe keine andere«, erwiderte ich, »wir sind nur zwei Kinder, und
das Glück, einen Bruder zu besitzen, habe ich gar nie kennen gelernt.«

»Und mir ist wieder das Glück, eine Schwester zu haben, nie zu Teil
geworden«, antwortete sie.

Die Sonne war schon untergegangen, die Dämmerung trat ein, und wir
waren immer sitzen geblieben. Endlich stand sie auf und langte nach
ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte
ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an.
Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber
so leicht, daß ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf
den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen ein, das in der Nähe des
Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der
Felderrast zwischen dem Getreide abwärts läuft, gegen den Meierhof
hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fühlte ich sich
neben mir regen, ihren Tritt fühlte ich im Gehen. Ein Wässerlein,
das unter Tags nicht zu vernehmen war, hörte man rauschen, und der
Abendhimmel, der immer goldener wurde, flammte über uns und über den
Hügeln der Getreide und um manchen Baum, der beinahe schwarz da stand.
Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von demselben gingen wir über die
Wiese, die zu dem Hause meines Gastfreundes führt, und schlugen den
Pfad zu dem Gartenpförtchen ein, das in jener Richtung in der Gegend
der Bienenhütte angebracht ist. Wir gingen durch das Pförtchen in den
Garten, gingen an der Bienenhütte hin, gingen zwischen Blumen, die da
standen, zwischen Gesträuch, das den Weg säumte, und endlich unter
Bäumen dahin und kamen in das Haus. Wir gingen in den Speisesaal, in
welchem die Andern schon versammelt waren. Natalie zog hier ihren Arm
aus dem meinigen. Man fragte uns nicht, woher wir gekommen wären und
wie wir uns getroffen hätten. Man ging bald zu dem Abendessen, da die
Zeit desselben schon heran gekommen war.

Während des Essens sprachen Natalie und ich fast nichts.

Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten und als jedes in sein
Zimmer gegangen war, löschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich
aus, setzte mich in einen der gepolsterten Lehnstühle und sah auf
die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die
Fußböden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spät schlafen, las aber
nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb
auf meinem Lager liegen und konnte sehr lange den Schlummer nicht
finden.

In den Tagen, die auf jenen Abend folgten, schien es mir, als weiche
mir Natalie aus. Die Zithern hörte ich wieder in ein paar Nächten, sie
wurden sehr gut gespielt, was ich jetzt mehr empfinden und beurteilen
konnte als früher. Ich sprach aber nichts darüber, und noch weniger
sagte ich etwas davon, daß ich selber in diesem Spiele nicht mehr
so unerfahren sei. Meine Zither hatte ich nie in das Rosenhaus
mitgenommen.

Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den Sternenhof gehen sollte.
Mathilde und Natalie reisten in Begleitung ihrer Dienerin früher
dahin, um Vorkehrungen zu treffen und die Gäste zu empfangen. Wir
sollten später folgen.

In der Zeit zwischen der Abreise Mathildens und der unsrigen tat mein
Gastfreund eine Bitte an mich. Sie bestand darin, daß ich ihm in dem
kommenden Winter eine genaue Zeichnung von den Vertäflungen anfertigen
möchte, welche ich meinem Vater aus dem Lauterthale gebracht hatte
und welche von ihm in die Pfeiler des Glashäuschens eingesetzt
worden waren. Die Zeichnung möchte ich ihm dann im nächsten Sommer
mitbringen. Ich fühlte mich sehr vergnügt darüber, daß ich dem Manne,
zu welchem mich eine solche Neigung zog und dem ich so viel verdankte,
einen Dienst erweisen konnte und versprach, daß ich die Zeichnung so
genau und so gut machen werde, als es meine Kräfte gestatten.

An einem der folgenden Tage fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland,
Gustav und ich in den Sternenhof ab.



Das Fest

Ein Fest in dem Sinne, wie man das Wort gewöhnlich nimmt, war es
nicht, was in dem Sternenhofe vorkommen sollte, sondern es waren
mehrere Menschen zu einem gemeinschaftlichen Besuche eingeladen
worden, und diese Einladungen hatte man auch nicht eigens und
feierlich, sondern nur gelegentlich gemacht. Übrigens stand es in
Hinsicht des Sternenhofes so wie des Asperhofes jedem Freunde und
jedem Bekannten frei, zu was immer für einer Zeit einen Besuch machen
und eine Weile zu bleiben.

Als wir am zweiten Tage nach unserer Abreise von dem Asperhofe - wir
hatten einen kleinen Umweg gemacht - in dem Sternenhofe eintrafen,
waren schon mehrere Menschen versammelt. Fremde Diener, zuweilen
seltsam gekleidet, gingen, wie sich das allemal findet, wenn mehrere
Familien zusammen kommen, in der Nähe des Schlosses herum oder auf dem
Wege zwischen dem Meierhofe und dem Schlosse hin und her. Man hatte
einen Teil der Wägen und Pferde in dem Meierhofe untergebracht. Wir
fuhren bei dem Tore hinein, und unser Wagen hielt im Hofe. Ich hatte
schon, da wir den Hügel hinan fuhren und uns dem Schlosse näherten,
einen Blick auf dessen vorderste Mauer geworfen, an der jetzt die
bloßen Steine ohne Tünche sichtbar waren, und hatte mein Urteil
schnell gefaßt. Mir gefiel die neue Gestalt um Außerordentliches
besser als die frühere, an welche ich jetzt kaum zurück denken mochte.
Meine Begleiter äußerten sich während des Hinzufahrens nicht, ich
sagte natürlich auch nichts. Im Hofe näherten sich Diener, welche
unser Gepäcke in Empfang nehmen und Wagen und Pferde unterbringen
sollten. Der Hausverwalter führte uns die große Treppe hinan und
geleitete uns in das Gesellschaftszimmer. Dasselbe war eines von jenen
Zimmern, die in einer Reihe fortlaufen und mit den neuen, im Asperhofe
verfertigten Geräten versehen sind. Die Türen aller dieser Zimmer
standen offen. Mathilde saß an einem Tische und eine ältliche Frau
neben ihr. Mehrere andere Frauen und Mädchen so wie ältere und jüngere
Männer saßen an verschiedenen Stellen umher. Auf dem unscheinbarsten
Platze saß Natalie. Mathilde so wie Natalie waren gekleidet, wie
die Frauen und Mädchen von den besseren Ständen gekleidet zu sein
pflegten; aber ich konnte doch nicht umhin, zu bemerken, daß ihre
Kleider weit einfacher gemacht und verziert waren als die der anderen
Frauen, daß sie aber viel besser zusammen stimmten und ein edleres
Gepräge trugen, als man dies sonst findet. Mir war, als sähe ich den
Geist meines Gastfreundes daraus hervorblicken, und wenn ich an höhere
Kreise unserer Stadt, zu denen ich Zutritt hatte, dachte, so schien es
mir auch, daß gerade dieser Anzug derjenige vornehme sei, nach welchem
die Andern strebten. Mathilde stand auf und verbeugte sich freundlich
gegen uns. Das taten die Andern auch, und wir taten es gegen Mathilde
und gegen die Andern. Hierauf setzte man sich wieder, und der
Hausverwalter und zwei Diener sorgten, daß wir Sitze bekamen. Ich
setzte mich an eine Stelle, welche sehr wenig auffällig war. Die Sitte
des gegenseitigen Vorstellens der Personen, wie sie fast überall
vorkömmt, scheint in dem Rosenhause und in dem Sternenhofe nicht
strenge gebräuchlich sein; denn ich wußte schon mehrere Fälle, in
denen es unterblieben war; besonders wenn sich mehrere Menschen
zusammen gefunden hatten. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit unterblieb
es auch. Man überließ es eher den Bemühungen des Einzelnen, sich die
Kenntnis über eine Person zu verschaffen, an der ihm gelegen war, oder
man überließ es eher dem Zufalle, miteinander bekannt zu werden, als
daß man bei jedem neuen Ankömmlinge das Verzeichnis der Anwesenden
gegen ihn wiederholt hätte. Zudem schienen sich hier die meisten
Personen zu kennen. Mich wollte man wahrscheinlich aus dem Spiele
lassen, weil ich nie, wenn fremde Menschen in den Asperhof gekommen
waren, gefragt hatte, wer sie seien. Gustav benahm sich hier auch
beinahe wie ein Fremder. Nachdem er sich gegen seine Mutter sehr artig
verbeugt, in die allgemeine Verbeugung gegen die Andern eingestimmt
und Natalien zugelächelt hatte, setzte er sich bescheiden auf einen
abgelegenen Platz und hörte aufmerksam zu. Mein Gastfreund und Eustach
so wie auch Roland waren in den gebräuchlichen Besuchkleidern, ich
ebenfalls. Mir kamen diese Männer in ihren schwarzen Kleidern fremder
und fast geringer vor als in ihrem gewöhnlichen Hausanzuge.

Mein Gastfreund war bald mit verschiedenen Anwesenden im Gespräche.
Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen Dingen geredet, und
das Gespräch ging bald zwischen einzelnen, bald zwischen mehreren
Personen hin und wider. Ich sprach wenig und fast ausschließlich nur,
wenn ich angeredet und gefragt wurde. Ich sah auf die Versammlung vor
mir oder auf manchen Einzelnen oder auf Natalien. Roland rückte einmal
seinen Stuhl zu mir und knüpfte ein Gespräch über Dinge an, die uns
beiden nahe lagen. Wahrscheinlich tat er es, weil er sich ebenso
vereinsamt unter den Menschen empfand wie ich.

Nachdem man den Nachmittagstee, bei dem man eigentlich versammelt war,
verzehrt und sich schon zum größten Teile erhoben hatte und in Gruppen
zusammen getreten war, wurde der Vorschlag gemacht, sich in den Garten
zu begeben und dort einen Spaziergang zu machen. Der Vorschlag fand
Beifall. Mathilde erhob sich und mit ihr die älteren Frauen. Die
jüngeren waren ohnehin schon gestanden. Ein schöner alter Herr,
wahrscheinlich der Gatte der ältlichen Frau, welche neben Mathilden
gesessen war, bot der Hausfrau den Arm, um sie über die Treppe hinab
zu geleiten, dasselbe tat mein Gastfreund mit der ältlichen Frau.
Einige Paare entstanden noch auf diese Weise, das Andere ging
gemischt. Ich blieb stehen und ließ die Leute an mir vorüber gehen, um
mich nicht vorzudrängen. Natalie ging mit einem schönen Mädchen an mir
vorüber und sprach mit demselben, als sie an mir vorbei ging. Ich war,
mit Roland und Gustav, der letzte, welcher über die Treppe hinab ging.
Im Garten war es so, wie es bei einer größeren Anzahl von Gästen
in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt. Man bewegte sich langsam
vorwärts, man blieb bald hier, bald da stehen, betrachtete dieses oder
jenes, besprach sich, ging wieder weiter, löste sich in Teile und
vereinigte sich wieder. Ich achtete auf alles, was gesprochen wurde,
gar nicht. Natalie sah ich mit demselben Mädchen gehen, mit dem sie an
mir in dem Gesellschaftszimmer vorüber gegangen war, dann gesellten
sich noch ein paar hinzu. Ich sah sie mit ihrem lichtbraunen
Seidenkleide zwischen andere hervorschimmern, dann sah ich sie wieder
nicht, dann sah ich sie abermals wieder. Gebüsche deckten sie dann
ganz. Die jungen Männer, welche ich in der Gesellschaft getroffen
hatte, gingen bald mit dem älteren Teile, bald mit dem jüngeren.
Roland und Gustav gesellten sich zu mir, und wenn Gustav fragte, wie
es dort aussehe, wo ich jetzt gearbeitet habe, ob hohe Berge sind,
weite Täler, und ob es so freundlich ist wie am Lautersee, und ob ich
noch weiter vordringen wolle, und in welche Berge ich dann komme: so
sprach Roland wieder von den Anwesenden und nannte mir manchen und
erzählte mir von ihren Verhältnissen. Durch seine Reisen in dem Lande,
durch seinen Aufenthalt in Kirchen, Kapellen, verfallenen Schlössern
und allen bedeutenderen Orten erfuhr er mehr, als irgend ein Anderer
erfahren konnte, und durch sein lebhaftes Wesen und sein gutes
Gedächtnis wurde er zur Erforschung angeleitet und war im Stande, das
Erforschte zu bewahren. Die ältliche Frau, welche wir bei unserem
Eintritte in das Gesellschaftszimmer neben Mathilden sitzen gesehen
hatten, war die Besitzerin eines großen Anwesens, etwa eine halbe
Tagereise von dem Sternenhofe entfernt. Ihr Name war Tillburg, wie
auch ihr Schloß hieß. Sie hatte sich mit allen Annehmlichkeiten und
mit allem, was prächtig war, umringt. Ihre Gewächshäuser waren die
schönsten im Lande, ihr Garten enthielt alles, was in der Zeit
als vorzüglich auftauchte und wurde von zwei Gärtnern und einem
Obergärtner nebst vielen Gehilfen besorgt, ihre Zimmer wiesen Geräte
und Stoffe von allen Hauptstädten der Welt auf, und ihre Wägen waren
das Bequemste und Zierlichste, was man in dieser Art hatte. Gemälde,
Bücher, Zeitschriften, kleine Spielereien waren in ihren Wohnzimmern
zerstreut. Sie machte Besuche in der Umgegend und empfing auch solche
gerne. Im Winter ist sie selten in ihrem Schlosse und immer nur auf
kurze Zeit, sie macht gerne Reisen und hält sich besonders oft in
südlichen Gegenden auf, von denen sie Merkwürdigkeiten zurückbringt.
Sie war die einzige Tochter und Erbin ihrer Eltern, ein Bruder, den
sie hatte, war in der zartesten Jugend gestorben. Der Mann mit dem
freundlichen Angesichte, welcher Mathilden aus dem Saale geführt
hatte, war ihr Gatte. Er war ebenfalls das einzige Kind reicher
Eltern, die Verbindung hatte sich ergeben, und so waren zwei große
Vermögen in eins zusammen gekommen. Er teilte nicht gerade die
Liebhabereien seiner Gattin, war ihnen aber auch nicht entgegen. Er
hatte keine Leidenschaften, war einfach, machte seiner Gattin, die er
sehr liebte, gerne eine Freude und fand in den Reisen derselben, auf
denen er sie begleitete, halb sein eigenes Vergnügen, halb eines, weil
er das ihrige teilte. Er verwaltete aber von jeher die Besitzungen
sehr einsichtig. Die Tillburg stammt von ihm. Einer von den jungen
Männern, die im Gesellschaftszimmer waren, der schlanke Mann mit den
lebhaften dunkeln Augen ist der Sohn, und zwar das einzige Kind dieser
Eheleute, er ist gut erzogen worden, und man kann nicht wissen, ob von
Tillburg her nicht zartere Beziehungen zu dem Sternenhofe gewünscht
werden.

Gustav machte bei diesen Worten eine leichte Seitenbewegung gegen
Roland, sah ihn an, sagte aber nichts.

Ich erinnerte mich der Tillburg, die ich sehr gut kannte, aber nie
betreten hatte. Ich war öfter in ihrer Nähe vorüber gekommen und hatte
die vier runden Türme an ihren vier Ecken, denen man in der neueren
Zeit eine lichte Farbe gegeben hatte, eine Tünche, wie man sie gerade
jetzt von dem Sternenhofe wieder weg haben will, nicht angenehm
empfunden, wie sie sich so scharf von dem Grün der nahen Bäume und dem
Blau der fernen Berge und des Himmels abhoben, welchen letzteren sie
beinahe finster machten.

»Der kleinere Mann mit den weißen Haaren, der in der Nähe des
mittleren Fensters gesessen und öfter aufgestanden war«, fuhr Roland
fort, »ist der Besitzer von Haßberg. Sein Vater hatte die Besitzung
erst gekauft und sie ursprünglich für einen jüngeren Sohn bestimmt, da
der ältere das Stammgut Weißbach erben sollte; allein der jüngere Sohn
und der Vater starben, und so hatte der ältere Weißbach und Haßberg.
Er übergab nach einiger Zeit seinem Sohne das Stammgut und zog sich
nach Haßberg zurück. Er ist einer jener Männer, die immer erfinden und
bauen müssen. In Weißbach hat er schon mehrere Bauten aufgeführt.

In Haßberg richtete er eine Musterwirtschaft ein, er verbesserte
die Felder und Wiesen und friedigte sie mit schönen Hecken ein, er
errichtete einen auserlesenen Viehstand und führte in geschützten
Lagen den Hopfenbau ein, der sich unter seine Nachbarn verbreitete
und eine Quelle des Wohlstandes eröffnete. Er dämmte dem Ritflusse
Wiesen ab, er mauerte die Ufer des Mühlbaches heraus, er baute eine
Flachsröstanstalt, baute neue Ställe, Scheuern. Trockenhäuser,
Brücken, Stege, Gartenhäuser, und ändert im Innern des Schlosses
beständig um. Er ist im Laufe des ganzen Tages mit Nachschauen und
Anordnen beschäftigt, zeichnet und entwirft in der Nacht, und wenn
irgendwo im Lande über Führung einer Straße oder Anlegung eines
Bewirtschaftungsplanes oder Errichtung eines Gebäudes Rat gepflogen
wird, so wird er gerufen, und er macht bereitwillig die Reisen auf
seine eigenen Kosten. Selbst bei der Regierung des Landes ist sein
Wort nicht ohne Bedeutung. Die Frau mit dem aschgrauen Kleide ist
seine Gattin, und die zwei Mädchen, welche vor Kurzem mit Natalie
gegen die Eichen zugingen, sind seine Töchter. Frau und Töchter reden
ihm zu, er solle sich mehr Ruhe gönnen, da er schon alt wird, er sagt
immer: >Das ist das Letzte, was ich baue<; allein ich glaube, den
letzten Plan zu einem Baue wird er auf seinem Totenbette machen. Unser
Freund hält in diesen Dingen große Stücke auf ihn.«

Da wir um die Ecke eines Gebüsches bogen und gegen die Eichen,
welche an der Eppichwand stehen, zugingen, sahen wir wieder eine
Menschengruppe vor uns. Roland, der einmal im Zuge war, sagte: »Der
Mann in dem feinen schwarzen Anzuge, vor dem seine Gattin in dem
nelkenbraunen Seidenkleide geht, ist der Freiherr von Wachten, dessen
Sohn hier ebenfalls zugegen ist, ein Mann von mittelgroßer Gestalt,
der im Gesellschaftszimmer so lange am Eckfenster gestanden war, ein
junger Mann von vielen angenehmen Eigenschaften, der aber zu oft in
den Sternenhof kömmt, als daß es sich durch bloßen Zufall erklären
ließe.

Der Freiherr verwaltet seine Besitzungen gut, er hat keine besondere
Vorliebe, hält alles und jedes in der ihm zugehörigen Ordnung und wird
immer reicher. Da er nur den einzigen Sohn und keine Tochter hat, so
wird die künftige Gattin seines Sohnes eine sehr ansehnliche und sehr
reiche Frau. Die Familie lebt im Winter häufig in der Stadt. Die Güter
liegen etwas zerstreut. Thondorf mit den schönen Wiesen und dem großen
Waldgarten müßt ihr ja kennen.«

»Ich kenne es«, antwortete ich.

»Auf dem Randek hat er ein zerfallendes Schloß«, fuhr Roland fort,
»in welchem wunderschöne Türen sind, die aus dem sechzehnten
Jahrhunderte stammen dürften. Der Verwalter rät ihm, die Türen nicht
herzugeben, und so zerfallen sie nach und nach. Sie sind in unsern
Zeichnungsbüchern enthalten und würden Gemächer, im Stile jener Zeit
gebaut und eingerichtet, sehr zieren. Sogar zu Tischen oder anderen
Dingen, falls man sie als Türen nicht verwenden könnte, würden sie
sehr brauchbar sein. Ich habe auch in der sehr zerfallenen Kapelle von
Randek außerordentlich schöne Tragsteine gezeichnet. Meistens wohnt
der Freiherr im Sommer in Wahlstein, schon ziemlich tief in den
Bergen, wo die Elm hervorströmt.«

»Ich kenne den Sitz«, antwortete ich, »und kenne auch die Familie im
Allgemeinen.«

»Der Mann mit den schneeweißen Haaren«, sprach Roland weiter, »heißt
Sandung, er veredelt die Schafzucht, und der eine von den zwei neben
ihm gehenden Männern ist der Besitzer des sogenannten Berghofes, ein
allgemein geachteter Mann, und der andere ist der Oberamtmann von
Landegg. Es fehlen noch die vom Inghof, dann sind mehrere Vertreter
der hier herum wohnenden Leute vorhanden. Ich teile sie, wenn ich in
meiner Liebhaberei im Lande herum reise, nach ihren Liebhabereien
in Gruppen ein, und man könnte eine Landmappe so nach diesen
Liebhabereien mit Farben zeichnen, wie ihr die Gebirge mit Farben
zeichnet, um das Vorkommen der verschiedenen Gesteine anzuzeigen.«

Da wir wieder eine Wendung machten, ganz nahe an der rechten Seite
der Eppichwand, ging Mathilde mit der Frau von Tillburg auf einem
Nebenwege gegen uns hervor. Sie blieb vor uns stehen und sagte zu mir:
»Ihr habt meiner Brunnennymphe nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
als ihr solltet; ihr zieht die Gestalt auf der Treppe unsers Freundes
zu sehr vor. Sie verdient es wohl; allein ihr müßt doch die hiesige
auch ein wenig genauer ansehen und sie mir ein wenig schön heißen.«

»Ich habe sie schön geheißen«, erwiderte ich, »und wenn meine ganz
unbedeutende Meinung etwas gilt, so soll ihr die Anerkennung gewiß
nicht entgehen.«

»Wir besuchen nun ohnehin alle die Grotte«, entgegnete sie.

Nach diesen Worten ging sie mit ihrer Begleiterin auf dem Hauptwege
gegen die Eppichwand vor, wir folgten. Die Anderen kamen in
verschiedenen Richtungen herzu, und man ging zu der Marmorgestalt in
der Brunnenhalle.

Einige gingen hinein, Andere blieben mehr am Eingange stehen, und man
redete über die Gestalt. Diese ruhte indessen in ihrer Lage, und die
Quelle rann sanft und stetig fort. Es waren nur allgemeine Dinge,
welche über das Bildwerk gesprochen wurden. Mir kam es fremd vor, die
geputzten Menschen in den verschiedenfarbigen Kleidern vor dem reinen,
weißen, weichen Marmor stehen zu sehen. Roland und ich sprachen
nichts.

Man entfernte sich wieder von dem Marmor, ging langsam an der
Eppichwand hin und stieg die Stufen zu der Aussicht empor. Auf dieser
verteilte man eine Zeit und ging dann gegen die Linden zurück. Nach
Betrachtung der Linden und des schönen Platzes unter ihnen begab
sich der Zug wieder auf den Rückweg in das Schloß. Eustach hatte ich
beinahe die ganze Zeit nicht gesehen.

Zugleich mit uns kamen im Schlosse Wägen an, in denen die von Ingheim
und noch einige Gäste saßen. Nachdem man sich bewillkommt hatte und
nachdem die Angekommenen sich von den überflüssigen Reisekleidern
befreit hatten, teilte sich, wie es bei ähnlichen Gelegenheiten stets
vorkömmt, die Gesellschaft in Gruppen, von denen einige vor dem Hause
standen und plauderten, andere auf den Sandwegen im Rasen herumgingen,
wieder andere gegen den Meierhof wandelten. Als die Abendröte hinter
den Bäumen erschien, die in schönen Zeilen im Westen des Schlosses die
Felder säumten, und als ihr Glühen immer blässer wurde und dem Gelb
des Spätabends Platz machte, sammelten sich die Leute wieder. Die
einen kehrten von ihrem Spaziergange, die anderen von ihrem Gespräche,
die dritten von ihrer Betrachtung verschiedener Gegenstände zurück,
und man begab sich in das Speisezimmer. In demselben begann nun
ein Abend, wie sie auf dem Lande, wo man von dem Umgange mit
Seinesgleichen viel ausgeschlossener ist, zu den vergnügtesten
gehören. Ich habe diese Betrachtung, da ich im Sommer immer ferne von
der Stadt war, öfter machen können. Da man Menschen, mit denen man
gleiche Gesinnungen und gleiche Meinungen hat, auf dem Lande viel
seltener sieht als in der Stadt, da man mit dem Raume nicht so kargen
muß wie in der Stadt, wo jede Familie nur das mit vielen Kosten
erschwingt, was sie für sich und nächste Angehörige braucht, da die
Lebensmittel auf dem Lande gewöhnlich aus der ersten und unmittelbaren
Quelle bei der Hand sind, auch strenge Anforderungen hierin nicht
gemacht werden: so ist man auf dem Lande viel gastfreundlicher als in
der Stadt, und Gelegenheiten, wo man sich in einem Zimmer und um einen
Tisch versammelt, werden da viel fröhlicher, ungezwungener und auch
herzliches begangen, weil man sich freut, sich wieder zu sehen, weil
man um alles fragen will, was sich an den verschiedenen Stellen, woher
die Ankömmlinge gekommen sind, zugetragen hat, weil man die eigenen
Erlebnisse mitteilen und weil man seine Ansichten austauschen will.

Der Tisch war schon gedeckt, der Hausverwalter wies allen ihre Plätze
an, die zur Vermeidung von dennoch möglichen Verwirrungen noch
überdies durch von seiner Hand geschriebene Zettel bezeichnet waren,
und man setzte sich. Der Mann hatte gesorgt, daß solche, die sich gut
kannten, nahe zusammen kamen.

Deßohngeachtet schritt man mit der Freimütigkeit des Landes und alter
Bekannter dazu, die Zettel noch zu verwechseln und sich gegen die
Anordnungen des Mannes zusammen zu setzen. Von der Decke des Zimmers
hing eine sanft brennende Lampe hernieder, und außer ihr wurde die
Tafel noch durch verteilte strahlende Kerzen erhellt. Mathilde nahm
den Mittelsitz ein und richtete ihre Freundlichkeit und ihr ruhiges
Wesen gegen alle, die in ihrem Bereiche waren, und selbst gegen die
entferntesten Plätze suchte sie ihre Aufmerksamkeit zu erstrecken.
Die bekannteren und älteren Gäste saßen ihr zunächst, die jüngeren
entfernter. Julie, die Tochter Ingheims mit den heiteren braunen
Augen, saß mir fast gegenüber, ihre Schwester, die blauäugige
Apollonia, etwas weiter unten. Sie hatten sehr geschmackvolle Kleider
an, das Geschmeide, das sie trugen, hätte, wie ich meinte, etwas
weniger sein sollen. Neben beiden saßen die jungen Männer Tillburg und
Wachten. Natalie saß zwischen Eustach und Roland. Ob es so angeordnet,
ob es ihre eigene Wahl war, wußte ich nicht. Man trug ein einfaches
Mahl auf, und fröhliche Gespräche belebten es. Man sprach von den
Begebnissen der Gegend, man neckte sich mit kleinen Erlebnissen, man
teilte sich Erfahrungen mit, die man in seinem Kreise gemacht hatte,
man sprach von Büchern, die in der Gegend neu waren, und beurteilte
sie, man erzählte, was man im Bereiche seiner Liebhaberei Neues
erworben, was man für Reisen gemacht und was man für fernere vorhabe.
Auch auf die Geschichte des Landes kam es, auf seine Verwaltung,
auf Verbesserungen, die zu machen wären, und auf Schätze, die
noch ungehoben liegen. Selbst Wissenschaft und Kunst war nicht
ausgeschlossen. Mancher Scherz erheiterte die Anwesenden, und man
schien sehr vergnügt, sich so in einen Kreis versammelt zu haben, wo
sich Neues ergab und wo man Altes wieder beleben konnte.

Nach ein paar schnell vergangenen Stunden stand man auf, die Lichter
zu dem Gange in die verschiedenen Schlafgemächer wurden angezündet,
und man begab sich allmählich zur Ruhe.


Am andern Morgen nach dem Frühmahle, da die höher gestiegene Sonne die
Gräser bereits getrocknet hatte, begab man sich in das Freie, um das
Urteil über die Arbeiten an der Vorderseite des Hauses zu fällen. Alle
gingen mit. Selbst Dienerschaft stand seitwärts in der Nähe, als ob
sie wüßte, was geschehe - und sie wußte es wohl auch - und als ob sie
sich dabei beteiligen sollte. Man ging einige hundert Schritte von
der Vorderseite des Hauses weg, wendete sich dann um, blieb im Grase
stehen und betrachtete die von der Tünche befreite Wand. Hierauf
umging man in einem weiten Bogen eine Ecke des Hauses, um auch eine
Wand zu sehen, auf welcher sich noch die Tünche befand. Nachdem man
Beides wohl angeschaut hatte, nahm man einen Stand ein, der beide
Ansichten gestattete.

Nach und nach wurden Meinungen laut. Man fragte zuerst die älteren und
ansehnlicheren Gäste. Diese gaben fast alle ihr Urteil unbestimmt und
mit Vorsicht ab. Beide Einrichtungen hätten ihr Gutes, an beiden wird
etwas auszustellen sein, und es komme auf Geschmack und Vorliebe an.
Da das Gespräch allgemeiner wurde, traten schon manche Meinungen
abgeschlossener hervor. Einige sagten, es sei etwas Besonderes und
nicht überall Vorkommendes, die nackten Steine aus einer Wand stehen
zu lassen. Wenn die Kosten nicht zu scheuen sind, möge man es an dem
ganzen Schlosse so machen, und man habe dann etwas sehr Eigenes.
Andere meinten, es sei doch überall Sitte, die Wände selbst gegen
Außen mit einer Tünche zu bekleiden, ein licht getünchtes Haus sei
sehr freundlich, darum hätten auch die Vorbesitzer des Hauses so
getan, um sein Ansehen dem neuen Geschmacke näher zu bringen. Darauf
sagten wieder Andere, die Gedanken der Menschen seien wechselvoll,
einmal habe man die großen viereckigen Steine, aus denen das Äußere
dieser Wände bestehe, nackt hervor sehen lassen, später habe man sie
überstrichen, jetzt sei eine Zeit gekommen, wo man wieder auf das
Alte zurück gehe und es verehre, man könne also die Steine wieder
nacktlegen.

Mein Gastfreund vernahm die Meinungen, und antwortete in unbestimmten
und nicht auf eine einzelne Ansicht gestellten Worten, da alles, was
gesagt wurde, sich ungefähr in demselben Kreise bewegte. Mathilde
sprach nur Unbedeutendes, und Eustach und Roland schwiegen ganz. Von
der feurigen Natur des letzten wunderte es mich am meisten. Ich schloß
aus dieser Tatsache, daß meine Freunde ihre Meinung entweder schon
gefaßt hatten oder daß sie dieselbe erst für sich fassen wollten.
Diese eben abgehaltene Beschau erschien mir also etwas Allgemeines,
Unwesentliches, als eine nachbarliche Artigkeit, als eine Gelegenheit,
zusammen zu kommen, um sich gemeinschaftlich zu sehen und zu sprechen,
wie man es bei andern Anlässen auch tut.

Mir erschien die Bloßlegung der Steine unbedingt als das Natürlichste.
Wie ich wohl schon erkennen gelernt hatte, ist bei Denkmälern - und je
größer und würdiger sie sein sollen, um desto mehr ist dies der Fall
- der Stoff nicht gleichgültig, und dann darf er aber nicht mit
Fremdartigem vermengt werden. Ein Siegesbogen, selbst wenn er unter
Dach steht, darf von Marmor sein, weniger schon von Ziegeln oder Holz,
ganz und gar nicht von gegossenem Eisen oder festgeklebtem Papier.
Eine Bildsäule kann von Marmor, Metall oder Holz sein, weniger von
groben Steinen, ganz und gar nicht von allerlei zusammengefügten
Bestandteilen. Unsere neuen Häuser, die nur bestimmt sind, Menschen
aufzunehmen, um ihnen Obdach zu geben, haben nichts Denkmalartiges,
sei es ein Denkmal für den Glanz einer Familie, sei es ein Denkmal
der abgeschlossenen und wohlgenossenen Wohnlichkeit für irgend ein
Geschlecht. Darum werden sie fachartig aus Ziegeln gebaut und mit
einer Schicht überstrichen, wie man auch lackiertes Geräte macht oder
künstliches Gestein malt. Schon die aus bloßem Holze zur Wohnung eines
Geschlechtes in unseren Gebirgsländern (nicht zur Spielerei in Gärten)
erbauten Häuser haben Denkmalartiges, noch mehr die Schlösser, die aus
festen Steinen gefügt sind, die Torbogen, die Pfeiler, die Brücken
und noch mehr die aus Stein gebauten Kirchen. Daraus ergab sich mir
von selber, daß diejenigen, die dieses Schloß so bauten, daß die
Außenseiten der Wände fest gefügte viereckige, unbestrichene Steine
sind, Recht gehabt haben, und daß die, welche die Steine bestrichen,
im Unrechte waren, und daß die, welche sie wieder bloß legen, abermals
im Rechte sind. Ich sah, daß man an sämtlichen Steinen, weil sonst
die Kalktünche nicht zu vertilgen gewesen wäre, die Oberfläche mit
scharfen Hämmern erneuert hatte. Dies gab wohl den Steinen etwas, das
ein lichteres Grau ist, als die alten Simse und Tragsteine hatten, die
nicht getüncht waren; allein durch Zeit und Wetter werden sich auch
die erneuerten Steinoberflächen wieder dunkler färben.


Man ging, da man eine Weile gesprochen hatte, obwohl ein eigentliches
Urteil nicht gefällt worden war, wieder in das Haus zurück, und auch
die Dienerschaft, welche zugeschaut hatte, ging auseinander, gleichsam
als ob die Sache jetzt aus wäre.

In dem Hause zerstreuten sich die Gäste, manche begaben sich in
Zimmer, manche gingen in das Freie. Ich nahm in meinem Schlafgemache,
wozu mir das nehmliche Zimmer, welches ich früher bewohnt hatte,
angewiesen worden war, einen leichteren Hut und einen bequemeren
Rock und ging dann auch in den Garten. Ich ging ganz allein in einem
dunkeln Gange zwischen Gebüschen hin, und es war mir wohl, daß ich
allein war. Ich schlug die abgelegenen, wenig gangbaren und auch
weniger im Stande gehaltenen Wege ein, damit ich niemanden begegne und
damit sich niemand zu mir geselle. Es war auch wirklich kein Mensch in
den Gängen, und ich sah nur kleine Vögel, welche ungescheut in ihnen
liefen und Futter von der Erde pickten. Ich umging den Lindenplatz
und kam hinter ihm aus dem Gebüsche heraus. Von da ging ich in einem
großen Umwege der Eppichwand zu und hatte vor, in die Nymphengrotte zu
treten, wenn niemand in ihr wäre. Als ich schon nahe an der Grotte war
und schief in dieselbe blicken konnte, sah ich, daß Natalie auf dem
Marmorbänklein sitze, welches sich seitwärts von der Nymphengestalt
befand. Sie saß an dem innersten Ende des Bänkleins. Ihr blaßgraues
Seidenkleid schimmerte aus der dunkeln Höhlung heraus. Einen Arm ließ
sie an ihrer Gestalt ruhen, den andern hatte sie auf die Lehne des
Bänkleins gestützt und barg die Stirn in ihrer Hand. Ich blieb stehen
und wußte nicht, was ich tun sollte. Daß ich nicht in die Grotte gehen
wolle, war mir klar; allein die kleinste Wendung, die ich machte,
konnte ein Geräusch erregen und sie stören. Aber ohne daß ich ein
Geräusch machte, sah sie auf und sah mich stehen. Sie erhob sich, ging
aus der Grotte, ging mit beeilten Schritten an der Eppichwand hin und
entfernte sich in das Gebüsch. In Kurzem sah ich den Schimmer ihres
Kleides verschwinden. Eine ganz kleine Zeit blieb ich stehen,
dann ging ich in die Grotte hinein. Ich setzte mich auf dieselbe
Marmorbank, auf der sie gesessen war und sah in das Rinnen des
Wassers, sah auf die einsame Alabasterschale, die neben dem Becken
stand, und sah auf den ruhigen, glänzenden Marmor. Ich saß sehr lange.
Da sich Stimmen näherten und da ich vermuten mußte, daß man die
Brunnengestalt besuchen würde, stand ich auf, ging aus der Grotte,
ging in das Gebüsch und begab mich auf denselben Wegen, auf denen ich
gekommen war, in das Schloß zurück.

Der Mittag vereinigte noch einmal alle Gäste bei dem Mahle. Mehrere
von ihnen hatten beschlossen, gleich nach demselben fort zu fahren,
um noch vor der Nacht ihre Heimat zu erreichen. Man brachte einen
fröhlichen Trinkspruch aus auf die schöne Gestaltung des Schlosses und
einen Dank für die herzliche Bewirtung. Der Spruch wurde mit einem
Wunsche für das Wohl der Gesellschaft und für baldiges Wiedersehen
erwidert. Die heitere Sommersonne verklärte das Zimmer, und die Blumen
des Gartens schmückten es.

Nach dem Mahle fuhren mehrere der Gäste fort, und im Laufe des
Nachmittages entfernten sich alle.

Wir, die nach dem Asperhofe mußten, hatten beschlossen, morgen früh
abzufahren.

Bei dem Abendessen kam das Gespräch auf das Unternehmen an dem Hause.
Ich sah, daß die Übriggebliebenen schon einig waren. Es sprach nun
mein Gastfreund, es sprachen Eustach und Roland. Sie hatten alle meine
Ansicht. Ich wurde aufgefordert, auch meine Meinung zu sagen. Ich
sprach sie nach meiner innern Empfindung aus. Alle mochten sie wohl
so erwartet haben. Über den Aufwand zur Deckung der künftigen Kosten
sprach mein Gastfreund mit Mathilden besonders. Durch das Abschlagen
der Steine mit scharfen Hämmern hatten sich die Auslagen größer
gezeigt, als man Anfangs vermuten konnte. Mein Gastfreund riet daher,
daß man die Arbeit auf längere Fristen ausdehnen solle, wodurch die
Kosten weniger empfindlich würden und, da doch das Schaffen des
Schönen das Vergnügen bilde, dieses Vergnügen sich verlängere. Man
billigte den Vorschlag und freute sich auf das Wachsen des Edleren
und freute sich auf den Augenblick, wenn das Haus in einem würdigen
Gewande da stehen würde und man die Beruhigung hätte, es so dem
künftigen Besitzer übergeben zu können.

Mit dem Anbruche des nächsten Tages fuhren mein Gastfreund, Eustach,
Roland, Gustav und ich auf dem Wege nach dem Rosenhause dahin.

Als ich in Hinsicht der eben zugebrachten Tage etwas über das
Landleben sagte und die Annehmlichkeiten desselben berührte, und als
wir eine Zeit über diesen Gegenstand gesprochen hatten, sagte mein
Gastfreund: »Das gesellschaftliche Leben in den Städten, wenn man es
in dem Sinne nimmt, daß man immer mit fremden Personen zusammen ist,
bei denen man entweder mit andern zum Besuche ist, oder die mit andern
bei uns sind, ist nicht ersprießlich. Es ist das nehmliche Einerlei
wie das Leben in Orten, die den großen Städten nahe sind. Man sehnt
sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben
und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen
Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es
gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die
ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschließt. Es sind
erwählte Menschen, die zu diesem kommen und es zur Fassung ihres
Lebens machen können.«

»In der Weltgeschichte kömmt wohl Ähnliches vor«, sagte ich.

»In der Weltgeschichte kömmt es vor«, antwortete er, »wo ein Mensch
durch eine große Tat, die sein Leben erfüllt, diesem Leben eine
einfache Gestalt geben kann, abgelöst von allem Kleinlichen - in der
Wissenschaft, wo ein großartiges Feld höchsten Erringens vor dem
Menschen liegt - oder in der Klarheit und Ruhe der Lebensanschauungen,
die endlich Alles auf einige ausgedehnte, aber einfältige Grundlinien
zurück führt. Jedoch sind auch hier Maße und Abstufungen wie in allen
andern Dingen des Lebens.«

»Von den zwei Hauptzeiträumen, welche das menschliche Geschlecht
betroffen haben«, erwiderte ich, »von dem sogenannten antiken und
dem heutigen, dürfte wohl der griechisch-römische das Meiste von dem
Gesagten aufzuweisen haben.«

»Wir wissen zuletzt gar nicht, welche Zeiträume es in der Geschichte
gegeben hat«, antwortete er. »Die Griechen und Römer sind unserer Zeit
am nächsten, wir sind aus ihnen hervor gegangen und wissen von ihnen
auch das Meiste. Wer weiß, wie viele Völkerabschnitte es gegeben hat
und wie viele unbekannte Geschichtsquellen noch verborgen sind. Wenn
einmal ganze Reihen solcher Völkerzustände wie Griechen- und Römertum
vorliegen, dann läßt sich eher über unsere Frage etwas sagen. Oder
sind etwa solche Reihen nur dagewesen und vergessen worden, und werden
überhaupt die hintersten Stücke der Weltgeschichte vergessen, wenn
sich vorne neue ansetzen und ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer
wird dann nach zehntausend Jahren noch von Hellenen oder von uns
reden? Ganz andere Vorstellungen werden kommen, die Menschen werden
ganz andere Worte haben, mit ihnen in ganz anderen Sätzen reden, und
wir würden sie gar nicht verstehen, wie wir nicht verstehen würden,
wenn etwas zehntausend Jahre vor uns gesagt worden wäre und uns
vorläge, selbst wenn wir der Sprache mächtig wären. Was ist dann jeder
Ruhm? Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurück und sehen wir von
Ägyptern, Assyrern, Indern, Medern, Hebräern, Persern, von denen Kunde
zu uns herüber gekommen ist, ab und vergleichen wir uns nur allein mit
der griechisch-römischen Welt, so dürfte in ihr wirklich mehr einfache
Lebensgröße gelegen sein als in der unsern liegt. Ich verwundere mich
oft, wenn ich in der Lage bin, zu entscheiden, welchen von beiden ich
den Preis geben soll, Cäsars Taten oder Cäsars Schriften, wie sehr ich
im Schwanken begriffen bin und wie wenig ich es weiß. Beides ist so
klar, so stark, so unbeirrt, daß wir wenig desgleichen haben dürften.«

»Jene alten Verhältnisse des Handelns und Denkens waren aber, wie ich
glaube, auch weniger verwickelt als die unsrigen«, sagte ich.

»Sie hatten einen nicht so ausgedehnten Schauplatz wie wir«, erwiderte
er, »obwohl auch der Platz der Taten zu Cäsars Zeit - Britannien,
Gallien, Italien, Asien, Afrika -, oder zu Alexanders Zeit -
Griechenland und Orient - nicht ganz klein war. Ihre Verhältnisse nach
Außen gestalteten sich daher leichter; aber im Innern dürften sie bei
der großen Zahl der mithandelnden Personen, von denen die meisten
Stimme und Gewalt in Staatsdingen hatten, nicht so leicht gewesen
sein, und die Macht, diese Gemüter durch Wort, Erscheinung und
Handlung zu gewinnen und zu leiten, dürfte schwierig zu erwerben
gewesen sein und dürfte eben dem Wesen eines Mannes die feste Gestalt
aufgedrückt haben, die wir so oft an ihm bewundern. Unsere Zeit ist
eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt
und erscheint mir als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen
wird, von der das griechische und römische Altertum weit wird
übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der
Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf das
Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war,
an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was
die Pflege dieses Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die
Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Sätze
dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder
Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den
Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir
stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse
beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges.
Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes
Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn
wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die
verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit
gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden
die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten
Austauschens gemeinsam werden, daß Allen Alles zugänglich ist? Jetzt
kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie
hat, was sie ist und was sie weiß, absperren: bald wird es aber nicht
mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden.
Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der
Geringste wissen und können muß, um Vieles größer sein als jetzt. Die
Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich
dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz
vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche
Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen
erlangen? Diese Wirkung ist bei Weitem die wichtigste. Der Kampf in
dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue
menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich
sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche
Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine
Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der
endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht,
und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine
Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen
ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen
werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag
ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher,
andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr
auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund
inne wohnt, beharren mag.«

Wir gingen nun in manches Einzelne dieses Stoffes ein, behandelten
es im Fahren und suchten die möglichen Folgen anzugeben. Besonders
wurden Zweige der Naturwissenschaften genannt, welche vorzugsweise
vorgeschritten waren und Einfluß zu gewinnen schienen, wie die Chemie
und andere. Roland war entschieden für Neuerung, wenn sie auch Alles
umstürzte, mein Gastfreund und Eustach hegten den Wunsch, daß jenes
Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist - denn wie vieles Neue ist
nicht gut -, nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störung sich
einbürgern möchte. So ist der Übergang ein längerer, aber er ist ein
ruhigerer und seine Folgen sind dauernder.

Nach dem Mittagsessen kam das Gespräch auf die Brunnennymphe im
Sternenhofe, und mein Gastfreund erzählte mir, wie sie erworben worden
war. Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt war, hatte zu
seinem großen Vermögen noch Erbschaften gemacht. Er verlegte sich
auf Sammlungen. Er hatte Münzen, er hatte Siegel, er hatte keltische
und römische Altertümer, Musikgeräte, Tulpen und Georginen, Bücher,
Gemälde und Bildsäulen. Er baute in seinem Garten an sein Haus,
welches etwas erhöht stand, eine große Fläche, die er mit Steinen
pflasterte und von welcher künstliche steinerne Stufen in mehreren
Richtungen nach dem Garten hinab gingen. Auf die Brüstungen dieser
Fläche und auf die Einfassungen der Treppen wurden Bildsäulen gesetzt.
Es gehörte zu den größten Vergnügungen des Mannes, auf der Fläche hin
und her zu gehen. Das tat er auch oft, wenn die heißeste Sonne am
Himmel stand und das Pflaster in die Sohlen brannte. Außerdem hatte er
auch noch Bildsäulen auf den Treppen des Hauses und in den Zimmern.
Die Nymphe, welche jetzt Mathilde besitzt, hatte er in einem
Brunnentempel im Garten. Er hatte sie von seinem Großoheime geerbt.
Sie soll zu den Jugendzeiten desselben von einem italienischen
Bildhauer für einen Fürsten verfertigt worden sein, dessen schneller
Todfall das Übergehen an ihre Bestimmung vereitelte. So kam sie
nach mehreren Zufällen an den Großoheim, der Verbindungen mit dem
Künstler hatte. Man sagt, diese Bildsäule sei der Anfang zu der
Bildsäulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewesen. Als dieser
Mann starb, fand sich ein letzter Wille geschrieben vor, daß alle
Kunstwerke an Kunstkenner oder Kunstliebhaber, nicht aber an Händler
verkauft werden und daß das Geld dafür und die anderen Dinge, die er
hinterlassen, und zwar letztere nach einem Schätzungswerte, unter
seine entfernten Verwandten verteilt werden sollten; denn Kinder
oder nähere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nymphe weitaus
das schönste Kunstwerk war, welches er besaß, da Mathilde es immer
bewundert hatte, da sie schon im Besitze des Sternenhofes war und in
demselben schon schöne Gemälde untergebracht hatte: so war es ihr
nicht schwer, sich als eine Kunstliebhaberin auszuweisen und das
Bildwerk anzukaufen. Man gönnte es ihr mehr als einem Fremden, weil
auf diese Weise das Kunstwerk gewissermaßen in der Familie blieb und
sie überdies auch mehr in die gemeinschaftliche Erbschaft zahlte, als
ein Fremder getan haben würde.

Sie brachte das ihr so liebe Werk in den Sternenhof und stellte es
dort in einem Saale auf. Erst lange darnach wurde durch Eustachs und
meines Gastfreundes Bemühungen zwischen den Eichen, die schon standen,
die Eppichwand und die Quellengrotte gebaut und so der Gestalt ein
würdiger und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da sie für den
Saal doch immer zu groß und ihre Stellung und ihre Beschäftigung
unpassend gewesen war. Den Krug, aus welchem das Wasser rann, hatte
sie schon, das Becken und die Bank sind neu gemacht worden, die
Alabasterschale hat Mathilde aus ihrem Besitztume dazu gegeben.

Wir kamen am Abende im Rosenhause an. Am andern Tage bat ich meinen
Gastfreund, er möge erlauben, daß ich eine Nachzeichnung von der
Zeichnung des Kerberger Altares, die er besitze, mache, und diese
Zeichnung meinem Vater zum Geschenke bringe. Er erlaubte es sehr
gerne. Die Zeichnung war nach dem Vorschlage, welcher auf der Reise in
das Hochland gemacht worden war, von Roland verbessert worden, und so
wurde sie mir übergeben.

Ich schloß mich in mein Zimmer ein und arbeitete mehrere Tage fleißig
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung
fertig war. Ich verpackte sie nun sehr wohl und gab meinem Gastfreunde
die Urzeichnung zurück.


Nun hielt ich mich nicht mehr länger in dem Asperhofe auf und eilte in
die Tann.

Ich stieg dort auf Berge, ich arbeitete sehr angestrengt, ich spielte
sehr viel auf meiner Zither und las in meinen Büchern.

Eines Tages gegen den Spätsommer hin hörte ich mit Allem auf. Ich
packte meine Kisten, tat die Werkzeuge und die Schriften, die sich auf
meine Arbeiten bezogen, in ihre Fächer und Koffer, entließ fast alle
Leute, versah die Kisten mit Aufschriften, verordnete ihre Versendung
und ging dann in das Lauterthal. Dort nahm ich nur den alten Kaspar
und von den jungen Männern einen, der mir besonders lieb geworden war,
und beschloß, die Messung des Lautersees zu Ende zu bringen.

Ich mietete mich in dem Seewirtshause ein, richtete alle Geräte,
welche mir zu meinem Vorhaben nötig waren, zurecht, ließ diejenigen
neu verfertigen, welche ich nicht hatte, und ging ans Werk. Ich
arbeitete recht fleißig. So lange das Licht des Tages leuchtete, waren
wir auf dem Wasser. Nachts - außer einigen Stunden Schlafes - war ich
an dem Papiere teils mit Rechnungen, teils mit Schreiben, teils sogar
mit Zeichnen beschäftigt. Ich wiederholte einige Messungen, welche ich
in früheren Zeiten vorgenommen hatte, um mich von der Beständigkeit
oder Wandelbarkeit des Wasserstandes oder des Seegrundes zu
überzeugen. Da ein durchaus gleicher Wasserstand nicht zu denken ist,
so bezog ich meine Messungen auf einen mittleren Stand und stellte
immer die Frage, wie tief unter diesem Stande die bestimmten Stellen
des Seegrundes liegen. Dieser mittlere Stand, der nach demjenigen
genommen wurde, welcher in der meisten Zeit des Jahres herrscht, war
in meiner Abbildung auch der Wasserspiegel. Ihn nahm ich bei den
Nachmessungen zur Richtschnur. In größeren Entfernungen von dem Ufer
hatte sich der Seegrund seit dem Beginne meiner Messungen nicht
geändert, oder wenn er sich geändert hatte, war es so wenig, daß es
durch unsere Meßwerkzeuge nicht wahrzunehmen war. An jenen Ufern oder
in der Nähe derselben, wo große Tiefen herrschten und steile, ruhige
Wände standen, an denen bei Regengüssen höchstens schmale Bänder oder
seichte Wasserflächen niederrieseln, war ebenfalls keine Veränderung.
Aber an seichten Stellen bei flacheren Ufern, wo der Regen Gerölle und
andere Dinge einführt, fanden sich schon Veränderungen vor. Am meisten
aber waren die Wandlungen und am größten, wo eine Schlucht sich gegen
das Wasser öffnete, aus welcher ein Bergbach hervorströmte, der, je
nachdem er weiter her floß oder bei Güssen heftiger anschwoll, auch
größere Berge von Gerölle in den See schob und dort liegen ließ.

Nach der Wiederholung dieser alten Messungen wurde zu neuen
geschritten, die zur Vollendung der mir zum Ziele gesetzten Kenntnisse
notwendig waren. Ebenso wurden die Zeichnungen der Gebilde, welche
sich außerhalb des Wassers als Ufer befanden, fleißig fortgesetzt.

Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen. Ich ging in das Rothmoor, um
nachzusehen, wie weit die Dinge, die aus meinen Marmoren verfertigt
werden sollten, gediehen wären und wie gut sie ausgeführt würden.
Die Fortschritte waren zu loben. Man sagte - und ich selber sah die
Möglichkeit ein -, daß in diesem Sommer noch alles fertig werden
würde. Aber in Hinsicht der Güte hatte ich Ausstellungen zu machen.
Ich ordnete mit Bitten, Vorstellungen und Versprechen an, daß man das,
was ich angab, so genau und so rein mache, wie ich es wollte.

Wenn Regenzeit war, so daß die Wolken an den Bergen herum hingen und
weder diese noch die Gestalt des Sees richtig zu überblicken waren,
so blieb ich zu Hause und zeichnete und malte dasjenige in mein
Hauptblatt, was ich im Freien auf viele Nebenblätter aufgenommen
hatte. So rückte das Unternehmen der Vollendung immer näher.

Endlich waren die Arbeiten im Freien beendigt, und es erübrigte nur
noch, die vielen Angaben, welche in meinen Papieren zerstreut waren
und welche ich bisher nicht hatte bewältigen können, in die Zeichnung
einzutragen und die Gestalten, welche ich auf einzelnen Blättern
hatte, teils mit der Hauptzeichnung wegen der Richtigkeit zu
vergleichen, teils diese, wo es nottat, zu ergänzen. Auch Farben
mußten auf verschiedene Stellen aufgetragen werden.

Nach langer Arbeit und nach vielen Schwierigkeiten, die ich zur
Erzielung einer großen Genauigkeit zu überwinden hatte, war das
Werk eines Tages fertig, und der ganze Entwurf lag in schwermütiger
Düsterheit und in einer Schönheit vor meinen Augen, die ich selber
nicht erwartet hatte. Ich betrachtete allein die Abbildung eine Weile,
da niemand war, der das Anschauen mit mir geteilt hätte, rollte dann
das Blatt auf eine Walze, verpackte es sehr gut in einen Koffer, nahm
von dem See und von allen Bewohnern des Seewirtshauses Abschied und
begab mich auf den Weg in das Ahornhaus des Lauterthales.

Dort siedelte ich mich an. Ich ging nun täglich in das Rothmoor,
blieb den ganzen Tag dort und kehrte Abends zurück, so daß ich in der
Dämmerung im Ahornhause ankam. Ich sah im Rothmoore den Arbeiten an
meinen Marmoren zu, dem Schneiden, Feilen, Reiben, Schleifen und
Glätten. Ich gab auch an, wie Manches zu behandeln sei und wie es
einer größeren Vollendung, namentlich aber einer größern Genauigkeit
entgegen geführt werden könnte.


Das Wasserbecken meines Vaters wurde nach und nach fertig und die
kleineren Dinge, welche gemacht werden sollten, waren ebenfalls
vollendet. Die Sonne schien in die Bauhütte, und das Becken erglänzte
recht rein und schön in derselben. Ich ließ von starken Balken
Behältnisse zimmern. In diese wurden die Teile des Beckens mit Winden,
Hebeln und Stricken gepackt und zur Versendung bereitet. Die Wägen
mußten eigens vorgerichtet werden, damit die Behältnisse an den Strom
gebracht werden könnten. Diese Vorrichtung war endlich fertig. Das
Aufladen wurde bewerkstelligt, und die Wägen gingen ab. Ich ging
mit ihnen bis an den Strom und verließ sie keinen Augenblick, um wo
möglich jeden Unfall zu verhüten. Am Strome wurden die Behältnisse auf
ein Schiff verladen und weiter befördert. Von dem Landungsplatze vor
unserer Stadt wurden sie endlich wieder durch starke Wägen in unsern
Garten gebracht.

Es wurde nun daran geschritten, das Wasserwerk in diesem Herbste noch
fertig zu machen. Der Vater hatte auf Briefe von mir und auf gesendete
Maße den Dingen bereits vorarbeiten lassen. Es wurden nun noch mehrere
Arbeiter gedungen und ein Wasserbaukundiger genommen, welcher die
Arbeiten zu leiten hatte. Ich war den ganzen Tag bei dem Werke zugegen
und half mit. Der Vater kargte sich ebenfalls alle mögliche Zeit ab,
um zugegen sein und zuschauen zu können. Die Röhren wurden gelegt,
die Steigröhre verzapft, der Stengel über sie gebaut, mit den nötigen
Eisen gestärkt und verlötet, und an demselben wurde das Blatt
befestigt. Der Pfropfen, welcher den in das Blatt mündenden Stengel
geschlossen gehalten hatte, wurde gelüftet, und der reine Strahl
fiel auf die im Blatte liegende Einbeere hinunter, füllte das Becken
und glitt von demselben, als es gefüllt war, auf den sanften gelb
marmornen Fußboden nieder und rieselte in dessen Rinne weiter. Die
Farben stimmten sehr gut zusammen, das Dunkel des Stengels hob sich
von dem Rosenrot des Blattes ab, und das Gelb des Fußbodens gab dem
Rosenrot eine schönere Farbe und einen feineren Glanz. Es waren
mehrere Gäste zur Eröffnung des Werkes geladen worden, und diese sowie
Vater, Mutter und Schwester freuten sich des Gelingens.

Der Vater reichte mir als Gegengeschenk, sehr schön gebunden und auf
den Deckeln mit halberhabener Arbeit versehen, das Nibelungenlied. Ich
dankte ihm sehr dafür.

Es wurde beschlossen, für den Winter ein Bretterhäuschen über das
Wasserwerk machen zu lassen und dasselbe gut zu verwahren, daß keine
Kälte eindringen könne. Für den Frühling wurden Pläne entworfen, wie
man die Gartenumgebungen des Beckens einrichten solle, daß der ganze
Anblick ein desto würdigerer und schönerer sei. Man hoffte, bis zum
Eintritte der besseren Jahreszeit mit den Entwürfen im Reinen zu sein
und beginnen zu können.

Ich übergab außer dem Becken auch die andern Marmorgegenstände, welche
in dem Rothmoore waren verfertiget worden. Darunter befanden sich
Säulen und Simse, welche an einer Stelle verwendet werden sollten,
die am Ende des Gartens lag, eine Aussicht auf die Berge und auf die
Umgebung bot und auf welcher der Vater etwas zu errichten vorhatte,
das der Aussicht würdig wäre und sie besser genießen lasse. Ich
meinte, es dürfte eine schöne Fassung anzulegen sein, die den Platz
begrenzt, die breite Flächen hat, daß man sich auf dieselben lehnen
und Dinge auf sie legen könne und an der sich Sitze befänden, auf
welchen man ausruhen könne. Wenn in der Nähe dieser Fassung ein
Tisch wäre, würde es noch besser sein. Außerdem hatte ich Schalen
zu beliebigem Gebrauche gebracht, Ringe, die einen Vorhang fassen,
Tischplatten, Pfeilerverzierungen, Steine von verschiedener Farbe, die
im Vierecke geschliffen waren und die man der Reihe nach auf Papier
oder Ähnliches legen konnte, und noch mehrere Dinge dieser Art. Dem
Vater zeigte ich die Zeichnung von dem Kerberger Altare und sagte, daß
ich sie eigens für ihn gemacht habe und sie ihm hiemit übergebe. Er
war sehr erfreut darüber und dankte mir dafür. Der Altar war ihm zwar
nicht neu, er hatte ihn in früherer Zeit, ehe er wieder hergestellt
worden war, gesehen, und die Zeichnung des wiederhergestellten Altares
war unter den von meinem Gastfreunde dem Vater im vorigen Jahre
gesendeten Zeichnungen gewesen. Deßohngeachtet war es ihm sehr
angenehm, die Zeichnung zu besitzen und sie öfter und nach Muße
betrachten zu können. Er machte mich auf mehrere Dinge aufmerksam, die
er nach wiederholter Betrachtung entdeckt hatte. Zuerst sah er, daß
der Altar viel reicher und mannigfaltiger sei, als da er ihn in noch
unverbessertem Zustande vor vielen Jahren in Wirklichkeit gesehen
hatte; dann machte er mich darauf aufmerksam, daß dieses Werk schon
die Rundlinie habe, daß die Türmchen durch gewundene Stäbe in
Gestalten von Pyramiden gebildet und daß die menschlichen Gestalten
schon sehr durchgearbeitet seien, was alles darauf hindeuten daß das
Werk nicht mehr der Zeit der strengen gothischen Bauart angehöre,
sondern derjenigen, wo diese Art sich schon zu verwandeln begonnen
hatte. Auch zeigte er mir, daß Teile der Verzierungen im Laufe der
Zeiten an andere Orte gestellt worden seien als an die sie gehören,
daß die Büsten sich nicht an dem rechten Platze befinden und daß
menschliche Gestalten verloren gegangen sein müssen. Er holte Bücher
aus seinem Bücherschreine herbei, in denen Abbildungen waren und aus
denen er mir die Wahrheit dessen bewies, was er behauptete. Ich sagte
ihm, daß mein Gastfreund und Eustach der nehmlichen Meinung sind, daß
aber die Wiederherstellungen, welche man an dem Altare gemacht hat,
im strengen Wortverstande nicht Wiederherstellungen gewesen seien,
sondern daß man sich zuerst nur zum Zwecke gesetzt habe, den Stoff
zu erhalten und weitere Umänderungen oder größere Ergänzungen einer
ferneren Zeit aufzubewahren, wenn sich überhaupt die Mittel und Wege
dazu fänden. Nur solche Ergänzungen sind gemacht worden, bei denen die
Gestalt des Gegenstandes unzweifelhaft gegeben war.

Die Bücher des Vaters machten mich auf die Sache, die sie behandelten,
mehr aufmerksam, ich bat ihn, daß er sie mir in meine Wohnung leihe,
und begann sie durchzugehen. Sie führten mich dahin, daß ich die
Baukunst und ihre Geschichte vom Anfange an genauer kennen zu lernen
wünschte und mir alle Bücher, die hiezu nötig wagen, nach dem Rate
meines Vaters und Anderer ankaufte.



Der Bund

Der Winter verging wie gewöhnlich. Ich richtete meine mitgebrachten
Dinge in Ordnung und holte an Schreibgeschäften nach, was im Sommer
wegen der Tätigkeit im Freien und der anderweitig verlorenen Zeit im
Rückstande geblieben war. Der Umgang mit den Meinigen in dem engsten
Kreise des Hauses war mir das Liebste, er war mein größtes Vergnügen,
er war meine höchste Freude. Der Vater bezeigte mir von Tag zu Tag
mehr Achtung. Liebe konnte er mir nicht in größerem Maße bezeigen,
denn diese hatte er mir immer höchstmöglich bewiesen; aber so wie
er früher bei der zärtlichsten Sorgfalt für mein Wohl und bei der
Herbeischaffung alles dessen, was zu meinem Unterhalte und meiner
Ausbildung notwendig gewesen ist, mich meine Wege gehen ließ, immer
freundlich und liebevoll war und nicht begehrte, daß ich mich in
andere Richtungen begebe, die ihm etwa bequemer sein mochten: so war
er zwar dies jetzt alles auch; aber er fragte mich doch häufiger
um meine Bestrebungen und ließ sich die Dinge, welche darauf Bezug
hatten, auseinandersetzen, er holte meinen Rat und meine Meinung
in Angelegenheiten seiner Sammlungen oder in denen des Hauses
ein und handelte darnach, er sprach über Werke der Dichter, der
Geschichtschreiber, der Kunst mit mir, und tat dies öfter, als
es in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Er brachte in meiner
Gesellschaft manche Zeit bei seinen Bildern, bei seinen Büchern
und bei seinen andern Dingen zu und versammelte uns gerne in dem
Glashäuschen, das eine erwärmte Luft durchwehte, die sich traulich um
die alten Waffen, die alten Schnitzwerke und die Pfeilerverkleidungen
ergoß. Er sprach von verschiedenen Dingen und schien sich wohl zu
fühlen, den Abend in dem engsten Kreise seiner Familie zubringen zu
können. Mir schien es, daß er zu der jetzigen Zeit nicht nur früher
aus seiner Schreibstube nach Hause komme als sonst, sondern daß er
sich auch mehr innerhalb der Mauern desselben aufhalte als in früheren
Jahren. Die Mutter war sehr freudig über die Heiterkeit dem Vaters,
sie ging gerne in seine Pläne ein und beförderte alles, was sie in
ihrem Kreise zu der Erfüllung derselben tun konnte. Sie schien uns
Kinder mehr zu lieben als in jeder vergangenen Zeit. Klotilde wendete
sich immer mehr und mehr zu mir, sie war gleichsam mein Bruder, ich
war ihr Freund, ihr Ratgeber, ihr Gesellschafter. Sie schien gar keine
andere Empfindung als für unser Haus zu haben. Wir setzten unsere
Übungen im Spanischen, im Zitherspielen, im Zeichnen und Malen fort.

Trotz dieser Dinge war sie auch im Hauswesen eifrig, um der Mutter
Folge zu leisten und ihren Beifall zu gewinnen. Wenn etwas in dieser
Art, das eine größere Sorgfalt und Geschicklichkeit erheischte,
besonders gelang und dies erkannt wurde, so war ihre Befriedigung
größer, als wenn sie bei einer ernsten und wichtigen Bewerbung vor
einer ansehnlichen Versammlung den Preis davon getragen hätte.

In den Gesellschaften, die in kleineren oder größeren Kreisen, nur
seltener als in früheren Jahren, in unserem Hause statt fanden, wurden
jetzt auch mehr Gespräche geführt als da wir auch jünger waren. Es
wurden ernsthafte Dinge in Untersuchung gezogen, Angelegenheiten des
Staates, allgemeine öffentliche Unternehmungen oder Erscheinungen, die
von sich reden machten. Man sprach auch von seinen Beschäftigungen,
von seinen Liebhabereien oder von dem gewöhnlichen Tagesstoffe, wie
etwa das Theater ist oder wie Begebenheiten sind, die sich in den
nächsten Umgebungen zutragen. Im Übrigen wurde auch zu den bekannten
Vergnügungen gegriffen, Musik, Tanz, Liedersingen. Manche jüngere
Leute lernten sich da neu kennen, ältere setzten die früher bestandene
Bekanntschaft fort.

Ich besuchte meine Freunde, besprach mich mit ihnen und erzählte ihnen
im Allgemeinen, womit ich mich eben beschäftige. Sie teilten mir
aus dem Kreise ihrer Erlebnisse mit und machten mich auf manche
Persönlichkeiten aufmerksam.

Ich setzte meine Malerei fort, ich betrieb die Edelsteinkunde und
besuchte manches Theater. Das Lesen der Bücher über Baukunst vergnügte
mich sehr, und es eröffnete sich mir da ein neues Feld, das manches
Ersprießliche und manche Förderung versprach.

Die Abende bei der Fürstin erschienen mir immer wichtiger. Es hatte
sich nach und nach eine Gesellschaft zusammen gefunden, deren
Mitglieder sich häufig und gerne in dem Zimmer der Fürstin
versammelten. Es wurden die anziehendsten Stoffe verhandelt, und
man schrak nicht zurück, wenn jemand die Fragen der allerneuesten
Weltweisheit auf die Bahn brachte. Man legte sich die Dinge zurecht,
wie man konnte, man kleidete die eigentümliche Redeweise der
sogenannten Fachmänner in die gewöhnliche Sprache und wendete den
gewöhnlichen Verstand darauf an. Was durch diese Mittel und durch die
der Gesellschaft herausgebracht werden konnte, das besaß man, und wenn
es von der Gesellschaft als ein Gewinn betrachtet wurde, so behielt
man es als einen Gewinn. Wenn aber nur Worte da zu sein schienen, von
denen man eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, so ließ man
die Sache dahin gestellt sein, ohne ihr eine Folge zu geben und ohne
über sie aburteilen zu wollen. Die Dichter und das Spanische wurden
lebhaft fortgesetzt.

Wenn sehr klare Tage waren und eine heitere Sonne ein erhellendes
Licht in den Zimmern vermittelte, so war ich in dem Glashäuschen und
arbeitete an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen für meinen
Gastfreund. Ich wollte sie so gut machen, als es mir nur möglich wäre,
um dem Manne, dem ich so viel verdankte und den ich so hoch achtete,
Zufriedenheit abzugewinnen oder ihm gar etwa ein Vergnügen zu
bereiten. Ich wollte zuerst Zeichnungen von den Verkleidungen
entwerfen und nach ihnen Bilder in Ölfarben ausführen. Ich machte die
Zeichnungen auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz
ab, erhöhte die Lichter in einem helleren Braun und setzte die
höchsten Glanzstellen mit Weiß auf. Als ich die Zeichnungen in dieser
Art fertig hatte und durch vielfache Vergleichungen und Abmessungen
überzeugt war, daß sie in allen Verhältnissen richtig seien, setzte
ich noch den Maßstab hinzu, nach dem sie ausgeführt waren. Ich schritt
nun zur Verfertigung der Bilder.

Sie wurden etwas kleiner als die Entwürfe gemacht, aber im genauen
Verhältnisse zu denselben. Ich benutzte zum Malen immer die nehmlichen
Vormittagsstunden, um die Glanzpunkte, die Lichter und die Schatten in
ihrer vollen Richtigkeit zu erfassen und auch der Farbe im Allgemeinen
ihre Treue geben zu können. Es zeigte sich mir da eine Erfahrung in
den Farben wieder bestätigt, die ich schon früher gemacht hatte. Auf
die mit schwachem Firnisse überzogenen Holzschnitzwerke nahmen die
umgebenden Gegenstände einen solchen Einfluß, daß sich Schwerter,
Morgensterne, dunkelrotes Faltenwerk, die Führung der Wände, des
Fußbodens, die Fenstervorhänge und die Zimmerdecke in unbestimmten
Ausdehnungen und unklaren Umrissen in ihnen spiegelten. Ich merkte
bald, daß, wenn alle diese Dinge in die Farbe der Abbildungen
aufgenommen werden sollten, die dargestellten Gegenstände wohl an
Reichtum und Reiz gewinnen, aber an Verständlichkeit verlieren würden,
so lange man nicht das Zimmer mit allem, was es enthält, mit malt, und
dadurch die Begründung aufzeigt. Da ich dies nicht konnte und mein
Zweck es auch nicht erheischte, so entfernte ich alles Zufällige und
stark Einwirkende aus dem Zimmer und malte dann die Schnitzereien,
wie sie sich sammt den übergebliebenen Einwirkungen mir zeigten, um
einerseits wahr zu sein und um andererseits, wenn ich jede Einwirkung
der Umgebung weg ließe, nicht etwas geradezu Unmögliches an ihre
Stelle zu setzen und den Gegenstand seines Lebens zu berauben, weil er
dadurch aus jeder Umgebung gerückt würde, keinen Platz seines Daseins
und also überhaupt kein Dasein hätte. Was die wirkliche Ortsfarbe der
Schnitzereien sei, würde sich aus dem Ganzen schon ergeben und müßte
aus ihm erkannt worden. Ich wendete bei der Arbeit sehr viele Mühe auf
und suchte sie so genau, als es meiner Kraft und meinen Kenntnissen
möglich war, zu verrichten. Ich erhöhte und vertiefte die Farben so
lange und suchte nach dem richtigen Tone und dem erforderlichen Feuer
so lange, bis das Bild, neben die Gegenstände gestellt, aus der Ferne
von ihnen nicht zu unterscheiden war. Die Zeichnung des Bildes mußte
richtig sein, weil sie vollkommen genau nach dem ursprünglichen
Entwurfe gemacht worden war, den ich nach mathematischen Weisungen
zusammen gestellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung fertig war,
zeigte ich sie dem Vater, welcher sie auch mit Ausnahme von kleinen
Anständen, die er erhob, billigte. Die Anstände beseitigte ich zu
seiner Zufriedenheit. Hierauf wurde alles in taugliche Fächer gebracht
und zur Vorführung bereit gehalten.


Es waren fast die Tage des Vorfrühlings herangekommen, ehe ich mit
diesem Werke fertig war. Dies hatte seinen Grund auch vorzüglich
darin, daß ich die späteren hellen Wintertage mehr als die früheren
trüben hatte benützen können.

Im Frühlinge trat ich meine Reise wieder an.

Ich machte zuerst einen Besuch bei meinem Gastfreunde, brachte ihm die
Fächer, in denen die Abbildungen der Pfeilerverkleidungen enthalten
waren, und händigte ihm sowohl den Entwurf als auch das Farbenbild der
Schnitzereien ein. Er berief Eustach in seine Stube, in welcher die
Dinge ausgepackt wurden, herüber. Beide sprachen sich sehr günstig
über die Arbeit aus, und zwar günstiger als über jede frühere, die ich
ihnen vorgelegt hatte. Ich war darüber sehr erfreut. Eustach sagte,
daß man sehr gut die Ortsfarben und die, welche durch fremde
Einwirkungen entstanden waren, unterscheiden könne, und daß man aus
den letzten die Beschaffenheit der Umgebungen zu ahnen vermöge. Sie
stellten das Bild in die nötige Entfernung und betrachteten es mit
Gefallen. Besonders anerkennend sprach Eustach über die Richtigkeit
und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes.

Ich reiste nach dem kurzen Besuche in dem Rosenhause in die Gegend der
Tann, blieb auch dort nur kurz und drang tiefer in das Gebirge ein,
um eine Mittelstelle zu finden, von der aus ich meine neuen Arbeiten
unternehmen könnte. Als ich eine solche gefunden hatte, ging ich in
das Lauterthal und dort in das Ahornwirtshaus, um meinen Kaspar und
die Andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten, auch für
das heutige zu dingen. Als dies, wie ich glaube zu gegenseitiger
Zufriedenheit, abgetan war, blieb ich noch einige Tage in dem
Ahornhause, teils damit sich meine Leute zu der Abreise rüsten
konnten, teils um das mir liebgewordene Haus, das liebgewordene Tal
und die Umgebung wieder ein wenig zu genießen. Ich ging bei dieser
Gelegenheit mehrere Male in das Rothmoor, um dort nachzusehen, was man
eben für Gegenstände aus Marmor mache. Mir schien es, als wäre die
Anstalt seit einem Jahre sehr gediehen. Ich besprach mich auch dort
über Arbeiten, die für mich auszuführen wären, falls ich den hiezu
nötigen Marmor fände. Erkundigungen, um auf Spuren der Ergänzungen der
Pfeilerverkleidungen meines Vaters, die ich in dieser Gegend gekauft
hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in früherer Zeit fruchtlos.

Ein Ereignis trat in dem Lauterthale ein, das mich sehr erheiterte.
Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war
wieder da. Er zeigte viele Freude, mich zu sehen, und sagte, er wolle
mir in das Kargrat folgen, welches jetzt der Mittelpunkt meiner
Arbeiten war, ein Dörfchen auf grasigen, baum- und buschlosen Anhöhen,
ganz nahe dem ewigen Eise, mit armen Bewohnern und einem vielleicht
noch ärmeren, genügsamen Pfarrer. Er sagte, er wolle diejenigen
Arbeiten, die ich ihm auftragen werde, gegen Lohn verrichten, und in
freier Zeit wollen wir auf der Zither spielen. Er habe noch keinen
Schüler gehabt, mit dem ihm die Übungen auf der Zither so viele Freude
gemacht hätten. Ich beschloß, einen Versuch zu wagen, und wir wurden
über die gegenseitigem Bedingungen einig.

Als alles in Bereitschaft war, gingen wir aus dem Ahornhause in das
Kargrat ab. Ich ging mit den Leuten auf abgelegenen und schneller zum
Ziele führenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir eine Strecke
gebahnter Straße, auf welcher ich zwei leichte Wägen mietete. Im
Kargrat fand ich ein kleines Zimmerchen. Für meine Leute wurde eine
Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung meiner Gegenstände
wurde aus Brettern ein ganz kleines Häuschen eigens erbaut. Wir waren
nun in der Nähe der höchsten Höhen. In mein winziges Fenster sahen die
drei Schneehäupter der Leiterköpfe, hinter denen die steile, ziemlich
schlanke, blendend weiße Nadel der Karspitze hervorragte, und neben
denen die edelsteinglänzenden Bänke der Stimmen oder des Simmieises
sich dehnten. Um den sehr spitzen Kirchturm des Dörfchens wehte die
scharfe, fast harte Gebirgsluft und senkte sich auf unsere Häupter und
Angesichter nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen Berge
und die dichter bewohnten und bevölkerten Länder.

Über das Zitherspiel meines wiedergefundenen Lehrers war ich wirklich
sehr erfreut. Ich hatte in der Zeit, während welcher ich ihn nicht
gesehen hatte, schon beinahe vergessen, wie vortrefflich er spiele.
Alles, was ich seit dem gehört hatte, erblaßte zur Unbedeutenheit
gegen sein Spiel, von dem ich den Ausdruck »höchste Herrlichkeit«
gebrauchen muß. Er scheint von diesem seinem Musikgeräte auch
ergriffen und beherrscht zu sein; wenn er spielt, ist er ein anderer
Mensch und greift in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und
zwar in gute. Auf diesen Berghöhen war das schöne Spiel fast noch
schöner, noch rührender und einsamer.

Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände eingeschlossen hatten und
nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer
fast immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns
Wände oder Wälder. Der häufigste Begleiter unserer Bestrebungen war
das Eis.

Als die Kalendertage sagten, daß die Rosenblüte schon beinahe vorüber
sein müsse, beschloß ich, meine Freunde zu besuchen. Ich ordnete im
Kargrat alles für meine Abwesenheit und Wiederkunft an und begab mich
auf den Weg.

Als ich in dem Asperhofe ankam, sagten mir der Gärtner und die
Dienstleute, daß Mathilde, Natalie, mein Gastfreund, Eustach, Roland
und Gustav in den Sternenhof fort seien. Die Rosen waren schon
verblüht, und man hatte mich nicht mehr erwartet. Mein Gastfreund
hatte gesagt, daß ich, weil ich ihm im Frühlinge mitgeteilt hatte, daß
ich heuer ganz nahe an dem Simmieise wohnen werde, wahrscheinlich im
Sommer von dorther den weiten Weg nicht werde haben machen wollen, und
daß zu vermuten sei, daß ich im Herbst meine Arbeit abkürzen und auf
eine Zeit bei meinen Freunden einsprechen werde. Sollte ich aber
dennoch kommen, so hatten die Leute den Auftrag, zu sagen, daß man
mich bitte, in den Sternenhof nachzukommen.

Ich mietete also des andern Tages auf der Post einen leichten Wagen
und schlug die Richtung nach dem Sternenhofe ein.

Als ich in der Umgebung desselben angekommen war, sah ich an Zäunen
und in Gärten noch manche Rose frisch blühen, obwohl im Asperhofe
weder auf dem Gitter noch im Garten eine zu erblicken gewesen war,
außer mancher welken und gerunzelten Blume, die man abzunehmen
vergessen hatte. Auch auf der Anhöhe, die zu dem Schlosse empor
leitete, waren an Rosenbüschen, die gelegentlich den Rasen säumten,
weil man im Sternenhofe die Rosen nicht eigens pflegte, sondern sie
nur wie gewöhnlich als schönen Gartenschmuck zog, noch Knospen, die
ihres Aufbrechens harrten. Diese Tatsache mag daher kommen, weil der
Sternenhof näher an den Gebirgen und höher liegt als das Rosenhaus
meines Freundes.

In dem Hofe des Hauses nahmen die Leute mein Gepäck und die Pferde in
Empfang und wiesen mich die große Treppe hinan. Da ich gemeldet worden
war, wurde ich in Mathildens Zimmer geführt und fand sie in demselben
allein. Sie ging mir fast bis zu der Tür entgegen und empfing mich
mit derselben offenen Herzlichkeit und Freundlichkeit, die ihr immer
eigen war. Sie führte mich zu dem Tische, der an einem mit Blumen
geschmückten Fenster stand, wo sie gerne saß, und wies mir ihr
gegenüber einen Stuhl an dem Tische an. Als wir uns gesetzt hatten,
sagte sie: »Es freut mich sehr, daß ihr noch gekommen seid, wir haben
geglaubt, daß ihr heuer den weiten Weg nicht machen würdet.«

»Wo man mich so freundlich aufnimmt«, antwortete ich, »und wo man
mich so gütig behandelt, dahin mache ich gerne einen Weg, ich mache
ihn jedes Jahr, wenn er auch weit ist, und wenn ich auch meine
Beschäftigung unterbrechen muß.«

»Und jetzt findet ihr mich und Natalien nur allein in diesem Hause«,
erwiderte sie, »die Männer, da sie sahen, daß ihr nach dem Abblühen
der Rosen noch nicht gekommen waret, meinten, ihr würdet im Sommer nun
gar nicht mehr kommen, und haben eine kleine Reise angetreten, die
auch Gustav mitmacht, weil er das Reisen so liebt. Sie besuchen eine
kleine Kirche in einem abgelegenen Gebirgstale, deren Zeichnung Roland
gebracht hat. Die Kirche wurde in der Zeichnung sehr schön befunden,
und zu ihr sind sie nun unter Rolands Führung auf dem Wege. Wo sie
nach der Besichtigung derselben hinfahren werden, weiß ich nicht; aber
das weiß ich, daß sie nur einige Tage ausbleiben und in den Sternenhof
zurückkehren werden. Ihr müßt sie hier erwarten, sie werden eine
Freude haben, euch zu sehen, und ich werde mich bemühen, alles
Erforderliche einzuleiten, daß ihr indessen hier die beste
Bequemlichkeit haben könnet.«

»Der Bequemlichkeit«, erwiderte ich, »bin ich weder gewohnt, noch
schlage ich sie hoch an. Ich möchte nur nicht eine Störung in euer
jetziges einsames Hauswesen bringen. Das Höchste, was mir zu Teil
werden kann, habe ich empfangen, eine freundliche Aufnahme.«

»Wenn auch gewiß eine freundliche Aufnahme das Höchste ist, und wenn
ihr auch eine Bequemlichkeit nicht begehret«, antwortete sie, »so ist
die Freundlichkeit in den Mienen bei der Aufnahme eines Gastes nicht
das Einzige, so schätzenswert sie dort ist, sondern sie muß sich auch
in der Tat äußern, und es muß uns erlaubt sein, unsere Pflicht, die
uns lieb ist, zu erfüllen, und dem Gaste eine so gute Wohnlichkeit zu
bereiten, als es die Umstände erlauben, er mag sie nun benutzen oder
nicht.«

»Was ihr für eine Pflicht haltet, will ich nicht bestreiten«,
antwortete ich, »ich will es nicht beirren, nur wünschen muß ich, daß
es mit so wenig eigener Aufopferung als möglich verbunden ist.«

»Diese wird nicht groß sein«, sagte sie, »auf einige Aufmerksamkeit
in Hinsicht der Genauigkeit und Willigkeit der Leute kömmt es an, und
diese müsset ihr mir schon erlauben.«

Sie zog mit diesen Worten an einer Glockenschnur und bedeutete den
hereinkommenden Diener, daß er ihr den Hausverwalter rufe.

Da dieser erschienen war, sagte sie ihm mit sehr einfachen und kurzen
Worten, daß für einen längeren Aufenthalt für mich in dem Hause auf
das Beste gesorgt werden möge. Als er sich entfernen wollte, trug sie
ihm noch auf, vorerst dem Fräulein zu sagen, wer gekommen sei, sie
würde es später auch selber melden, und zum Abendessen würden wir in
dem Speisezimmer zusammen kommen.

Der Hausverwalter entfernte sich, und Mathilde sagte, jetzt wäre das
Hauptsächlichste getan, und es erübrige später nur noch, sich einen
Bericht über die Mittel und die Art der Ausführung geben zu lassen.

Wir gingen nun auf andere Gespräche über. Mathilde fragte mich um mein
Befinden und um das Allgemeine meiner Beschäftigungen, denen ich mich
in diesem Sommer hingegeben habe.

Ich antwortete ihr, daß mein körperliches Befinden immer gleich wohl
geblieben sei. Man habe mich von Kindheit an zu einem einfachen Leben
angeleitet, und dieses, verbunden mit viel Aufenthalt im Freien, habe
mir eine dauernde und heitere Gesundheit gegeben. Mein geistiges
Befinden hänge von meinen Beschäftigungen ab. Ich suche dieselben
nach meiner Einsicht zu regeln, und wenn sie geordnet und nach meiner
Meinung mit Aussicht auf einen Erfolg vor sich gehen, so geben sie
mir Ruhe und Haltung. Sie sind aber in den letzten Jahren, was meine
Hauptrichtung anbelangt, fast immer dieselben geblieben, nur der
Schauplatz habe sich geändert. Die Nebenrichtungen sind freilich
andere geworden, und dies werde wohl fortdauern, so lange das Leben
daure.

Hierauf fragte ich nach dem Wohlbefinden aller unserer Freunde.

Mathilde antwortete, man könne hierüber sehr befriedigt sein. Mein
Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, daß
sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze
zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmöglich erfülle, er tue seinen
Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepränge und
suche hauptsächlich, daß es in ganzer Stille geschehe, er schmücke
sich sein Leben mit der Kunst, mit der Wissenschaft und mit
andern Dingen, die halb in dieses Gebiet, halb beinahe in das der
Liebhabereien schlagen, und er suche endlich sein Dasein mit jener
Ruhe der Anbetung der höchsten Macht zu erfüllen, die alles Bestehende
ordnet. Was zuletzt auch noch zum Glücke gehört, das Wohlwollen der
Menschen, komme ihm von selber entgegen. Eustach und der ziemlich
selbständige Roland haben sich zum Teile an dieses Gewebe von
Tätigkeiten angeschlossen, zum Teile folgen sie eigenen Antrieben und
Verhältnissen. Gustav strebe erst auf der Leiter seiner Jugend empor,
und sie glaube, er strebe nicht unrichtig. Wenn dieses sei, so werde
dann die letzte Sprosse an jede Höhe dieses Lebens anzulegen sein, auf
der ihm einmal zu wandeln bestimmt sein dürfte. Was endlich sie selber
und Natalie betreffe, so sei das Leben der Frauen immer ein abhängiges
und ergänzendes, und darin fühle es sich beruhigt und befestigt. Sie
beide hätten den Halt von Verwandten und nahen Angehörigen, dem sie
zur Festigung von Natur aus zugewiesen wären, verloren, sie leben
unsicher auf ihrem Besitztume, sie müßten Manches aus sich schöpfen
wie ein Mann und genießen der weiblichen Rechte nur in dem
Widerscheine des Lebens ihrer Freunde, mit dem der Lauf der Jahre sie
verbunden habe. Das sei die Lage, sie daure ihrer Natur nach so fort
und gehe ihrer Entwicklung entgegen. Mich hatte diese Darstellung
Mathildens beinahe ernst gemacht. Die Stimmung milderte sich wieder,
da wir auf die Erzählung von Dingen kamen, die sich in diesem Sommer
zugetragen hatten. Mathilde berichtete mir über die Rosenblüte, über
die Besuche in derselben, über ihr Leben auf dem Sternenhofe und über
das Gedeihen alles dessen, was der Jahresernte entgegen sehe. Ich
beschrieb ihr ein wenig meinen jetzigen Aufenthaltsort, erklärte ihr,
was ich anstrebe, und erzählte ihr, auf welchen Wegen und mit welchen
Mitteln wir es auszuführen versuchen.

Nachdem das Gespräch auf diese Art eine Zeit gedauert hatte, empfahl
ich mich und begab mich in mein Zimmer.

Es war mir dieselbe Wohnung eingeräumt und hergerichtet worden, welche
ich jedes Mal, so oft ich in dem Sternenhofe gewesen war, inne gehabt
hatte. Ein Diener hatte mich von dem Vorzimmer Mathildens in dieselbe
geführt. Sie hatte beinahe genau dasselbe Ansehen wie früher, wenn ich
ein Bewohner dieses Hauses gewesen war. Sogar die Bücher, welche der
Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beschäftigung herbeigeschafft hatte,
waren nicht vergessen worden. Nachdem ich mich eine Weile allein
befunden hatte, trat dieser Hausverwalter herein und fragte mich, ob
alles in der Wohnung in gehöriger Ordnung sei oder ob ich einen Wunsch
habe. Als ich ihm die Versicherung gegeben hatte, daß alles über meine
Bedürfnisse trefflich sei, und nachdem ich ihm für seine Mühe und
Sorgfalt gedankt hatte, entfernte er sich wieder.

Ich überließ mich eine Zeit der Ruhe, dann ging ich in den Räumen
herum, sah bald bei dem einen, bald bei dem andern Fenster auf die
bekannten Gegenstände, auf die nahen Felder und auf die entfernten
Gebirge hinaus und kleidete mich dann zu dem Abendessen anders an.

Zu diesem Abendessen wurde ich bald, da ich spät am Tage in dem
Schlosse angekommen war, gerufen.

Ich begab mich in den Speisesaal und fand dort bereits Mathilden und
Natalien. Mathilde hatte sich anders angekleidet, als ich sie bei
meiner Ankunft in ihrem Zimmer getroffen hatte. Von Natalien wußte ich
dies nicht; aber da sie ein ähnliches Kleid anhatte wie Mathilde, so
vermutete ich es und mußte überzeugt sein, daß man ihr meine Ankunft
gemeldet habe. Wir begrüßten uns sehr einfach und setzten uns zu dem
Tische.

Mir war es äußerst seltsam und befremdend, daß ich mit Mathilden und
Natalien allein in ihrem Hause bei dem Abendtische sitze.

Die Gespräche bewegten sich um gewöhnliche Dinge.

Nach dem Speisen entfernte ich mich bald, um die Frauen nicht zu
belästigen, und zog mich in meine Wohnung zurück.

Dort beschäftigte ich mich eine Zeit mit Papieren und Büchern, die
ich aus meinem Koffer hervorgesucht hatte, geriet dann in Sinnen und
Denken und begab mich endlich zur Ruhe.


Der folgende Tag wurde zu einem einsamen Morgenspaziergange benützt,
dann frühstückten wir mit einander, dann gingen wir in den Garten,
dann beschäftigte ich mich bei den Bildern in den Zimmern. Der
Nachmittag wurde zu einem Gange in Teile des Meierhofes und auf die
Felder verwendet, und der Abend war wie der vorhergegangene.

Mit Natalien war ich, da sie jetzt mit ihrer Mutter allein in dem
Schlosse wohnte, beinahe fremder als ich es sonst unter vielen Leuten
gewesen war.

Wir hatten an diesem Tage nicht viel mit einander gesprochen und nur
die allergewöhnlichsten Dinge.

Der zweite Tag verging wie der erste. Ich hatte die Bilder wieder
angesehen, ich war in den Zimmern mit den altertümlichen Geräten
gewesen und hatte den Gängen, Gemächern und Abbildungen des oberen
Stockwerkes einen Besuch gemacht.

Am dritten Tage meines Aufenthaltes in dem Sternenhofe, nachmittags,
da ich eine Weile in die Zeilen des alten Homer geblickt hatte, wollte
ich meine Wohnung, in der ich mich befand, verlassen und in den Garten
gehen. Ich legte die Worte Homers auf den Tisch, begab mich in das
Vorzimmer, schloß die Tür meiner Wohnung hinter mir ab und ging über
die kleinere Treppe im hinteren Teile des Hauses in den Garten.

Es war ein sehr schöner Tag, keine einzige Wolke stand an dem Himmel,
die Sonne schien warm auf die Blumen, daher es stille von Arbeiten
und selbst vom Gesange der Vögel war. Nur das einfache Scharren und
leise Hämmern der Arbeiter hörte ich, welche mit der Hinwegschaffung
der Tünche des Hauses in der Nähe meines Ausganges auf Gerüsten
beschäftigt waren. Ich ging neben Gebüschen und verspäteten Blumen
einem Schatten zu, welcher sich mir auf einem Sandwege bot, der mit
ziemlich hohen Hecken gesäumt war. Der Sandweg führte mich zu den
Linden, und von diesen ging ich durch eine Überlaubung der Eppichwand
zu. Ich ging an ihr entlang und trat in die Grotte des Brunnens. Ich
war von der linken Seite der Wand gekommen, von welcher man beim
Herannahen den schöneren Anblick der Quellennymphe hat, dafür aber das
Bänkchen nicht gewahr wird, welches in der Grotte der Nymphe gegenüber
angebracht ist. Als ich eingetreten war, sah ich Natalien auf dem
Bänklein sitzen. Sie war sehr erschrocken und stand auf. Ich war
auch erschrocken; dennoch sah ich in ihr Angesicht. In demselben war
ein Schwanken zwischen Rot und Blaß, und ihre Augen waren auf mich
gerichtet.

Ich sagte: »Mein Fräulein, ihr werdet mir es glauben, wenn ich euch
sage, daß ich von dem Laubgange an der linken Seite dieser Wand gegen
die Grotte gekommen bin und euch habe nicht sehen können, sonst wäre
ich nicht eingetreten und hätte euch nicht gestört.«

Sie antwortete nichts und sah mich noch immer an.

Ich sagte wieder: »Da ich euch nun einmal beunruhigt habe, wenn auch
gegen meinen Willen, so werdet ihr mir es wohl gütig verzeihen, und
ich werde mich sogleich entfernen.«

»Ach nein, nein«, sagte sie.

Da ich schwankte und die Bedeutung der Worte nicht erkannte, fragte
ich: »Zürnet ihr mir, Natalie?«

»Nein, ich zürne euch nicht«, antwortete sie, und richtete die Augen,
die sie eben niedergeschlagen hatte, wieder auf mich.

»Ihr seid auf diesen Platz gegangen, um allein zu sein«, sagte ich,
»also muß ich euch verlassen.«

»Wenn ihr mich nicht aus Absicht meidet, so ist es nicht ein Müssen,
daß ihr mich verlasset«, antwortete sie.

»Wenn es nicht eine Pflicht ist, euch zu verlassen«, erwiderte
ich, »so müßt ihr euren Platz wieder einnehmen, von dem ich euch
verscheucht habe. Tut es, Natalie, setzt euch auf eure frühere Stelle
nieder.«

Sie ließ sich auf das Bänkchen nieder, ganz vorn gegen den Ausgang,
und stützte sich auf die Marmorlehne.

Ich kam nun auf diese Weise zwischen sie und die Gestalt zu stehen.
Da ich dieses für unschicklich hielt, so trat ich ein wenig gegen den
Hintergrund. Allein jetzt stand ich wieder aufrecht vor dem leeren
Teile der Bank in der nicht sehr hohen Halle, und da mir auch dieses
eher unziemend als ziemend erschien, so setzte ich mich auf den
andern Teil der Bank und sagte: »Liebt ihr wohl diesen Platz mehr als
andere?«

»Ich liebe ihn«, antwortete sie, »weil er abgeschlossen ist und weil
die Gestalt schön ist. Liebt ihr ihn nicht auch?«

»Ich habe die Gestalt immer mehr lieben gelernt, je länger ich sie
kannte«, antwortete ich.

»Ihr ginget früher öfter her?« fragte sie.

»Als ich durch die Güte eurer Mutter manche Geräte in dem Sternenhofe
zeichnete und fast allein in demselben wohnte, habe ich oft diese
Halle besucht«, erwiderte ich. »Und später auch, wenn ich durch
freundliche Einladung hieher kam, habe ich nie versäumt, an diese
Stelle zu gehen.«

»Ich habe euch hier gesehen«, sagte sie.

»Die Anlage ist gemacht, daß sie das Gemüt und den Verstand erfüllet«,
antwortete ich, »die grüne Wand des Eppichs schließt ruhig ab, die
zwei Eichen stehen wie Wächter und das Weiß des Steins geht sanft von
dem Dunkel der Blätter und des Gartens weg.«

»Es ist alles nach und nach entstanden, wie die Mutter erzählt«,
erwiderte sie, »der Eppich ist erzogen worden, die Wand vergrößert,
erweitert und bis an die Eichen geführt. Selbst in der Halle war
es einmal anders. Die Bank war nicht da. Aber da der Marmor so oft
betrachtet wurde, da die Menschen vor ihm standen oder selbst in der
Halle neben ihm, da die Mutter ebenfalls die Gestalt gerne betrachtete
und lange betrachtete: so ließ sie aus dem gleichen Stoffe, aus dem
die Nymphe gearbeitet ist, diese Bank machen, und ließ dieselbe mit
der kunstreichen, vorchristlich ausgeführten Lehne versehen, damit sie
einerseits zu dem vorhandenen Werke stimme und damit andererseits das
Werk mit Ruhe und Erquickung angesehen werden könne. Mit der Zeit ist
auch die Alabasterschale hieher gekommen.«

»Die Menschen werden von solchen Werken gezogen«, antwortete ich, »und
die Lust des Schauens findet sich.«

»Ich habe diese Gestalt von meiner Kindheit an gesehen und habe mich
an sie gewöhnt«, sagte sie, »haltet ihr nicht auch den bloßen Stein
schon für sehr schön?«

»Ich halte ihn für ganz besonders schön«, erwiderte ich.

»Mir ist immer, wenn ich ihn lange betrachte«, sagte sie, »als hätte
er eine sehr große Tiefe, als sollte man in ihn eindringen können und
als wäre er durchsichtig, was er nicht ist. Er hält eine reine Fläche
den Augen entgegen, die so zart ist, daß sie kaum Widerstand leistet
und in der man als Anhaltspunkte nur die vielen feinen Splitter
funkeln sieht.«

»Der Stein ist auch durchsichtig«, antwortete ich, »nur muß man eine
dünne Schichte haben, durch die man sehen will. Dann scheint die Welt
fast goldartig, wenn man sie durch ihn ansieht. Wenn mehrere Schichten
übereinander liegen, so werden sie in ihrem Anblicke von Außen weiß,
wie der Schnee, der auch aus lauter durchsichtigen kleinen Eisnadeln
besteht, weiß wird, wenn Millionen solcher Nadeln auf einander
liegen.«

»So habe ich nicht unrecht empfunden«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte ich, »ihr habt recht geahnt.«

»Wenn die Edelsteine nicht nach dem geachtet werden, was sie kosten«,
sagte sie, »sondern nach dem, wie sie edel sind, so gehört der Marmor
gewiß unter die Edelsteine.«

»Er gehört unter dieselben, er gehört gewißlich unter dieselben«,
erwiderte ich. »Wenn er auch als bloßer Stoff nicht so hoch im Preise
steht wie die gesuchten Steine, die nur in kleinen Stücken vorkommen,
so ist er doch so auserlesen und so wunderbar, daß er nicht bloß in
der weißen, sondern auch in jeder andern Farbe begehrt wird, daß man
die verschiedensten Dinge aus ihm macht, und daß das Höchste, was
menschliche bildende Kunst darzustellen vermag, in der Reinheit des
weißen Marmors ausgeführt wird.«

»Das ist es, was mich auch immer sehr ergriff, wenn ich hier saß und
betrachtete«, sagte sie, »daß in dem harten Steine das Weiche und
Runde der Gestaltung ausgedrückt ist, und daß man zu der Darstellung
des Schönsten in der Welt den Stoff nimmt, der keine Makel hat. Dies
sehe ich sogar immer an der Gestalt auf der Treppe unsers Freundes,
welche noch schöner und ehrfurchterweckender als dieses Bildwerk
hier ist, wenngleich ihr Stoff in der Länge der vielen Jahre, die er
gedauert hat, verunreinigt worden war.«

»Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung«, entgegnete ich, »daß die Menschen
in den edelsten und selbst hie und da ältesten Völkern zu diesem
Stoffe griffen, wenn sie hohes Göttliches oder Menschliches bilden
wollten, während sie Ausschmückungen in Laubwerk, Simsen, Säulen,
Tiergestalten und selbst untergeordnete Menschen- und Götterbilder
aus farbigem Marmor, aus Sandstein, aus Holz, Ton, Gold oder Silber
verfertigten. Es wäre zugänglicherer, behandelbarerer Stoff gewesen:
Holz, Erde, weicher Stein, manche Metalle; sie aber gruben weißen
Marmor aus der Erde und bildeten aus ihm. Aber auch die andern
Edelsteine, aus denen man verschiedene Dinge macht, geschnittene
Steine, allerlei Gestalten, Blumen- und Zierwerk, so wie endlich
diejenigen, die man besonders Edelsteine nennt und zum Schmucke der
menschlichen Gestalt und hoher Dinge anwendet, haben in ihrem Stoffe
etwas, das anzieht und den menschlichen Geist zu sich leitet, es ist
nicht bloß die Seltenheit oder das Schimmern, das sie wertvoll macht.«

»Habt ihr auch die Edelsteine kennen zu lernen gesucht?« fragte sie.

»Ein Freund hat mir Vieles von ihnen gezeigt und erklärt«, antwortete
ich.

»Sie sind freilich für die Menschen sehr merkwürdig«, sagte sie.

»Es ist etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen«, antwortete ich,
»gleichsam ein Geist in ihrem Wesen, der zu uns spricht, wie zum
Beispiele in der Ruhe des Smaragdes, dessen Schimmerpunkten kein
Grün der Natur gleicht, es müßte nur auf Vogelgefiedern, wie das des
Colibri, oder auf den Flügeldecken von Käfern sein - wie in der Fülle
des Rubins, der mit dem rosensammtnen Lichtblicke gleichsam als der
vornehmste unter den gefärbten Steinen zu uns aufsieht - wie in dem
Rätsel des Opals, der unergründlich ist - und wie in der Kraft des
Diamantes, der wegen seines großen Lichtbrechungsvermögens in einer
Schnelligkeit wie der Blitz den Wechsel des Feuers und der Farben
gibt, den kaum die Schneesterne noch der Sprühregen des Wasserfalles
haben. Alles, was den edlen Steinen nachgemacht wird, ist der Körper
ohne diesen Geist, es ist der inhaltleere, spröde, harte Glanz statt
der reichen Tiefe und Milde.«

»Ihr habt von der Perle nicht gesprochen.«

»Sie ist kein Edelstein, gesellt sich aber im Gebrauche gerne zu ihm.
In ihrem äußern Ansehen ist sie wohl das Bescheidenste; aber nichts
schmückt mit dem so sanft umflorten Seidenglanze die menschliche
Schönheit schöner als die Perle. Selbst an dem Kleide eines Mannes, wo
sie etwas hält, wie die Schleife des Halstuches oder wie die Falte des
Brustlinnens, dünkt sie mich das Würdigste und Ernsteste.«

»Und liebt ihr die Edelsteine als Schmuck?« fragte sie.

»Wenn die schönsten Steine ihrer Art ausgewählt werden«, antwortete
ich, »wenn sie in einer Fassung sind, welche richtigen Kunstgesetzen
entspricht, und wenn diese Fassung an der Stelle, wo sie ist, einen
Zweck erfüllt, also notwendig erscheint: dann ist wohl kein Schmuck
des menschlichen Körpers feierlicher als der der Edelsteine.«

Wir schwiegen nach diesen Worten, und ich konnte Natalien jetzt erst
ein wenig betrachten. Sie hatte ein mattes hellgraues Seidenkleid an,
wie sie es überhaupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei ihr
immer der Fall war, bis zum Halse und bis zu den Knöcheln der Hand.
Von Schmuck hatte sie gar nichts an sich, nicht das Geringste, während
ihr Körper doch so stimmend zu Edelsteinen gewesen wäre. Ohrgehänge,
welche damals alle Frauen und Mädchen trugen, hatte weder Mathilde je,
seit ich sie kannte, getragen, noch trug sie Natalie.

In unserem Schweigen sahen wir gleichsam wie durch Verabredung gegen
das rieselnde Wasser.

Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes
gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die
Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das
diesen Ort ganz besonders auszeichnet.«

»Welches Dinges?«

»Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne,
gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein
Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas
Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.«

»Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen
Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen
Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft
wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen
scheinen.«

»Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«,
entgegnete sie, »die Menschen achten nur so wenig auf Beides, weil
sie überall von ihnen umgeben sind. Das Wasser erscheint mir als das
bewegte Leben des Erdkörpers, wie die Luft sein ungeheurer Odem ist.«

»Wie richtig sprecht ihr«, sagte ich, »und es sind auch Menschen
gewesen, die das Wasser sehr geachtet haben; wie hoch haben die
Griechen ihr Meer gehalten, und wie riesenhafte Werke haben die Römer
aufgeführt, um sich das Labsal eines guten Wassers zuzuleiten. Sie
haben freilich nur auf den Körper Rücksicht genommen und haben
nicht, wie die Griechen die Schönheit ihres Meeres betrachteten, die
Schönheit des Wassers vor Augen gehabt; sondern sie haben sich nur
dieses Kleinod der Gesundheit in bester Art verschaffen wollen. Und
ist wohl etwas außer der Luft, das mit größerem Adel in unser Wesen
eingeht als das Wasser? Soll nicht nur das reinste und edelste
sich mit uns vereinigen? Sollte dies nicht gerade in den
gesundheitverderbenden Städten sein, wo sie aber nur Vertiefungen
machen und das Wasser trinken, das aus ihnen kömmt? Ich bin in den
Bergen gewesen, in Tälern, in Ebenen, in der großen Stadt und habe
in der Hitze, im Durste, in der Bewegung den kostbaren Kristall des
Wassers und seine Unterschiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell
in den Bergen und selbst in den Hügeln, vorzüglich wenn er am reinsten
aus dem reinen Granit fließt, und, Natalie, wie schön ist außerdem der
Quell!«

Hatte nun Natalie schon früher einen Durst empfunden und hatte
derselbe ihr Gespräch auf das Wasser gelenkt, oder war durch das
Gespräch ein leichter Durst in ihr hervorgerufen worden: sie stand
nun auf, nahm die Alabasterschale in die Hand, ließ sie sich in dem
sanften Strahle füllen, setzte sie an ihre schönen Lippen, trank einen
Teil des Wassers, ließ das übrige in das tiefere Becken fließen,
stellte die leere Schale an ihren Platz und setzte sich wieder zu mir
auf die Bank.

Mir war das Herz ein wenig gedrückt, und ich sagte: »Wenn wir beide
das Schöne dieses Ortes betrachtet und wenn wir von ihm und von andern
Dingen, auf die er uns führte, gerne gesprochen haben, so ist doch
etwas in ihm, was mir Schmerz erregt.«

»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie.

»Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an
dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank,
auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus
und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.«

Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen
an und sagte: »Dessen erinnert euch, und das macht euch Schmerz?«

»Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals
gemacht«, antwortete ich.

»Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie.

»Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich
mich zu euch«, entgegnete ich.

»War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie.

»Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im
höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in
dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester,
achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und
erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.«

Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über
ihre Wangen herab.

Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen
Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut
seid?«

»Wie meinem Leben«, antwortete sie.

Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe
es nicht geglaubt.«

»Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie.

»Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein,
so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich
wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das
Blau des Himmels tief ist. Ich habe euch mehrere Jahre gekannt, ihr
waret stets bedeutend vor der herrlichen Gestalt eurer Mutter und der
eures ehrwürdigen Freundes, ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen
waret und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele
genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater, Mutter, Schwester -
nein, Natalie, noch tiefer, tiefer -«

Sie sah mich bei diesen Worten sehr freundlich an, ihre Tränen flossen
noch häufiger, und sie reichte mir ihre Hand herüber.

Ich faßte ihre Hand, ich konnte nichts sagen und blickte sie nur an.

Nach mehreren Augenblicken ließ ich ihre Hand los und sagte: »Natalie,
es ist mir nicht begreiflich, wie ist es denn möglich, daß ihr mir gut
seid, mir, der gar nichts ist und nichts bedeutet?«

»Ihr wißt nicht, wer ihr seid«, antwortete sie. »Es ist gekommen, wie
es kommen mußte. Wir haben viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir
sind oft den ganzen Winter in derselben gewesen, wir haben Reisen
gemacht, haben verschiedene Länder und Städte gesehen, wir sind in
London, Paris und Rom gewesen. Ich habe viele junge Männer kennen
gelernt. Darunter sind wichtige und bedeutende gewesen. Ich
habe gesehen, daß mancher Anteil an mir nahm; aber es hat mich
eingeschüchtert, und wenn einer durch sprechende Blicke oder durch
andere Merkmale es mir näher legte, so entstand eine Angst in mir, und
ich mußte mich nur noch ferner halten. Wir gingen wieder in die Heimat
zurück. Da kamet ihr eines Sommers in den Asperhof, und ich sah euch.
Ihr kamet im nächsten Sommer wieder. Ihr waret ohne Anspruch, ich sah,
wie ihr die Dinge dieser Erde liebtet, wie ihr ihnen nach ginget und
wie ihr sie in eurer Wissenschaft hegtet - ich sah, wie ihr meine
Mutter verehrtet, unsern Freund hochachtetet, den Knaben Gustav
beinahe liebtet, von eurem Vater, eurer Mutter und eurer Schwester nur
mit Ehrerbietung sprachet, und da - - da -«

»Da, Natalie?«

»Da liebte ich euch, weil ihr so einfach, so gut und doch so ernst
seid.«

»Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein Ding dieser Erde zu
lieben vermochte.«

»Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden, wenn ich in den Feldern
herumging.«

»Ich habe es ja nicht gewußt, Natalie, und weil ich es nicht wußte, so
mußte ich mein Inneres verbergen und gegen jedermann schweigen, gegen
den Vater, gegen die Mutter, gegen die Schwester und sogar gegen mich.
Ich bin fortgefahren, das zu tun, was ich für meine Pflicht erachtete,
ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre Zusammensetzung
aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen gemessen, ich bin auf
den Rat eures Freundes einen Sommer beschäftigungslos in dem Asperhofe
gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und zu der Grenze des
Eises emporgestiegen. Ich konnte nur eure Mutter, euren Freund und
euren Bruder immer wärmer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den
Höhen der Berge war, habe ich euer Bild in dem heitern Himmel gesehen,
der über mir ausgespannt war, wenn ich auf die festen, starren Felsen
blickte, so erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denselben
webte, wenn ich auf die Länder der Menschen hinausschaute, so war es
in der Stille, die über der Welt gelagert war, und wenn ich zu Hause
in die Züge der Meinigen blickte, so schwebte es auch in denen.«

»Und nun hat sich alles recht gelöset.«

»Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.«

»Mein teurer Freund!«

Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen
schweigend da.


Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert, und
wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht
eigen war. Nataliens Augen, in welche ich schauen konnte, standen in
einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte.
Das unermüdlich fließende Wasser, die Alabasterschale, der Marmor
waren verjüngt; die weißen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar
im Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüssigkeit rann,
plätscherte oder pippte oder tönte im einzelnen Falle anders; das
sonnenglänzende Grün von draußen sah als ein neues freundlich herein,
und selbst das Hämmern, mit welchem man die Tünche von den Mauern des
Hauses herabschlug, tönte jetzt als ein ganz verschiedenes in die
Grotte von dem, das ich gehört hatte, als ich aus dem Hause gegangen
war.

Nach einer geraumen Weile sagte Natalie: »Und von dem Abende im
Hoftheater habt ihr auch nie etwas gesprochen.«

»Von welchem Abende, Natalie?«

»Als König Lear aufgeführt wurde.«

»Ihr seid doch nicht das Mädchen in der Loge gewesen?«

»Ich bin es gewesen.«

»Nein, ihr seid so blühend wie eine Rose, und jenes Mädchen war blaß
wie eine weiße Lilie.«

»Es mußte mich der Schmerz entfärbt haben. Ich war kindisch, und es
hat mir damals wohlgetan, in euren Augen allein unter allen denen, die
die Loge umgaben, ein Mitgefühl mit meiner Empfindung zu lesen. Diese
Empfindung wurde durch euer Mitgefühl zwar noch stärker, so daß
sie beinahe zu mächtig wurde; aber es war gut. Ich habe nie einer
Vorstellung beigewohnt, die so ergreifend gewesen wäre. Ich sah es
als einen günstigen Zufall an, daß mir eure Augen, die bei dem Leiden
des alten Königs übergeflossen waren, bei dem Fortgehen aus dem
Schauspielhause so nahe kamen. Ich glaubte ihnen mit meinen Blicken
dafür danken zu müssen, daß sie mir beigestimmt hatten, wo ich sonst
vereinsamt gewesen wäre. Habt ihr das nicht erkannt?«

»Ich habe es erkannt und habe gedacht, daß der Blick des Mädchens
wohlwollend sei, und daß er ein Einverständnis über unsere
gemeinschaftliche Empfindung bei der Vorstellung bedeuten könne.«

»Und ihr habt mich also nicht wieder erkannt?«

»Nein, Natalie.«

»Ich habe euch gleich erkannt, als ich euch in dem Asperhofe sah.«

»Es ist mir lieb, daß es eure Augen gewesen sind, die mir den Dank
gesagt haben; der Dank ist tief in mein Gemüt gedrungen. Aber wie
konnte es auch anders sein, da eure Augen das Liebste und Holdeste
sind, was für mich die Erde hat.«

»Ich habe euch schon damals in meinem Herzen höher gestellt als die
andern, obwohl ihr ein Fremder waret und obwohl ich denken konnte, daß
ihr mir in meinem ganzen Leben fremd bleiben werdet.«

»Natalie, was mir heute begegnet ist, bildet eine Wendung in meinem
Leben, und ein so tiefes Ereignis, daß ich es kaum denken kann. Ich
muß suchen, alles zurecht zu legen und mich an den Gedanken der
Zukunft zu gewöhnen.«

»Es ist ein Glück, das uns ohne Verdienst vom Himmel gefallen, weil es
größer ist als jedes Verdienst.«

»Drum lasset uns es dankbar aufnehmen.«

»Und ewig bewahren.«

»Wie war es gut, Natalie, daß ich die Worte Homers, die ich heute
nachmittag las, nicht in mein Herz aufnehmen konnte, daß ich das Buch
weglegte, in den Garten ging und daß das Schicksal meine Schritte zu
dem Marmor des Brunnens lenkte.«

»Wenn unsere Wesen zu einander neigten, obgleich wir es nicht
gegenseitig wußten, so würden sie sich doch zugeführt worden sein,
wann und wo es immer geschehen wäre, das weiß ich nun mit Sicherheit.«

»Aber sagt, warum habt ihr mich denn gemieden, Natalie?«

»Ich habe euch nicht gemieden, ich konnte mit euch nicht sprechen, wie
es mir in meinem Innern war, und ich konnte auch nicht so sein, als
ob ihr ein Fremder wäret. Doch war mir eure Gegenwart sehr lieb. Aber
warum habt denn auch ihr euch ferne von mir gehalten?«

»Mir war wie euch. Da ihr so weit von mir waret, konnte ich mich nicht
nahen. Eure Gegenwart verherrlichte mir Alles, was uns umgab, aber das
dunkle künftige Glück schien mir unerreichbar.«

»Nun ist doch erfüllet, was sich vorbereitete.«

»Ja, es ist erfüllt.«

Nach einem kleinen Schweigen fuhr ich fort: »Ihr habt gesagt, Natalie,
daß wir das Glück, das uns vom Himmel gefallen ist, ewig aufbewahren
sollen. Wir sollen es auch ewig aufbewahren. Schließen wir den Bund,
daß wir uns lieben wollen, so lange das Leben währt, und daß wir treu
sein wollen, was auch immer komme und was die Zukunft bringe, ob es
uns aufbewahrt ist, daß wir in Vereinigung die Sonne und den Himmel
genießen, oder ob jedes allein zu beiden emporblickt und nur des
andern mit Schmerzen gedenken kann.«

»Ja, mein Freund, Liebe, unveränderliche Liebe, so lange das Leben
währt, und Treue, was auch die Zukunft von Gunst oder Ungunst bringen
mag.«

»O Natalie, wie wallt mein Herz in Freude! Ich habe es nicht geahnt,
daß es so entzückend ist, euch zu besitzen,- die mir unerreichbar
schien.«

»Ich habe auch nicht gedacht, daß ihr euer Herz von den großen Dingen,
denen ihr ergeben waret, wegkehren und mir zuwenden werdet.«

»O meine geliebte, meine teure, ewig mir gehörende Natalie!«

»Mein einziger, mein unvergeßlicher Freund!«

Ich war von Empfindung überwältigt, ich zog sie näher an mich und
neigte mein Angesicht zu ihrem. Sie wendete ihr Haupt herüber und gab
mit Güte ihre schönen Lippen meinem Munde, um den Kuß zu empfangen,
den ich bot.

»Ewig für dich allein«, sagte ich.

»Ewig für dich allein«, sagte sie leise.

Schon als ich die süßen Lippen an meinen fühlte, war mir, als sei ein
Zittern in ihr und als fließen ihre Tränen wieder.

Da ich mein Haupt wegwendete und in ihr Angesicht schaute, sah ich die
Tränen in ihren Augen.

Ich fühlte die Tropfen auch in den meinen hervorquellen, die ich nicht
mehr zurückhalten konnte. Ich zog Natalien wieder näher an mich, legte
ihr Angesicht an meine Brust, neigte meine Wange auf ihre schönen
Haare, legte die eine Hand auf ihr Haupt und hielt sie so sanft umfaßt
und an mein Herz gedrückt. Sie regte sich nicht, und ich fühlte
ihr Weinen. Da diese Stellung sich wieder löste, da sie mir in das
Angesicht schaute, drückte ich noch einmal einen heißen Kuß auf ihre
Lippen zum Zeichen der ewigen Vereinigung und der unbegrenzten Liebe.
Sie schlang auch ihre Arme um meinen Hals und erwiderte den Kuß
zu gleichem Zeichen der Einheit und der Liebe. Mir war in diesem
Augenblicke, daß Natalie nun meiner Treue und Güte hingegeben, daß sie
ein Leben eins mit meinem Leben sei. Ich schwor mir, mit allem, was
groß, gut, schön und stark in mir ist, zu streben, ihre Zukunft zu
schmücken und sie so glücklich zu machen, als es nur in meiner Macht
ist und erreicht werden kann.


Wir saßen nun schweigend neben einander, wir konnten nicht sprechen
und drückten uns nur die Hände als Bestätigung des geschloßnen Bundes
und des innigsten Verständnisses.

Da eine Zeit vergangen war, sagte endlich Natalie: »Mein Freund, wir
haben uns der Fortdauer und der Unaufhörlichkeit unserer Neigung
versichert, und diese Neigung wird auch dauern; aber was nun geschehen
und wie sich alles Andere gestalten wird, das hängt von unsern
Angehörigen ab, von meiner Mutter, und von euren Eltern.«

»Sie werden unser Glück mit Wohlwollen ansehen.«

»Ich hoffe es auch; aber wenn ich das vollste Recht hätte, meine
Handlungen selber zu bestimmen, so wurde ich nie auch nicht ein
Teilchen meines Lebens so einrichten, daß es meiner Mutter nicht
gefiele; es wäre kein Glück für mich. Ich werde so handeln, so lange
wir beisammen auf der Erde sind. Ihr tut wohl auch so?«

»Ich tue es; weil ich meine Eltern liebe und weil mir eine Freude nur
als solche gilt, wenn sie auch die ihre ist.«

»Und noch jemand muß gefragt werden.«

»Wer?«

»Unser edler Freund. Er ist so gut, so weise, so uneigennützig. Er
hat unserm Leben einen Halt gegeben, als wir ratlos waren, er ist uns
beigestanden, als wir es bedurften, und jetzt ist er der zweite Vater
Gustavs geworden.«

»Ja, Natalie, er soll und muß gefragt werden; aber sprecht, wenn eins
von diesen nein sagt?«

»Wenn eines nein sagt, und wir es nicht überzeugen können, so wird es
Recht haben, und wir werden uns dann lieben, so lange wir leben, wir
werden einander treu sein in dieser und jener Welt; aber wir dürften
uns dann nicht mehr sehen.«

»Wenn wir ihnen die Entscheidung über uns anheim gegeben haben,
so mußte es wohl so sein; aber es wird gewiß nicht, gewiß nicht
geschehen.«

»Ich glaube mit Zuversicht, daß es nicht geschehen wird.«

»Mein Vater wird sich freuen, wenn ich ihm sage, wie ihr seid, er wird
euch lieben, wenn er euch sieht, die Mutter wird euch eine zweite
Mutter sein und Klotilde wird sich euch mit ganzer Seele zuwenden.«

»Ich verehre eure Eltern und liebe Klotilde schon so lange, als ich
euch von ihnen reden und erzählen hörte. Mit meiner Mutter werde ich
noch heute sprechen, ich könnte die Nacht nicht über das Geheimnis
herauf gehen lassen. Wenn ihr zu euren Eltern reiset, sagt ihnen, was
geschehen ist, und sendet bald Nachricht hieher.«

»Ja, Natalie.«

»Geht ihr von hier wieder in die Berge?«

»Ich wollte es; nun aber hat sich Wichtigeres ereignet, und ich muß
gleich zu meinen Eltern. Nur auf Kurzes will ich, so schnell es geht,
in meinen jetzigen Standort reisen, um die Arbeiten abzubestellen, die
Leute zu entlassen und Alles in Ordnung zu bringen.«

»Das muß wohl so sein.«

»Die Antwort meiner Eltern bringt dann nicht eine Nachricht, sondern
ich selber.«

»Das ist noch erfreulicher. Mit unserm Freunde wird wohl hier geredet
werden.«

»Natalie, dann habt ihr eine Schwester an Klotilden und ich einen
Bruder an Gustav.«

»Ihr habt ihn ja immer sehr geliebt. Alles ist so schön daß es fast zu
schön ist.«

Dann sprachen wir von der Zurückkunft der Männer, was sie sagen würden
und wie unser Gastfreund die schnelle Wendung der Dinge aufnehmen
werde.

Zuletzt, als die Gemüter zu einer sanfteren Ruhe zurückgekehrt waren,
erhoben wir uns, um in das Haus zu gehen. Ich bot Natalien meinen Arm,
den sie annahm. Ich führte sie der Eppichwand entlang, ich führte
sie durch einen schönen Gang des Gartens, und wir gelangten dann in
offnere, freie Stellen, in denen wir eine Umsicht hatten.

Als wir da eine Strecke vorwärts gekommen waren, sahen wir Mathilden
außerhalb des Gartens gegen den Meierhof gehen. Das Pförtchen, welches
von dem Garten gegen den Meierhof führt, war in der Nähe und stand
offen.

»Ich werde meiner Mutter folgen und werde gleich jetzt mit ihr
sprechen«, sagte Natalie.

»Wenn ihr es für gut haltet, so tut es«, erwiderte ich.

»Ja, ich tue es, mein Freund. Lebt wohl.«

»Lebt wohl.«

Sie zog ihren Arm aus dem meinigen, wir reichten uns die Hände,
drückten sie uns, und Natalie schlug den Weg zu dem Pförtchen ein.

Ich sah ihr nach, sie blickte noch einmal gegen mich um, ging dann
durch das Pförtchen, und das graue Seidenkleid verschwand unter den
grünen Hecken des Grundes.

Ich ging in das Haus und begab mich in meine Wohnung.

Da lag das Buch, in welchem die Worte Homers waren, die heute die
Gewalt über mein Herz verloren hatten - es lag, wie ich es auf den
Tisch gelegt hatte. Was war indessen geschehen! Die schönste Jungfrau
dieser Erde hatte ich an mein Herz gedrückt. Aber was will das sagen?
Das edelste, wärmste, herrlichste Gemüt ist mein, es ist mir in Liebe
und Neigung zugetan. Wie habe ich das verdient, wie kann ich es
verdienen?!

Ich setzte mich nieder und sah gegen die Ruhe der heitern Luft hinaus.

Ich verließ an diesem Tage gar nicht mehr das Haus. Gegen Abend ging
ich in den Gang, der im Norden des Hauses hinläuft, und sah auf den
Garten hinaus. Auf einer freien Stelle, in welcher ein weißer Pfad
durch Wiesengrün hingeht, sah ich Mathilden mit Natalien wandeln.

Ich ging wieder in mein Zimmer zurück.

Als es dunkelte, wurde ich zu dem Abendessen gerufen.

Da Mathilde und Natalie in den Speisesaal getreten waren, lud mich
Mathilde mit einem sanften Lächeln und mit der Freundlichkeit, die ihr
immer eigen war, ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen.



Die Entfaltung

Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum Speisen zusammen gekommen, in
dem wir die Zeit her, die ich im Schlosse gewesen war, unser Mahl am
Morgen, Mittag und Abend, wie es die Tageszeit brachte, eingenommen
hatten, der Tisch war mit dem klaren, weißen, feinen Linnen gedeckt,
in das schönere und altertümlichere Blumen als jetzt gebräuchlich
sind, gleichsam wie Silber in Silber eingewebt waren, der Diener stand
mit den weißen Handschuhen hinter uns, der Hausverwalter ging in
dem Zimmer hin und her, und es war an der Wand der Schrein mit den
Fächerabteilungen, in denen die mannigfaltigen Dinge sich befanden,
die in einem Speisezimmer stets nötig sind: aber heute war mir alles
wie feenhaft, Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid mit
dunkleren Streifen an, und um die Schultern war ein Gewebe von
schwarzen Spitzen. Sie kleidete sich jedes Mal, wenn ein Gast da war,
zum Speisen neu an, hatte es bisher meinetwillen auch getan und hatte
es an diesem Abende nicht unterlassen. Mit dem feinen, lieben und
freundlichen Angesichte, das durch die dunkle Seide fast noch feiner
und schöner wurde, ließ sie sich in ihren Armstuhl zwischen uns
nieder. Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht Zeit
gefunden, ihr Kleid zu wechseln, sie hatte dasselbe lichtgraue
Seidenkleid an, das sie am Nachmittage getragen hatte und das mir so
lieb geworden war. Ich getraute mir fast nicht, sie anzusehen, und
auch sie hatte die großen, schönen, unbeschreiblich edlen Augen
größtenteils auf die Mutter gerichtet. So vergingen einige
Augenblicke. Es wurde das Gebet gesprochen, das Mathilde immer in
ihrem Armstuhle sitzend stille mit gefalteten Händen verrichtete und
das daher die Anderen ebenfalls sitzend und stille vollbrachten. Als
dieses geschehen war, wurden, wie es der Gebrauch in diesem Hause
eingeführt hatte, die Flügeltüren geöffnet, ein Diener trat mit einem
Topfe herein, setzte ihn auf den Tisch, der Hausverwalter nahm den
Deckel desselben ab und sagte, wie er immer tat: »Ich wünsche sehr
wohl zu speisen.«

Mathilde streckte den Arm mit dem dunkeln Seidenkleide aus, nahm den
großen silbernen Löffel und schöpfte, wie sie es sich nie nehmen ließ
zu tun, Suppe für uns auf die Teller, welche der Diener darreichte.
Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ordnung sah, das Zimmer nach
seiner Gepflogenheit verlassen. Das Abendessen war nun wie alle Tage.
Mathilde sprach freundlich und heiter von verschiedenen Gegenständen,
die sich eben darboten, und vergaß nicht, der abwesenden Freunde
zu erwähnen und des Vergnügens zu gedenken, das ihre Rückkunft
veranlassen werde. Sie sprach von der Ernte, von dem Segen, der heuer
überall so reichlich verbreitet sei, und wie sich alles, was sich auf
der Erde befinde, doch zuletzt immer wieder in das Rechte wende. Als
die Zeit des Abendessens vorüber war, erhob sie sich, und es wurden
die Anstalten gemacht, daß sich jedes in seine Wohnung begebe. Mit
derselben sanften Güte, mit der sie mich vor dem Abendessen begrüßt
hatte, verabschiedete sie sich nun, wir wünschten uns wechselseitig
eine glückliche Ruhe und trennten uns.

Als ich in meinem Zimmer angekommen war, trat ich in der Nacht dieses
Tages, der für mich in meinem bisherigen Leben am merkwürdigsten
geworden war, an das Fenster und blickte gegen den Himmel. Es stand
kein Mond an demselben und keine Wolke, aber in der milden Nacht
brannten so viele Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt und
als berührten sie sich gleichsam mit ihren Spitzen. Die Feierlichkeit
traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender
als sonst, wenn ich sie auch mit großer Aufmerksamkeit betrachtet
hatte. Ich mußte mich in der neuen Welt erst zurecht finden. Ich sah
lange mit einem sehr tiefen Gefühle zu dem sternbedeckten Gewölbe
hinauf. Mein Gemüt war so ernst, wie es nie in meinem ganzen Leben
gewesen war. Es lag ein fernes, unbekanntes Land vor mir. Ich ging
zu dem Lichte, das auf meinem Tische brannte und stellte meinen
undurchsichtigen Schirm vor dasselbe, daß seine Helle nur in die
hinteren Teile des Zimmers falle und mir den Schein des Sternenhimmels
nicht beirre. Dann ging ich wieder zu dem Fenster und blieb vor
demselben. Die Zeit verfloß, und die Nachtfeier ging indessen fort.
Wie es sonderbar ist, dachte ich, daß in der Zeit, in der die kleinen,
wenn auch vieltausendfältigen Schönheiten der Erde verschwinden und
sich erst die unermeßliche Schönheit des Weltraums in der fernen,
stillen Lichtpracht auftut, der Mensch und die größte Zahl der andern
Geschöpfe zum Schlummer bestimmt ist! Rührt es daher, daß wir nur auf
kurze Augenblicke und nur in der rätselhaften Zeit der Traumwelt zu
jenen Größen hinan sehen dürfen, von denen wir eine Ahnung haben, und
die wir vielleicht einmal immer näher und näher werden schauen dürfen?
Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung haben? Oder ist es der
großen Zahl der Menschen nur darum bloß in kurzen schlummerlosen
Augenblicken gestattet, zu dem Sternenhimmel zu schauen, damit die
Herrlichkeit desselben uns nicht gewöhnlich werde und die Größe sich
nicht dadurch verliere? Aber ich bin ja wiederholt in ganzen Nächten
allein gefahren, die Sternbilder haben sich an dem Himmel sachte
bewegt, ich habe meine Augen auf sie gerichtet gehalten, sie sind
dunkelschwarzen, gestaltlosen Wäldern oder Erdrändern zugesunken,
andere sind im Osten aufgestiegen, so hat es fortgedauert,
die Stellungen haben sich sanft geändert und das Leuchten hat
fortgelächelt, bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter wurde,
das Morgenrot im Osten erschien und die Sterne wie ein ausgebranntes
Feuerwerksgerüste erloschen waren. Haben da meine vom Nachtwachen
brennenden Augen die verschwundene stille Größe nicht für höher
erkannt als den klaren Tag, der alles deutlich macht? Wer kann wissen,
wie dies ist. Wie wird es jenen Geschöpfen sein, denen nur die Nacht
zugewiesen ist, die den Tag nicht kennen? Jenen großen, wunderbaren
Blumen ferner Länder, die ihr Auge öffnen, wenn die Sonne
untergegangen ist, und die ihr meistens weißes Kleid schlaff und
verblüht herabhängen lassen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder
den Tieren, denen die Nacht ihr Tag ist? Es war eine Weihe und eine
Verehrung des Unendlichen in mir.

Träumend, ehe ich entschlief, begab ich mich auf mein Lager, nachdem
ich vorher das Licht ausgelöscht und die Vorhänge der Fenster
absichtlich nicht zugezogen hatte, damit ich die Sterne hereinscheinen
sähe.


Des anderen Morgens sammelte ich mich, um mir bewußt zu werden, was
geschehen ist und welche tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich
kleidete mich an, um in das Freie zu gehen und mein Angesicht und
meinen Körper der kühlen Morgenluft zu geben.

Als ich mein Zimmer verlassen hatte, suchte ich einen Gang zu
gewinnen, der im südlichen Teile des Schlosses in der Länge desselben
dahin läuft. Seine Fenster münden in den Hof und von ihm gehen Türen
in die, gegen Mittag liegenden Zimmer Mathildens und Nataliens. Diese
Türen, einst vielleicht zum Gebrauche für Gäste bestimmt, waren
jetzt meistens geschlossen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer
hergestellt war. Ich hatte den Gang darum aufgesucht, weil er an der
Westseite des Schlosses zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts
geht und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich des Morgens geöffnet
wurde und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite, trockene
Wege gelangen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite führen,
als es durch den Hauptausgang des Schlosses möglich gewesen wäre. Die
Bewohnerinnen der Zimmer, die an den Gang stießen, glaubte ich darum
nicht stören zu können, weil das Steinpflaster des Ganges seiner
ganzen Länge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine
Tritte hören ließ.

Außerdem hatte die Sonne auch bereits einen so hohen Morgenbogen
zurückgelegt, daß zu vermuten war, daß alle im Schlosse schon längst
aufgestanden sein würden.

Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen
war, sah ich eine Tür offen stehen, von der ich vermutete, daß sie
zu den Zimmern der Frauen führen müsse. War die Tür offen, weil man
fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine
Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer
Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wußte,
daß die Tür doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so
nahe war, die mich ins Freie führen sollte, so beschloß ich, vorbei
zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem
weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tür
angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermutet hatte, bestätigte
sich, die Tür ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit
gewöhnlichen Geräten versehen. Aber nicht bloß in den Vorsaal konnte
ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen
Glastür an den Vorsaal stieß, welche Glastür noch überdies halb
geöffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Wänden
hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast
mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen
und von welchem ein sehr reicher altertümlicher Teppich nieder hing.
Sie war vollständig, gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte
sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schönen Locken waren auf dem
Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem
getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halse und schloß
dort ohne irgend einer fremden Zutat. Es war wieder von lichtem,
grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rote Streifen. Es
schloß die Hüften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis
auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum
Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen,
die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der
Oberkörper war sogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war
ausgestreckt und stützte sich mittelst eines aufrecht stehenden
Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte
Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schöne
Angesicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jetzt von den Lidern
bedeckt waren, sich gesenkt und sie dächte nach. Eine solche reine,
feine Geistigkeit war in ihren Zügen, wie ich sie an ihr, die immer
die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand
auch, was die Gestalt sprach, ich hörte gleichsam ihre inneren Worte:
»Es ist nun eingetreten!« Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der
Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht
sehen, weil ihr Angesicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete
nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise
vorüber und die Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichsam mit einem
Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beseelt zu
sehen, die ich hatte, von der Empfindung, sich das errungene, kaum
gehoffte und so hoch gehaltene Gut geistig zu sichern, sich klar zu
machen, was man erhalten hat und in welche neue, unermeßlich wichtige
Wendung des Lebens man eingetreten sei. Ich konnte es kaum fassen, daß
ich es sei, um den eine Gestalt, die das Schönste ausdrückt, was mir
bis jetzt bekannt geworden ist, eine Gestalt, die man wohl auch stolz
geheißen, die sich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in diese
tiefe sinnende Empfindung gesunken sei. Ich dachte mir, daß ich, so
lange ich lebe, und sollte mein Leben bis an die äußerste Grenze des
menschlichen Alters oder darüber hinaus gehen, mit jedem Tropfen
meines Blutes, mit jeder Faser meines Herzens sie lieben werde, sie
möge leben oder tot sein, und daß ich sie fort und fort durch alle
Zeiten in der tiefsten Seele meiner Seele tragen werde. Es erschien
mir als das süßeste Gefühl, sie nicht nur in diesem Leben, sondern in
tausend Leben, die nach tausend Toden folgen mögen, immer lieben zu
können. Wie viel hatte ich in der Welt gesehen, wie viel hatte mich
erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie ist
jetzt alles nichts, und wie ist es das höchste Glück, eine reine,
tiefe, schöne menschliche Seele ganz sein eigen nennen zu können, ganz
sein eigen!


Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und
ging auf dem Wege fort, der an dieser Seite vor dem Schlosse vorbei
führt und dann in die Felder hinaus geht. Er ist breit, mit feinem
Sande belegt und eignet sich daher seiner Trockenheit willen ganz
besonders zu Morgenspaziergängen. Er ist von dem vorigen Besitzer des
Schlosses angelegt und von Mathilden verbessert worden. Er geht von
dem Pförtchen nach beiden Richtungen, nach Norden und nach Süden,
ziemlich weit fort und bildet auf diese Weise zu dem Schlosse eine
Berührungslinie. Roland hatte ihn scherzweise auch immer den Berührweg
genannt. Die Obstbäume, die ihn jetzt häufig säumen, hat Mathilde
meistens schon erwachsen an ihn versetzt. Früher war der ganze Weg
eine Allee von Pappeln gewesen; allein, da er ganz gerade durch die
Gegend geht und mit den geraden Bäumen bepflanzt war, so erschien
er sehr unschön und für einen Lustweg, was er sein sollte, wenig
geeignet. Nach Beratungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die
Pappeln, welche außerdem auch den Feldern sehr schädlich waren, nach
und nach beseitigt. Sie waren gefällt und ihre Wurzeln ausgegraben
worden. Da man die Obstbäume an ihre Stelle setzte, vermied man es
absichtlich, an allen Plätzen, an welchen Pappeln gestanden waren,
Obstbäume zu pflanzen, damit nicht wieder statt der Pappelallee eine
Obstbaumallee würde, was zwar minder unschön als früher gewesen wäre,
aber doch immer noch nicht schön. Durch diese Unterbrechung der
Baumpflanzung erhielt der Weg, dessen gerade Richtung schwer zu
beseitigen gewesen wäre und die doch sonst zu eigentümlich war,
als daß man sie hätte abändern sollen, wenn man nicht Alles nach
ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die nötige Abwechslung.
Mitternachtwärts von dem Schlosse führt er durch Wiesen und Felder an
Gebüschen hin, steigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine
Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder, hat dort besonders
schöne Apfelbäume an seinen Seiten, wölbt sich sanft über einen
Ackerrücken und gewährt von ihm eine schöne Aussicht in die Gebirge.

Ich schlug die Richtung nach Süden ein, wie ich überhaupt sehr gerne
bei dem Beginne eines Spazierganges so gehe, daß ich leicht nach
Mittag sehe, das Licht vor mir habe und in den schöneren Glanz und
die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie
gestern ganz heiter, die Sonne stand in seinem östlichen Teile und
begann die Tropfen, welche an allen Gräsern und an dem Laube der Bäume
hingen, aufzusaugen. Die Morgenkühle war noch nicht vergangen, obwohl
der Einfluß der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich sah mit
neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als hätten sie sich
verjüngt und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick
gewöhnen. Ich kam auf die Anhöhe und sah auf den langen Zug der
Gebirge. Die blauen Spitzen blickten auf mich herüber, und die
vielen Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich sah auch die
Berghäupter an dem Kargrat, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Mir
war, als wäre es schon viele Jahre, seit ich in jenen Eisfeldern und
Schneegründen gewesen war. Ich ließ, während ich so dastand, die milde
Luft, den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken.
Sonst hatte ich immer irgend ein Buch in meine Tasche gesteckt, wenn
ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht getan.

Mir war jetzt nicht, als sollte ich irgend ein Buch lesen. Ich ging
nach einer Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen schon die
mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach seiner Art brachte und die
schon hie und da ihre eigentümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich
ging so lange auf der Anhöhe des Felderrückens fort, bis sie sich
leicht zu senken anfing, über welche Senkung der Weg noch hinabgeht,
um in dem Tale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden oder
vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der die Eigenschaften
aller jener Fußwege hat, die in unzähligen Richtungen unser Land
durchziehen und auf deren taugliche Beschaffenheit, Verbesserung oder
Verschönerung niemand denkt. Ich ging auf der Senkung des Weges nicht
mehr hinunter, weil ich nicht talwärts kommen wollte, wo die Blicke
beengt sind.

Ich wendete mich um und hatte den Anblick des Schlosses vor mir,
welches jetzt von solcher Bedeutung für mich geworden war. Die Fenster
schimmerten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von der Tünche
befreiten südlichen Mauer schaute sanft zu mir herüber, das dunkle
Dach hob sich von der Bläue der nördlichen Luft ab, und ein leichter
Rauch stieg von einigen seiner Schornsteine auf.

Ich ging langsam auf dem Rücken des Feldes an den Obstbäumen vorüber
meines Weges zurück, bis er sachte gegen das Schloß abwärts zu gehen
begann.

An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir
früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam,
welche die Gestalt Nataliens war. Wir gingen beide schneller, als
wir uns erblickten, um uns früher zu erreichen. Da wir nun zusammen
trafen, blickte mich Natalie mit ihren großen dunkeln Augen freundlich
an und reichte mir die Hand. Ich empfing sie, drückte sie herzlich und
sagte einen innigen Gruß.

»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg
gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt
wirklich gehe.«

»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich.

»Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie,
»dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte
bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen
und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid
angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war.
Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die
Morgenluft zu genießen.«

Ich sah wirklich, daß sie das lichte graue Kleid mit den feinen
tiefroten Streifen nicht mehr an habe, sondern ein einfacheres,
kürzeres, mattbraunes trage. Jenes Kleid wäre freilich zu einem
Morgenspaziergange nicht tauglich gewesen, weil es in reichen Falten
fast bis auf den Fußboden nieder ging. Sie hatte jetzt einen leichten
Strohhut auf dem Haupte, welchen sie immer bei ihren Wanderungen durch
die Felder trug. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß noch so viel Zeit
vor dem Frühmahle sei, daß sie über die Felderanhöhe hinaus und wieder
in das Schloß zurückkommen könne.

»Wohl ist noch so viel Zeit«, erwiderte sie, »ich wäre ja sonst
nicht fortgegangen, weil ich eine Störung in der Hausordnung nicht
verursachen möchte.«

»Dann erlaubt ihr wohl, daß ich euch begleite?« sagte ich.

»Es wird mir sehr lieb sein«, antwortete sie.

Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten den Weg, den ich
gekommen war, zurück.

Ich hätte ihr sehr gerne meinen Arm angeboten; aber ich hatte nicht
den Mut dazu.

Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme
nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den
Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen
hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte
Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?«

»Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht
unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung,
welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in
das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich
habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf,
und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde,
ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«

»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren
Sommers zu atmen«, erwiderte sie.

»Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«,
antwortete ich. »Das weiß ich, wenn ich auf einem hohen Berge stehe
und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer um mich herum
ist. Aber nicht bloß die Luft des Sommers ist erquickend, auch die des
Winters ist es, jede ist es, welche rein ist und in welcher sich nicht
Teile finden, die unserm Wesen widerstreben.«

»Ich gehe oft mit der Mutter an stillen Wintertagen gerade diesen Weg,
auf dem wir jetzt wandeln. Er ist wohl und breit ausgefahren, weil die
Bewohner von Erltal und die der umliegenden Häuser im Winter von ihrem
tief gelegenen Fahrwege eine kleine Abbeugung über die Felder machen
und dann unseren Spazierweg seiner ganzen Länge nach befahren. Da ist
es oft recht schön, wenn die Zweige der Bäume voll von Kristallen
hängen oder wenn sie bereift sind und ein feines Gitterwerk über ihren
Stämmen und Ästen tragen.

Oft ist es sogar, als wenn sich der Reif in der Luft befände und sie
mit ihm erfüllt wäre. Ein feiner Duft schwebt in ihr, daß man die
nächsten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt sehen kann. Ein anderes
Mal ist der Himmel wieder so klar, daß man alles deutlich erblickt. Er
spannt sich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne glänzen, und
wenn wir auf die Höhe der Felder kommen, können wir von ihr den ganzen
Zug der Gebirge sehen. Im Winter ist die Landschaft sehr still, weil
die Menschen sich in ihren Häusern halten, so viel sie können, weil
die Singvögel Abschied genommen haben, weil das Wild in die tieferen
Wälder zurück gegangen ist, und weil selbst ein Gespann nicht den
tönenden Hufschlag und das Rollen der Räder hören läßt, sondern nur
der einfache Klang der Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, daß
irgend wo jemand durch die Stille des Winters fährt. Wir gehen auf der
klaren Bahn dahin, die Mutter leitet die Gespräche auf verschiedene
Dinge, und das Ziel unserer Wanderung ist gewöhnlich die Stelle, wo
der Weg in das Tal hinabzugehen anfängt. In der Stadt habt ihr die
schönen Winterspaziergänge nicht, welche uns das Land gewährt.«

»Nein, Natalie, die haben wir nicht. Wir haben von der dem Winter als
Winter eigentümlichen Wesenheit nichts als die Kälte; denn der Schnee
wird auch aus der Stadt fortgeschafft«, erwiderte ich, »und nicht bloß
im Winter, auch im Sommer hat die Stadt nichts, was sich nur entfernt
mit der Freiheit und Weite des offenen Landes vergleichen ließe.
Eine erweiterte Pflege der Kunst und der Wissenschaft, eine erhöhte
Geselligkeit und die Regierung des menschlichen Geschlechts sind in
der Stadt, und diese Dinge begreifen auch das, was man in der Stadt
sucht. Einen Teil von Wissenschaft und Kunst aber kann man wohl auch
auf dem Lande hegen, und ob größere Zweige der allgemeinen Leitung der
Menschen auch auf das Land gelegt werden könnten, als jetzt geschieht,
weiß ich nicht, da ich hierin zu wenig Kenntnisse habe. Ich trage
schon lange den Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das
Hochgebirge zu gehen und dort eine Zeit zuzubringen, um Erfahrungen zu
sammeln. Es ist seltsam und reizt zur Nachahmung, was uns die Bücher
melden, die von Leuten verfaßt wurden, welche im Winter hochgelegene
Gegenden besucht oder gar die Spitzen bedeutender Berge erstiegen
haben.«

»Wenn es für Leben und Gesundheit keine Gefahr hat, solltet ihr es
tun«, antwortete sie. »Es ist wohl ein Vorrecht der Männer, das
Größere wagen und erfahren zu können. Wenn wir zuweilen im Winter
in großen Städten gewesen sind und dort das Leben der verschiedenen
Menschen gesehen haben, dann sind wir gerne in den Sternenhof
zurückgegangen. Wir haben hier in manchen größeren Zeiträumen alle
Jahreszeiten genossen und haben jeden Wechsel derselben im Freien
kennen gelernt. Wir sind mit Freunden verbunden, deren Umgang uns
veredelt, erhebt, und zu denen wir kleine Reisen machen. Wir haben
einige Ergebnisse der Kunst und in einem gewissen Maße auch der
Wissenschaft, so weit es sich für Frauen ziemt, in unsere Einsamkeit
gezogen.«

»Der Sternenhof ist ein edler und ein würdevoller Sitz«, entgegnete
ich, »er hat sich ein schönes Teil des Menschlichen gesammelt und muß
nicht das Widerwärtige desselben hinnehmen. Aber es mußten auch viele
Umstände zusammentreffen, da es somit werden konnte, wie es ward.«

»Das sagt die Mutter auch«, erwiderte sie, »und sie sagt, sie müsse
der Vorsehung sehr danken, daß sie ihre Bestrebungen so unterstützt
und geleitet habe, weil wohl sonst das Wenigste zu Stande gekommen
wäre.«

Wir hatten in der Zeit dieses Gespräches nach und nach die höchste
Stelle des Weges erreicht. Vor uns ging es wieder abwärts. Wir blieben
eine Weile stehen.

»Sagt mir doch«, begann Natalie wieder, »wo liegt denn das Kargrat, in
welchem ihr euch in diesem Teile des Sommers aufgehalten habt? Man muß
es ja von hier aus sehen können.«

»Freilich kann man es sehen«, antwortete ich, »es liegt fast im
äußersten Westen des Teiles der Kette, der von hier aus sichtbar ist.
Wenn ihr von jenen Schneefeldern, die rechts von der sanftblauen
Kuppe, welche gerade über der Grenzeiche eures Weizenfeldes sichtbar
ist, liegen, und die fast wie zwei gleiche, mit der Spitze nach
aufwärts gerichtete Dreiecke aussehen, wieder nach rechts geht, so
werdet ihr lichte, fast wagrecht gehende Stellen in dem greulichen
Dämmer des Gebirges sehen, das sind die Eisfelder des Kargrats.«

»Ich sehe sie sehr deutlich«, erwiderte sie, »ich sehe auch die
Spitzen, die über das Eis empor ragen. Und auf diesem Eise seid ihr
gewesen?«

»An seinen Grenzen, die es in allen Richtungen umgeben«, antwortete
ich, »und auf ihm selber«.

»Da müßt ihr ja auch deutlich hieher gesehen haben«, sagte sie.

»Die Berggestaltungen des Kargrates, die wir hier sehen«, erwiderte
ich, »sind so groß, daß wir seine Teile wohl von hier aus
unterscheiden können; aber die Abteilungen der hiesigen Gegend sind
so klein, daß ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt werden
können. Das Land liegt wie eine mit Duft überschwebte einfache Fläche
unten. Mit dem Fernrohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen
suchen, und ich habe mir die Bildungen der Hügel und Wälder des
Sternenhofes gesucht.«

»Ach nennt mir doch einige von den Spitzen, die wir von hier aus sehen
können«, sagte sie.

»Das ist die Kargratspitze, die ihr über dem Eise als höchste seht«,
erwiderte ich, »und rechts ist die Glommspitze und dann der Ethern und
das Krummhorn. Links sind nur zwei, der Aschkogel und die Sente.«

»Ich sehe sie«, sagte sie, »ich sehe sie.«

»Und dann sind noch geringere Erhöhungen«, fuhr ich fort, »die sich
gegen die weiteren Berghänge senken, die keinen Namen haben und die
man hier nicht sieht.«

Da wir noch eine Weile gestanden waren, die Berge betrachtet und
gesprochen hatten, wendeten wir uns um und wandelten dem Schlosse zu.

»Es ist doch sonderbar«, sagte Natalie, »daß diese Berge keinen weißen
Marmor hervorbringen, da sie doch so viel verschiedenfarbigen haben.«

»Da tut ihr unseren Bergen ein kleines Unrecht«, antwortete ich, »sie
haben schon Lager von weißem Marmor, aus denen man bereits Stücke
zu mannigfaltigen Zwecken bricht, und gewiß werden sie in ihren
Verzweigungen noch Stellen bergen, wo vielleicht der feinste und
ungetrübteste weiße Marmor ist.«

»Ich würde es lieben, mir Dinge aus solchem Marmor machen zu lassen«,
sagte sie.

»Das könnt ihr ja tun«, erwiderte ich, »kein Stoff ist geeigneter
dazu.«

»Ich könnte aber nach meinen Kräften nur kleine Gegenstände anfertigen
lassen, Verzierungen und dergleichen«, sagte sie, »wenn ich die
rechten Stücke bekommen könnte, und wenn meine Freunde mir mit ihrem
Rate beistanden.«

»Ihr könnt sie bekommen«, antwortete ich, »und ich selber könnte euch
hierin helfen, wenn ihr es wünscht.«

»Es wird mir sehr lieb sein«, erwiderte sie, »unser Freund hat edle
Werke aus farbigem Marmor in seinem Hause ausführen lassen, und ihr
habt ja auch schöne Dinge aus solchem für eure Eltern veranlaßt.«

»Ja, und ich suche noch immer schöne Stücke Marmor zu erwerben, um sie
gelegentlich zu künftigen Werken zu verwenden«, antwortete ich.

»Meine Vorliebe für den weißen Marmor habe ich wohl aus den reichen,
schönen und großartigen Dingen gezogen«, entgegnete sie, »die ich in
Italien aus ihm ausgeführt gesehen habe. Besonders wird mir Florenz
und Rom unvergeßlich sein. Das sind Dinge, die unsere höchste
Bewunderung erregen, und doch, habe ich immer gedacht, ist es
menschlicher Sinn und menschlicher Geist, der sie entworfen und
ausgeführt hat. Euch werden auch Gegenstände bei eurem Aufenthalte im
Freien erschienen sein, die das Gemüt mächtig in Anspruch nehmen.«

»Die Kunstgebilde leiten die Augen auf sich, und mit Recht«,
antwortete ich, »sie erfüllen mit Bewunderung und Liebe. Die
natürlichen Dinge sind das Werk einer anderen Hand, und wenn sie
auf dem rechten Wege betrachtet werden, regen sie auch das höchste
Erstaunen an.«

»So habe ich wohl immer gefühlt«, sagte sie.

»Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele Jahre Werke der Schöpfung
betrachtet«, erwiderte ich, »und dann auch, so weit es mir möglich
war, Werke der Kunst kennen gelernt, und beide entzückten meine
Seele.«

Mit diesen Gesprächen waren wir allmählich dem Schlosse näher gekommen
und waren jetzt bei dem Pförtchen.

An demselben blieb Natalie stehen und sagte die Worte: »Ich habe
gestern sehr lange mit der Mutter gesprochen, sie hat von ihrer Seite
eine Einwendung gegen unseren Bund nicht zu machen.«

Ihre feinen Züge überzog ein sanftes Rot, als sie diese Worte zu mir
sprach. Sie wollte nun sogleich durch das Pförtchen hinein gehen, ich
hielt sie aber zurück und sagte: »Fräulein, ich hielte es nicht für
Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch heute schon einmal
gesehen, ehe wir zusammentrafen. Als ich am Morgen über den Gang
hinter euren Zimmern ins Freie gehen wollte, standen die Türen in
einen Vorsaal und in ein Zimmer offen, und ich sah euch in diesem
letztern an einem mit einem altertümlichen Teppiche behängten
Tischchen, die Hand auf ein Buch gestützt, stehen.«

»Ich dachte an mein neues Schicksal«, sagte sie.

»Ich wußte es, ich wußte es«, antwortete ich, »und mögen die
himmlischen Mächte es so günstig gestalten, als es der Wille derer
ist, die euch wohlwollen.«

Ich reichte ihr beide Hände, sie faßte sie, und wir drückten uns
dieselben.

Darauf ging sie in das Pförtchen ein und über die Treppe empor.

Ich wartete noch ein wenig.

Da sie oben war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieg ich
auch die Treppe empor.


Das ganze Wesen Nataliens schien mir an diesem Morgen glänzender, als
es die ganze Zeit her gewesen war, und ich ging mit einem tief, tief
geschwellten Herzen in mein Zimmer.

Dort kleidete ich mich insoweit um, als es nötig war, die Spuren des
Morgenspazierganges zu beseitigen und anständig zu erscheinen, dann
ging ich, da die Stunde des Frühmahles schon heran nahte, in das
Speisezimmer.

Ich war in demselben allein. Der Tisch war schon gedeckt und Alles zum
Morgenmahle in Bereitschaft gesetzt. Nachdem ich eine Weile gewartet
hatte, kam Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Natalie hatte
sich umgekleidet, sie hatte jetzt ein festlicheres Kleid an als sie
beim Morgenspaziergange getragen hatte, weil sie gleich Mathilden bei
Tische einen Gast durch ein besseres Kleid ehrte. Mit der gewöhnlichen
Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer fast noch größeren Freundlichkeit
als sonst begrüßte mich Mathilde und wies mir meinen Platz an. Wir
setzten uns. Wir waren nun bei dem Frühmahle, wie wir es die mehreren
Tage her gewohnt waren. Dieselben Gegenstände befanden sich auf dem
Tische und derselbe Vorgang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein
Dienstmädchen ab und zu ging und wir in den Zwischenzeiten allein
waren, indem Mathilde nach ihrer Gepflogenheit manche Handlungen,
die bei einem solchen Frühmahle nötig sind, an dem Tische selbst
verrichtete, so wurde doch über unsere besonderen Angelegenheiten
auch jetzt nicht gesprochen. Gewöhnliche Dinge, wie sie sich an
gewöhnlichen Tagen darbieten, bildeten den Inhalt der Gespräche. Teils
Kunst, teils die schönen Tage der Jahreszeit, die eben war, und teils
ein Abschnitt des Aufenthaltes während der Rosenzeit im Asperhofe
wurden abgehandelt. Dann standen wir auf und trennten uns.

Und so wurde auch am ganzen Tage von dem Verhältnisse, in welches ich
zu Natalien getreten war, nichts gesprochen.

Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittags im Garten zusammen.
Mathilde zeigte mir einige Veränderungen, welche sie vorgenommen
hatte. Mehrere zu sehr in geraden Linien gezogene geschorne Hecken,
die sich noch in einem abgelegenen Teile des Gartens befunden hatten,
waren beseitigt worden und hatten einer leichteren und gefälligeren
Anlage Platz gemacht. Blumenbeete waren gezogen worden und mehrere
Pflanzen, welche man erst kennen gelernt hatte, welche mein Gastfreund
sehr liebte und unter denen sich außerordentlich schöne befanden,
waren in eine Gruppe gestellt worden. Mathilde nannte ihre Namen,
Natalie hörte aufmerksam zu. Am Nachmittage wurde ein Spaziergang
gemacht. Zuerst besuchten wir die Arbeiter, welche mit der
Hinwegschaffung der Tünche von der Steinbekleidung des Hauses
beschäftigt waren, und sahen eine Zeit hindurch zu. Mathilde tat
mehrere Fragen und ließ sich in Erörterungen über Dinge ein, die diese
Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem großen Bogen längs
des Rückens der Anhöhen herum, die zu einem Teile das Tal beherrschen,
in dem das Schloß liegt. Wir kamen an dem Saume eines Wäldchens
vorüber, von dem man das Schloß, den Garten und die Wirtschaftsgebäude
sehen konnte, und gingen endlich durch den nördlichen Arm desselben
Spazierweges in das Schloß zurück, in dessen südlichem Teile ich heute
Morgens mit Natalien gewandelt war.

Gegen Abend kam der Wagen mit den Wanderern an.

Mein Gastfreund stieg zuerst heraus, dann folgten fast gleichzeitig
die übrigen, jüngeren Männer. Ich wurde von allen gegrüßt und von
allen getadelt, daß ich so spät gekommen sei. Man begab sich in das
gemeinschaftliche Gesellschaftszimmer und besprach sich dort eine
Weile, ehe man sich in die Gemächer verfügen wollte, die für einen
jeden bestimmt waren.

Mein Gastfreund fragte mich, wo ich mich heuer aufgehalten und welche
Teile des Gebirges ich durchstreift habe. Ich antwortete ihm, daß ich
ihm schon im Allgemeinen gesagt habe, daß ich an den Simmigletscher
gehen werde, daß ich aber meinen besonderen Wohnort im Kargrat
aufgeschlagen habe, in dem mit dem Gebirgsstocke gleichnamigen kleinen
Dörflein. Von da aus habe ich meine Streifereien gemacht. Ich nannte
ihm die einzelnen Richtungen, weil er besonders in der Gegend der
Simmen sehr bekannt war. Eustach sprach über die schönen Naturbilder,
die in jenen Gestaltungen vorkommen. Roland sagte, ich möchte doch
auch einmal die Klamkirche, in der sie gewesen seien, besuchen;
die Zeichnungen werde mir Eustach schon zeigen, damit ich einen
vorläufigen Überblick davon zu erlangen vermöge. Gustav grüßte mich
einfach mit seiner Liebe und Freundschaft, wie er es immer getan
hatte. Auf die gelegentliche Frage meines Gastfreundes, ob ich nun
lange in der Gesellschaft meiner Freunde zu bleiben gesonnen sei,
antwortete ich, daß mich eine wichtige Angelegenheit vielleicht schon
in sehr kurzer Zeit fortführen könnte.

Nach diesen allgemeinen Gesprächen begaben sich die Reisenden in
ihre Zimmer, um die Spuren der Reise zu beseitigen, staubige Kleider
abzulegen, sich sonst zu erfrischen oder Mitgebrachtes in eine Ordnung
zu richten.

Wir sahen uns erst bei dem Abendessen wieder.

Dasselbe war so heiter und freundlich, wie es immer gewesen war.

Am anderen Morgen nach dem Frühmahle ging mein Gastfreund eine Zeit
mit Mathilden im Garten spazieren, dann kam er in mein Zimmer und
sagte zu mir: »Ihr habt Recht, und es ist sehr gut von euch, daß ihr
das, was euren hiesigen Freunden lieb und angenehm ist, euren Eltern
und euren Angehörigen sagen wollt.«

Ich erwiderte nichts, errötete und verneigte mich sehr ehrerbietig.

Ich erklärte im Laufe des Vormittages, daß ich, sobald es nur immer
möglich wäre, abreisen müßte. Man stellte mir Pferde bis zur nächsten
Post zur Verfügung, und nachdem ich mein kleines Gepäck geordnet
hatte, beschloß ich, noch vor dem Mittage die Reise anzutreten. Man
ließ es zu. Ich nahm Abschied. Die klaren, heiteren Augen meines
Gastfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hinwegging. Mathilde
war sanft und gütig, Natalie stand in der Vertiefung eines Fensters,
ich ging zu ihr hin und sagte leise: »Liebe, liebe Natalie, lebet
wohl.«

»Mein lieber, teurer Freund, lebet wohl«, antwortete sie ebenfalls
leise, und wir reichten uns die Hände.

Nach einem Augenblicke verabschiedete ich mich auch von den anderen,
die, da sie wußten, daß ich abreisen werde, in das Gesellschaftszimmer
gekommen waren. Ich schüttelte Eustach und Roland die Hände und
empfing Gustavs Kuß, welche innigere Art des Bewillkommens und
Scheidens schon seit längerer Zeit zwischen uns üblich geworden war
und welche mir heute so besonders wichtig wurde.

Hierauf ging ich die Treppe hinab und bestieg den Wagen.

Mathildens Pferde brachten mich auf die nächste Post. Dort sendete
ich sie zurück und nahm andere in der Richtung nach dem Kargrat. Ich
gönnte mir wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklärte ich
meinen Leuten, daß Umstände eingetreten wären, welche die Fortsetzung
der heurigen Arbeiten nicht erlaubten. Ich entließ sie also, händigte
ihnen aber den Lohn ein, den sie bekommen hätten, wenn sie mir in
der ganzen vertragsmäßigen Zeit gedient hätten. Sie waren hierüber
zufrieden. Der Jäger und Zitherspieler war früher, ehe ich gekommen
war, fortgegangen. Wohin er sich begeben habe, wußten die Leute
selber nicht. Das Verhältnis mit meinen Arbeitern zu ordnen, war mir
das Wichtigste auf meinem Arbeitsplatze gewesen; deshalb war ich
hingereist. Ich hatte ihnen vor meinem Besuche im Asperhofe gesagt,
daß ich bald wieder kommen werde, hatte ihnen während meiner
Abwesenheit Arbeit aufgetragen und hatte ihnen Arbeit nach meiner
Wiederkunft in Aussicht gestellt. Dieses mußte nun umgeändert werden.
Da es geschehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat so in Verwahrung,
daß sie gesichert waren, und reiste sogleich wieder ab. Ich hatte
die Pferde, die ich von dem letzten größeren Orte in das Kargrat
mitgenommen hatte, bei mir behalten und fuhr jetzt mit ihnen wieder
fort. Auf dem ersten Postamte verlangte ich eigene Postpferde und
schlug die Richtung zu meinen Eltern ein.

Als ich dort angekommen war, machte mein unvermutetes Erscheinen
beinahe den Eindruck des Erstaunens. Alle Ereignisse waren so schnell
gekommen, daß, da einmal meine Abreise zu meinen Eltern festgesetzt
war, ein Brief, der sie von meiner Ankunft benachrichtigt hätte,
wahrscheinlich nicht früher zu ihnen gekommen wäre als ich selbst.
Sie konnten sich daher nicht erklären, warum ich ohne vorhergegangene
Benachrichtigung nun im Sommer statt im Herbste komme. Ich sagte ihnen
auf ihre Frage, daß allerdings ein Grund zu meiner jetzigen Heimreise
vorhanden sei, aber keineswegs ein unangenehmer, daß ich in Ungeduld
so schnell abgereist sei und daß ich ihnen eine frühere Nachricht von
meiner Ankunft nicht habe zugeben lassen können. Hierauf waren sie
beruhigt und, wie es ihre Art war, fragten sie mich nun nicht nach
meinem Grunde.


Am andern Morgen, ehe der Vater in die Stadt ging, begab ich mich
zu ihm in das Bücherzimmer und sagte ihm, daß ich zu Natalien, der
Tochter der Freundin meines Gastfreundes, schon seit langer Zeit
her eine Zuneigung gefaßt habe, daß diese Neigung in mir verborgen
geblieben und daß es mein Vorsatz gewesen sei, sie, wenn sie ohne
Aussicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend jemandem
ein Wort darüber sagte. Nun habe aber Natalie auch mich ihres Anteils
nicht für unwert gehalten, ich habe davon nichts gewußt, bis ein
Zufall, da wir von anderen, weit entlegenen Dingen sprachen, die
gegenseitig unbekannte Stimmung zu Tage brachte. Da haben wir nun
einen Bund geschlossen, daß wir uns unsere Neigung bewahren wollen, so
lange wir leben, und daß wir sie in dieser Art nie einem anderen Wesen
schenken würden. Natalie habe verlangt, und mein Sinn stimmte diesem
Verlangen vollkommen bei, daß wir unseren Angehörigen diese Tatsache
mitteilen sollten, damit wir uns unseres Gutes durch ihre Zustimmung
erfreuen oder, wenn von einem Teile die Billigung versagt würde,
die Neigung zwar unverändert erhalten, aber den persönlichen Umgang
aufheben. Da nun Nataliens Angehörige nichts eingewendet haben, so sei
ich hier, um die Sache meinen Eltern zu sagen, und ihm sage ich sie
zuerst, der Mutter würde ich sie später mitteilen.

»Mein Sohn«, antwortete er, »du bist mündig, du hast das Recht,
Verträge abzuschließen und hast einen sehr wichtigen abgeschlossen. Da
ich dich genau kenne, da ich dich seit einiger Zeit noch viel genauer
kennen zu lernen Gelegenheit hatte als ich dich früher kannte, so weiß
ich, daß deine Wahl einen Gegenstand getroffen hat, der, wenn ihm
auch gewiß wie allen Menschen Fehler eigen sind, an Wert und Güte
entsprechen wird. Wahrscheinlich hat er beide Dinge in einem höheren
Maße als die Menschen, wie sie in größerer Menge jetzt überall sind.
In dieser Meinung bestärken mich noch mehrere Umstände. Eure Neigung
ist nicht schnell entstanden, sondern hat sich vorbereitet, du hast
sie überwinden wollen, du hast nichts gesagt, du hast uns von Natalien
wenig erzählt, also ist es kein hastiges, fortreißendes Verlangen,
welches dich erfaßt hat, sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung
beruhende Zuneigung. Bei Natalien ist es wahrscheinlich auch so,
weil, wie du gesagt hast, ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du sie
erkennen konntest. Ferner hat bei deinem Gastfreunde die Gesammtheit
deines Wesens eine so entschiedene Förderung erhalten, du hast
nach manchem Besuche bei ihm auch so hervorragende Einzelheiten
zurückgebracht, daß ihm eine große Güte und Bildung eigen sein muß,
die auf seine Umgebung übergeht. Ich habe nichts einzuwenden.«

Obgleich ich mir vorgestellt hatte, daß mein Vater dem geschlossenen
Bunde kein Hindernis entgegenstellen werde, so war ich doch bei dieser
Unterredung beklommen und ernst gewesen, so wie in der Haltung meines
Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu verkennen gewesen war. Jetzt,
da er geredet hatte, kam in mein Herz eine Freudigkeit, die sich auch
in meinen Augen und in meinen Mienen ausgedrückt haben mußte. Mein
Vater blickte mich gütig und freundlich an und sagte: »Du wirst mit
der Mutter von diesem Gegenstande nicht so leicht sprechen, ich werde
deine Stelle vertreten und ihr von dem geschlossenen Bunde erzählen,
daß du schneller über die Mitteilung hinwegkömmst. Lasse den Vormittag
vergehen, nach dem Mittagessen werde ich die Mutter in dieses Zimmer
bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntnis von deinem
Schritte erhalten.«

Wir verließen nun das Bücherzimmer. Mein Vater rüstete sich, in
seine Geschäftsstube in die Stadt zu gehen, wie er sich jeden Morgen
gerüstet hatte. Als er fertig war, nahm er von der Mutter Abschied und
ging fort. Der Vormittag verfloß, wie gewöhnlich die Zeit nach meiner
Ankunft verflossen war. Die Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem
Grunde meines ungewöhnlichen Zurückkommens und gingen ihren Geschäften
nach. Als das Mittagmahl vorüber war, nahm der Vater die Mutter in das
Bücherzimmer und blieb eine Weile mit ihr dort. Als sie wieder zu mir
und Klotilden herauskamen, blickte sie mich freundlich an, sagte aber
nichts.

Sie setzten sich wieder zu uns, und wir blieben noch eine Zeit an dem
Tische sitzen.

Als wir aufgestanden waren, gingen wir in den Garten, welchen ich
jetzt durch eine Reihe von Jahren nicht im Sommer gesehen hatte. Die
Rosen, welche hie und da zerstreut waren, glichen nicht denen meines
Gastfreundes, waren aber auch nicht schlechter als die, welche sich in
dem Sternenhofe befanden. Der Garten, welcher mir in meiner Kindheit
immer so lieb und traulich gewesen war, erschien mir jetzt klein und
unbedeutend, obwohl seine Blumen, die gerade in dieser Sommerzeit noch
blühten, seine Obstbäume, seine Gemüse, Weinreben und Pfirsichgitter
nicht zu den geringsten der Stadt gehörten. Es zeigte sich nur eben
der Unterschied eines Stadtgartens und des Gartens eines reichen
Landbesitzers. Man wies mir alles, was man für wichtig erachtete,
und machte mich auf alle Veränderungen aufmerksam. Man schien sich
gleichsam zu freuen, daß man mich doch einmal zu Anfang der heißeren
Jahreszeit hier habe, während ich sonst nur immer am Beginne der
kälteren gekommen war, wenn die Blätter abfielen und der Garten sich
seines Schmuckes entäußerte. Gegen den Abend ging der Vater wieder in
die Stadt. Wir blieben in dem Garten. Da sich in einem Augenblicke die
Schwester mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beschäftigte und ich
mit der Mutter allein an dem Marmorbrunnen der Einbeere stand, in
welchen das köstliche helle Wasser nieder rieselte, sagte sie zu mir:
»Ich wünsche, daß jedes Glück und jeder Segen vom Himmel dich auf dem
sehr wichtigen Schritte begleiten möge, den du getan hast, mein Sohn.
Wenn du auch sorgsam gewählt hast, und wenn auch alle Bedingungen zum
Gedeihen vorhanden sind, so bleibt der Schritt doch ein schwerer und
wichtiger, noch steht das Zusammenfinden und das Einleben in einander
bevor.«

»Möge es uns Gott so gewähren, wie wir glauben, es erwarten zu
dürfen«, antwortete ich, »ich wollte auch kein Glück gründen, ohne daß
ich meine Eltern darum fragte und ohne daß ihr Wille mit dem meinigen
übereinstimmte. Zuerst mußte wohl Gewißheit gesucht werden, ob sich
die Neigungen zusammen gefunden hätten. Als dieses erkannt war, mußte
der Sinn und die Zustimmung der Angehörigen erforscht werden, und
deshalb bin ich hier.«

»Der Vater sagt«, erwiderte sie, »daß alles recht ist, daß der Weg
sich ebnen wird und daß jene Dinge, die in jeder Verbindung und also
auch in dieser im Anfange ungefügig sind, hier eher ihre Gleichung
finden werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht gesagt hätte,
so wüßte ich es doch. Du bist unter so vortrefflichen Leuten gewesen,
du würdest auch ohne dem nicht unwürdig gewählt haben, und hast du
gewählt, so ist dein Herz gut und wird sich in Kürze in ein Frauenherz
finden, wie auch sie ihr Leben in dem deinigen finden wird. Es sind
nicht alle, es sind nicht viele Verbindungen dieser Art glücklich; ich
kenne einen großen Teil der Stadt und habe auch einen nicht zu kleinen
Teil des Lebens beobachtet. Du hast im Grunde nur unsere Ehe gesehen:
möge die deinige so glücklich sein, als es die meine mit deinem
ehrwürdigen Vater ist.«

Ich antwortete nicht, es wurden mir die Augen naß.

»Klotilde wird jetzt einsam sein«, fuhr die Mutter fort, »sie hat
keine andere Neigung als unser Haus, als Vater und Mutter und als
dich.«

»Mutter«, antwortete ich, »wenn du Natalien sehen wirst, wenn du
erfahren wirst, wie sie einfach und gerecht ist, wie ihr Sinn nach dem
Gültigen und Hohen strebt, wie sie schlicht vor uns allen wandelt und
wie sie viel, viel besser ist als ich, so wirst du nicht mehr von
einer Vereinsamung sprechen, sondern von einer Verbindung, Klotilde
wird um eines mehr haben als jetzt, und du und der Vater werdet um
eines mehr haben. Aber auch Mathilde, mein Gastfreund und der Kreis
jener trefflichen Menschen wird in eure Verbindung gezogen werden, ihr
werdet zu ihnen hingezogen werden, und was bis jetzt getrennt war,
wird Einigung sein.«

»Ich habe mir es so gedacht, mein Sohn«, antwortete die Mutter, »und
ich glaube wohl, daß es so kommen wird; aber Klotilde wird die Art
ihrer Neigung zu dir umwandeln müssen, und möge das alles mit gelindem
Kelche vorübergehen.«


Zu dem Ende dieser Worte war auch Klotilde herzu gekommen. Sie brachte
mir eine Rose und sagte mit heiteren Mienen, daß sie mir dieselbe bloß
darum gebe, um mir einen kleinen Ersatz für alle die Rosen zu bieten,
welche ich heuer im Asperhofe durch meine Hieherreise versäumt habe.

Mir fiel es bei diesen Worten erst auf, daß im väterlichen Garten
die Rosen blühten, während sie doch in dem höher gelegenen und einer
rauheren Luft ausgesetzten Asperhofe schon verblüht waren. Ich sprach
davon. Man fand den Grund bald heraus. Die Asperhofrosen waren den
ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, mochten auch besser gepflegt werden
und einen besseren Boden haben, während hier teils durch Bäume, die
man des kleineren Raumes wegen enger setzen mußte, teils durch die
Mauern näherer und entfernterer Häuser vielfältig Schatten entstand.

Ich nahm die Rose und sagte, Klotilde würde meinem Gastfreunde einen
schlechten Dienst tun, wenn sie in seinem Garten eine Rose pflückte.

»Dort würde ich nicht den Mut dazu haben«, antwortete sie.

Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmorwasserwerke stehen. Klotilde
zeigte mir, was der Vater im Frühlinge habe machen lassen, zum Teile,
um den Wasserzug noch mehr zu sichern, zum Teile, um Verschönerungen
anzubringen. Ich sah, wie trefflich und zweckmäßig er die Dinge hatte
zubereiten lassen und wie sehr ich von ihm lernen könne. Ich freute
mich schon auf die Zeit, die nicht mehr ferne sein konnte, in welcher
der Vater mit meinem Gastfreunde zusammen kommen würde.

Als wir von dem Wasserwerke weg gingen, führte mich Klotilde nun
zu dem Platze, von welchem eine Aussicht in die Gegend geboten ist
und den man mit einer Brustwehr zu versehen beschlossen hatte. Die
Brustwehr war schon zum Teile fertig. Sie war aufgemauert, war mit den
von mir gebrachten Marmorplatten belegt und war seitwärts mit Marmor
bekleidet, den sich der Vater verschafft hatte. Auch meine Simse und
Tragsteine waren verwendet. Ich sah aber, daß noch Vieles an Marmor
fehlte und versprach, daß ich suchen werde, zu Stande zu bringen, daß
die ganze Brustwehr aus gleichartigen Stücken und in gleicher Weise
könne hergestellt werden.

»Du siehst, daß wir auch in der Ferne deiner denken und dir etwas
Angenehmes zu bereiten streben«, sagte Klotilde.

»Ich habe ja nie daran gezweifelt«, antwortete ich, »und denke auch
eurer, wie meine Briefe beweisen.«

»Du solltest doch wieder einmal einen ganzen Sommer hier bleiben«,
sagte sie.

»Wer weiß, was geschieht«, erwiderte ich.

Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht hereinzubrechen
anfing, kam der Vater wieder aus der Stadt, und wir nahmen unser
Abendessen in dem Waffenhäuschen. Da sehr lange Tage waren und da es
nach dem Eintreten der völligen Finsternis schon ziemlich spät war,
so konnten wir nach dem Speisen nicht mehr so lange in dem Häuschen
mit den gläsernen Wänden beim Brennen der traulichen Lichter sitzen
bleiben, wie in dem Herbste, wenn ich nach einer langen Sommerarbeit
wieder zu den Meinigen zurückgekehrt war. Auch hatte man heute in
dem lauen Abende mehrere der Glasabteilungen geöffnet, der Eppich
flüsterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und die Flamme im Innern
der Lampe wankte unerfreulich. Wir trennten uns und suchten unsere
Ruhe.

Am anderen Tage am frühesten Morgen kam Klotilde zu mir. Als ich auf
ihr Pochen geöffnet hatte und sie eingetreten war, verkündigte ihr
Angesicht, daß die Mutter über meine Angelegenheit mit ihr gesprochen
habe. Sie sah mich an, ging näher, fiel mir um den Hals und brach in
einen Strom von Tränen aus. Ich ließ ihr ein Weilchen freien Lauf und
sagte dann sanft: »Klotilde, wie ist dir denn?«

»Wohl und wehe«, antwortete sie, indem sie sich von mir zu einem Sitze
führen ließ, auf den ich mich neben ihr niederließ.

»Du weißt nun also alles?«

»Ich weiß alles. Warum hast du mir es denn nicht früher gesagt?«

»Ich mußte doch vorher mit den Eltern sprechen, und dann, Klotilde,
hatte ich gegen dich gerade den wenigsten Mut.«

»Und warum hast du nicht in früheren Sommern etwas gesagt?«

»Weil nichts zu sagen war. Es ist erst jetzt zu gegenseitiger Kenntnis
gekommen, und da bin ich hergeeilt, mich den Meinigen zu offenbaren.
Als das Gefühl nur das meine war und die Zukunft sich noch verhüllte,
durfte ich nicht reden, weil es mir nicht männlich schien und weil die
Empfindung, die vielleicht in Kurzem gänzlich weggetan werden mußte,
durch Worte nicht gesteigert werden durfte.«

»Ich habe es immer geahnt«, sagte Klotilde, »und habe dir immer das
höchste und größte Glück gewünscht. Sie muß sehr gut, sehr lieb, sehr
treu sein. Ich habe nur das Verlangen, daß sie dich so liebt wie ich.«

»Klotilde«, antwortete ich, »du wirst sie sehen, du wirst sie kennen
lernen, du wirst sie lieben; und wenn sie mich dann auch nicht mit der
in der Geburt gegründeten schwesterlichen Liebe liebt, so liebt sie
mich mit einer anderen, die auch mein Glück, dein Glück, das Glück der
Eltern vermehren wird.«

»Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzähltest, wie wenig du auch
sagtest, und gerade, weil du wenig sagtest«, fuhr sie fort, »daß sich
etwa da ein Band entwickeln könnte, daß es sehr zu wünschen wäre,
daß du ihre Neigung gewännest und daß daraus eine bessere Einigung
entstehen könnte als durch die Verbindung mit einem Mädchen unserer
Stadt oder mit einem anderen.«

»Und nun ist es so«, erwiderte ich.

»Warum hast du denn nie ein Bild von ihr gemalt?« fragte sie.

»Weil ich sie eben so wenig oder noch weniger darum bitten konnte als
dich oder die Mutter oder den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu«,
antwortete ich.

»Nun sei recht glücklich, sei zufrieden bis in dein höchstes Alter,
und bereue nie, auch nicht im geringsten den Schritt, den du getan
hast«, sagte sie.

»Ich glaube, daß ich ihn nie bereuen werde, und ich danke dir innig
für deine Wünsche, meine teure, meine geliebte Klotilde«, erwiderte
ich.

Sie trocknete ihre Tränen mit dem Tuche, ordnete gleichsam ihr ganzes
Wesen und sah mich freundlich an.

»Wer wird jetzt mit mir zeichnen, spanische Bücher lesen, Zither
spielen, wem werde ich alles sagen, was mir in das Herz kömmt?« sprach
sie nach einer Weile.

»Mir, Klotilde«, erwiderte ich, »alles, was ich früher war, werde ich
dir bleiben. Lesen, Zeichnen, Zitherspielen wirst du mit Natalien;
auch mitteilen wirst du dich ihr, und mit ihr wirst du das alles
vollführen, was du bisher mit mir vollführt hast. Lerne sie nur erst
kennen, und du wirst begreifen, daß es wahr ist, was ich sage.«

»Ich möchte sie gerne sehr bald sehen«, sagte sie.

»Du wirst sie bald sehen«, antwortete ich, »es muß sich jetzt eine
Verbindung unserer Familie mit jenen Menschen, bei denen ich bisher so
häufig gewesen bin, anknüpfen; ich wünsche selber, daß du sie bald,
sehr bald sehest.«

»Bis dahin aber mußt du mir sehr viel von ihr erzählen, und wenn es
möglich ist, mußt du mir ein Bild von ihr bringen«, sagte sie.

»Ich werde dir erzählen«, antwortete ich, »jetzt, da wir einmal von
der Sache gesprochen haben, werde ich dir sehr gerne erzählen, ich
werde mit dir leichter von dem Bunde reden als mit ihr selber. Ob
ich dir ein Bild werde bringen oder schicken können, weiß ich nicht;
wenn es möglich ist, werde ich es tun. Aber es wird nur in dem Falle
sein können, wenn ein Bild von ihr da ist und man es mir, oder eine
Abbildung davon überläßt. Behalte es dann, bis du mit ihr selber
zusammen kömmst und wir in freundlicher Verbindung mit einander leben.
Endlich aber, Klotilde...«

»Endlich?«

»Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in welcher du von uns
ausscheiden wirst, zwar nicht mit deinem Geiste, wohl aber mit
einem Teile deiner Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere
Verbindung eingehst.«

»Nie, nie werde ich das tun«, rief sie beinahe heftig, »nein, ich
könnte ihm zürnen, ihm, der mein Herz hier wegführen würde. Ich liebe
nur den Vater, die Mutter und dich. Ich liebe dieses stille Haus und
alle, die berechtigt in demselben aus und ein gehen, ich liebe das,
was es enthält, und die Dinge, die sich in ihm allmählich gestalten,
ich werde Natalien und ihre Angehörigen lieben, aber nie einen
Fremden, der mich von euch ziehen wollte.«

»Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde«, sagte ich, »und du wirst
doch da bleiben, er wird berechtigt sein, hier aus und ein zu gehen,
er wird ein Ding sein, das sich in dem Hause allmählich gestaltet, und
du wirst vielleicht nicht von Vater und Mutter gehen dürfen, gewiß
aber wird kein Zwang sein, daß du sie oder mich weniger lieben
müssest.«

»Nein, nein, rede mir nicht von diesen Dingen«, erwiderte sie, »es
peinigt mich und zerstört mir das Herz, das ich dir mit großer
Teilnahme in der Morgenstunde habe bringen wollen.«

»Nun, so reden wir nicht mehr davon, Klotilde«, sagte ich, »sei nur
beruhigt und bleibe bei mir.«

»Ich bleibe ja bei dir«, antwortete sie, »und sprich freundlich zu
mir.«

Sie hatte die letzte Spur der Tränen von ihrem Angesichte vertilgt,
sie setzte sich auf dem Sitze neben mir noch mehr zurecht, und ich
mußte mit ihr sprechen. Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie sie
aussehe, was sie tue, wie sie sich zu ihrer Mutter, ihrem Bruder und
zu meinem Gastfreunde verhalte. Ich mußte ihr erzählen, wann ich sie
zum ersten Male gesehen habe, wann ich in dem Sternenhofe gewesen sei,
wann sie den Asperhof besucht habe, wann ein Ahnungsgefühl in mein
Herz gekommen, wie es dort gewachsen sei, wie ich mit mir gekämpft
habe, was dann gekommen sei und wie es sich gefügt habe, daß wir
endlich die Worte zu einander gefunden haben.

Ich erzählte ihr gerne, ich erzählte ihr immer leichter, und je mehr
sich die Worte von dem Herzen löseten, desto süßer wurde mein Gefühl.
Ich hatte nicht geglaubt, daß ich von diesem meinem innersten Wesen zu
irgend jemandem sprechen könnte; aber Klotildens Seele war der einzige
liebe Schrein, in welchem ich das Teure niederlegen konnte.

Wir blieben sehr lange sitzen, immer fragte mich Klotilde wieder um
Neues und wieder um Altes. Da kam die Mutter in meine Stube. Da sie
uns in vertraulichem Gespräche sitzen fand, setzte sie sich auch zu
dem Tische, der vor mir und Klotilden stand, und sagte nach einer
kurzen Weile, daß sie gekommen sei, uns zum Frühmahle zu holen. Sie
hätte Klotilden nirgends gesehen und hätte gemeint, daß sie an diesem
Morgen bei mir sein müsse.

»Meine geliebten Kinder«, fuhr sie fort, »bewahrt euch eure Liebe,
entfremdet euch nie eure Herzen und bleibt euch in allen Lagen
zugewandt, wie ihr euch jetzt und wie ihr den Eltern zugewandt seid;
dann werdet ihr einen Schatz haben, der einer der schönsten im Leben
ist, und der so oft verkannt wird. Ihr werdet in eurer Vereinigung
sittlich stark sein, ihr werdet die Freude eures Vaters bilden, und
mir werdet ihr das Glück meines Alters sein.«

Wir antworteten nichts auf diese Rede, weil uns ihr Inhalt so
natürlich war, und folgten der Mutter aus dem Zimmer.


Der Vater harrte schon unser in dem Speisegemache, und da jetzt die
Ursache meiner unvermuteten Nachhausekunft allen bekannt war und
keines sich dagegen erklärte, so sprachen wir nun unverhohlen
gemeinschaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern hegten die besten
Erwartungen von dem neuen Bunde und freuten sich der Übereinstimmung
zwischen mir und der Schwester. Ich mußte ihnen nun, wie ich es schon
gegen Klotilde getan hatte, noch Mehreres von Natalien erzählen, wie
sie sei, was sie tue, wohin sich ihre Bildung neige und wie sie ihre
Jugend könne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem Sternenhofe
so wie von dem Asperhofe und meinem Gastfreunde mußte ich noch Manches
nachholen, was das Bild ergänzen sollte, welches sich die Meinigen
von den dortigen Verhältnissen machten. Ich sagte ihnen auch, daß ein
günstiges Geschick hier walte, da gerade Natalie jenes Mädchen gewesen
sei, welches einmal bei der Aufführung des König Lear in einer
Loge neben mir so ergriffen gewesen sei, welches mir großen Anteil
eingeflößt, und mich, der ich den Schmerz im Trauerspiele geteilt
hätte, im Herausgehen gleichsam zum Danke freundlich angeblickt habe.
Erst in letzter Zeit sei das aufgeklärt worden.

Der Vater sagte, daß die Familien, die durch längere Zeit gleichsam
durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen waren, durch das Band
der geistigen Entwicklung seines Sohnes und des Verkehrs desselben
mit beiden Teilen, auch in der Wirklichkeit sich nähern, sich kennen
lernen und in eine Verbindung treten werden.

Die Mutter entgegnete, das sei jetzt die dringendste Veranlassung,
ja es sei nicht nur eine gesellschaftliche, sondern sogar eine
Familienpflicht, daß der Vater, welcher, je älter er werde, mit einer
desto wärmeren Ausdauer, welche unbegreiflich ist, sich an seine
Arbeitsstube kette, nun endlich einmal sich den Geschäften entreiße,
eine Reise mache und sich in derselben nur mit heiteren und schönen
Dingen beschäftige.

»Nicht nur ich werde eine Reise machen«, antwortete er, »sondern auch
du und Klotilde. Wir werden die Menschen dort, welche meinen Sohn so
freundlich aufgenommen haben, besuchen. Aber auch sie werden eine
Reise machen; denn auch sie werden zu uns in die Stadt kommen und in
diesen Zimmern verweilen. Wann aber diese Reisen stattfinden werden,
läßt sich jetzt noch gar nicht beurteilen. Jedenfalls muß unser Sohn
zuerst allein wieder hinreisen und muß die Einwilligung seiner Familie
überbringen. Seinem Ermessen und hauptsächlich den Ratschlägen seines
älteren Freundes wird es dann anheimgegeben sein, wie die Sachen im
weiteren Verlaufe sich entwickeln sollen. Die Reise unseres Sohnes muß
aber sogleich geschehen; denn so fordert es die neue Pflicht, die er
eingegangen ist. Wir werden abwarten, welche Nachrichten er uns von
seiner Ankunft im Sternenhofe zusenden oder welche Meinung er uns
selber überbringen wird.«

»Die Reise, mein Vater«, entgegnete ich, »wünsche ich, so bald es nur
möglich ist, anzutreten, am liebsten sogleich morgen oder wenn ein
Aufschub sein muß, doch übermorgen.«

»Es wird nicht verspätet sein, wenn du übermorgen reisest, da sich
noch Einiges zum Besprechen ergeben kann«, antwortete er.

Klotilde äußerte ihre Freude, daß einmal alle eine Reise antreten
würden.

»Und für den guten Vater könnte nun öfter der Anlaß gegeben sein«,
sagte die Mutter, »daß er in das Freiere und Weitere komme, daß er
reine Luft atme und Berg und Wald und Feld betrachte.«

»Ich werde doch einmal, meine liebe Therese, mein Buch abschließen«,
erwiderte der Vater, »und es wird für mich der Stillstand der
Geschäfte eintreten. Sie mögen in andere Hände übergehen oder sich
ganz auflösen. Dann wird es Zeit sein, im Anblicke von Berg, Wald und
Feld ein Haus zu mieten oder zu bauen, daß wir im Sommer dort und im
Winter hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen Winter
draußen bleiben wollen.«

»So hast du oft gesagt«, antwortete die Mutter, »aber es ist nicht
geschehen.«

»Wenn Zeit und Ort darnach angetan sind, wird es geschehen«, erwiderte
er.

»Wenn dann noch deine Gesundheit und dein geistiges Wesen davon den
gewünschten Nutzen ziehen«, sagte die Mutter, »werde ich jeden Winter
preisen, welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen.«

»Es wird sich Vieles ereignen, woran wir jetzt nicht denken«,
antwortete der Vater.

Wir standen von dem Frühmahle auf, und jedes ging an seine Geschäfte.

Im Laufe des Vormittages ließ mich die Mutter wieder zu sich bitten
und fragte mich, wie ich es denn zu halten gedenke, wo ich mit
Natalien wohnen wolle. Es sei in dem Hause Platz genug, nur müßte
alles gerichtet werden. Auch seien viele andere Dinge zu ordnen,
besonders meine Kleider, in denen ich doch nun anders sein müsse. Sie
wünsche meine Meinung zu hören, damit man zu rechter Zeit beginnen
könne, um noch fertig zu werden.

Ich sagte, daß ich in der Tat auf diese Angelegenheit nicht gedacht
habe, daß ihre Erwägung wohl noch Zeit habe, und daß wir vor Allem den
Vater um Rat fragen sollten.

Sie war damit einverstanden.

Als wir nach dem Mittagsessen den Vater fragten, war er meiner
Meinung, daß es noch zu frühe sei, an diese Dinge zu denken. Es würde
schon zu rechter Zeit geschehen, daß alles, was not tue, in Ordnung
gesetzt werden könne. Jetzt seien andere Dinge zu besprechen und zu
bedenken. Wenn es an der Zeit sei, werde es die Mutter erfahren, daß
sie alle ihre Maßregeln ausreichend treffen könne.

Sie war damit zufrieden.


Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hause der Fürstin an und
erfuhr, daß dieselbe zufällig auf mehrere Tage anwesend sei. Sie
habe die Absicht, nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den
Ufern des blauen Gardasees zu verleben. Sie sei jetzt eben damit
beschäftigt, die Vorbereitungen zu dieser Reise zu machen. Ich ließ
anfragen, wann ich sie sprechen könnte, und wurde auf den nächsten Tag
um zwölf Uhr bestellt.

Ich nahm zu dieser Zeit eine Mappe mit einigen meiner Arbeiten
zu mir und verfügte mich in ihre Wohnung. Nach den freundlichen
Empfangsworten drückte sie ihre Verwunderung aus, mich jetzt hier zu
finden. Ich gab die Verwunderung für ihre Person zurück. Sie führte
mir als Grund ihre beabsichtigte Reise an, und ich sagte, daß
plötzlich gekommene Angelegenheiten meinen Sommeraufenthalt
unterbrochen und mich in die Stadt geleitet hätten.

Sie fragte mich um meine Arbeiten während der Zeit meiner Abwesenheit.

Ich erklärte ihr dieselben. Als ich von dem Simmigletscher sprach,
nahm sie besonderen Anteil, weil ihr dieses Gebirge aus früherer Zeit
her bekannt war. Ich mußte ihr genau beschreiben und zeigen, wo wir
gewesen und was wir getan haben. Ich zog die Zeichnungen, die ich in
Farben von den Eisfeldern, ihren Einränderungen, ihrer Einbuchtung,
ihrer Abgleitung und ihrem oberen Ursprunge gemacht hatte und in
meiner Mappe mit mir trug, hervor und breitete sie vor ihr aus. Sie
ließ sich jedes, auch das Kleinste an diesen Zeichnungen beschreiben
und erklären. Ich mußte ihr auch versprechen, bei nächster günstiger
Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des Lautersees ihr
vorzulegen und auf das Genaueste zu erörtern. Es sei ihr dies
doppelt wünschenswert, weil sie jetzt selber zu einem See reise, der
einer der merkwürdigsten des südlichen Alpenabhanges sei. Hierauf
befragte sie mich um meine anderen Bestrebungen auf dem Gebiete
der bildenden Kunst, worauf ich erwiderte, daß ich heuer außer den
Gletscherzeichnungen, die doch wieder fast nur wissenschaftlicher
Natur seien, nichts hatte machen können, weder in Landschaften noch in
Abbildung menschlicher Köpfe.

»Wenn ihr ein sehr schönes jugendliches Angesicht abbilden wollt«,
sagte sie, »so müsset ihr suchen, das Angesicht der jenen Tarona
abbilden zu dürfen. Ich bin alt, habe viel erfahren, habe sehr viele
Menschen gesehen und betrachtet, aber es ist mir wenig vorgekommen,
das edler, einnehmender und liebenswürdiger gewesen wäre als die Züge
der Tarona.«

Ich errötete sehr tief bei diesen Worten.

Sie richtete die klaren, lieben Augen auf mich, lächelte sehr fein und
sagte: »Haltet ihr etwa schon Jemanden für das Schönste?«

Ich antwortete nicht, und sie schien auch eine Antwort nicht zu
erwarten. Von Natalien konnte ich ihr nichts sagen, da die Sache nicht
so weit gediehen war, um sie Andern verkündigen zu können.

Wir brachen ab, ich verabschiedete mich bald, sie reichte mir gütig
die Hand, welche ich küßte, und lud mich ein, ja im künftigen Winter
sehr bald von dem Gebirge zurück zu kommen, da auch sie sehr bald in
der Stadt einzutreffen gedenke.

Ich antwortete, daß ich über jenen Zeitpunkt jetzt durchaus nicht zu
verfügen im Stande sei.

Am zweiten Tage Morgens stand ich reisefertig in meinem Zimmer.
Der Wagen war vor das Haus bestellt worden. Ich hatte mir es nicht
versagen können, in einem besonderen Wagen so schnell als möglich in
den Sternenhof zu fahren. Vater, Mutter und Schwester waren in dem
Speisezimmer, um von mir Abschied zu nehmen. Ich begab mich auch in
dasselbe, und wir nahmen ein kleines Frühmahl ein. Nach demselben
sagte ich Lebewohl.

»Gott segne dich, mein Sohn«, sprach die Mutter, »Gott segne dich auf
deinem Wege, er ist der entscheidende, du bist nie einen so wichtigen
gegangen. Wenn mein Gebet und meine Wünsche etwas vermögen, wirst du
ihn nicht bereuen.«

Sie küßte mich auf den Mund und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf
die Stirn.

Der Vater sagte: »Du hast von deiner frühen Jugend an erfahren, daß
ich mich nicht in deine Angelegenheiten menge; handle selbstständig
und trage die Folgen. Wenn du mich frägst, wie du jetzt getan hast, so
werde ich dir immer beistehen, in so weit es meine größere Erfahrung
vermag. Aber einen Rat möchte ich dir doch in dieser wichtigen
Angelegenheit geben oder vielmehr nicht einen Rat geben, sondern
deine Aufmerksamkeit möchte ich auf einen Umstand leiten, auf den du
vielleicht in der Befangenheit dieser Tage nicht gedacht hast. Ehe
du das ernste Band schließest, ist noch Manches für dich notwendig,
deinen Geist und dein Gemüt zu stärken und zu festigen. Eine Reise in
die wichtigsten Städte Europas und zu den bedeutendsten Völkern ist
ein sehr gutes Mittel dazu. Du kannst es, deine Vermögenslage hat sich
sehr gebessert, und ich lege wohl auch etwas dazu, wie ich überhaupt
mit dir Abrechnung halten muß.«

Ich war sehr bewegt und konnte nicht sprechen. Ich nahm den Vater nur
bei der Hand und dankte ihm stumm.

Klotilde nahm mit Tränen Abschied und sagte leise, als ich sie an mich
drückte: »Gehe mit Gott, es wird Alles recht sein, was du tust, weil
du gut bist und weil du auch klug bist.«

Ich sprach die Hoffnung aus, daß ich bald wieder kommen werde, und
ging die Treppe hinab.

Meine Reise war sehr schnell, weil überall die Pferde schon bestellt
waren, weil ich nirgends schlief und zum Essen nur die kürzeste Zeit
verwendete.

Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathildens trat, kam sie mir
entgegen und sagte: »Seid willkommen, es ist Alles, wie ich gedacht
habe; denn sonst wäret ihr nicht zu mir, sondern zu unserem Freunde
gekommen.«

»Meine Angehörigen ehren euch, ehren unseren Freund und glauben an
unser Glück und an unsere Zukunft«, erwiderte ich.

»Seid willkommen, Natalie«, sagte ich, als diese gerufen worden und
in das Zimmer getreten war, »ich bringe freundliche Grüße von den
Meinigen.«

»Seid willkommen«, antwortete sie, »ich habe immer gehofft, daß es so
geschehen und daß eure Abwesenheit so kurz sein wird.«

»Meine Hoffnung war wohl auch dieselbe«, erwiderte ich, »aber jetzt
ist alles klar, und jetzt ist völlige Beruhigung vorhanden.«

Wir blieben bei Mathilden und sprachen einige Zeit miteinander.

Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiste ich zu meinem Gastfreunde.
Mathilde hatte mir einen Wagen und Pferde mit gegeben.

Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in welchem sich mein
Gastfreund bei meiner Ankunft befand, reichte er mir die Hand und
sagte: »Ich bin von eurer Rückkunft bereits benachrichtigt; man hat
mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen in demselben
geschrieben.«

Eustach sah mich seltsam an, so daß ich vermutete, er wisse auch
bereits von der Sache.

Wir gingen nun in das Haus, und man öffnete mir meine gewöhnliche
Wohnung. Gustav kam nach einer Weile zu mir herauf und konnte seiner
Freude beinahe kein Ende machen, daß alles sei, wie es ist. Mein
Gastfreund hatte ihm die Tatsache erst heute eröffnet. Er sprach ohne
Rückhalt aus, daß ihm die Sache so weit, weit lieber sei, als wenn
Tillburg seine Schwester aus dem Hause geführt hätte, dessen Wille
wohl immer dahin gerichtet gewesen wäre.



Das Vertrauen

Ich blieb einige Zeit bei meinem Gastfreunde, teils, weil er es selber
verlangte, teils, um jene Ruhe zu gewinnen, die ich sonst immer hatte
und die ich brauchte, um in meinen Bestrebungen klar zu sehen und sie
nach gemachter Einsicht zu ordnen.

Die Leute blickten mich fragend oder verwundert an. Vermutlich hatte
es sich ausgebreitet, in welche Beziehung ich zu Personen getreten
bin, welche Freunde des Hauses sind und welche oft in dasselbe als
Besuchende kommen. Nirgends aber trat mir der Anschein entgegen, als
ob man mir das Verhältnis mißgönnte oder es mit ungünstigen Augen
ansähe. Im Gegenteile, die Leute waren fast freundlicher und
dienstwilliger als vorher. Ich kam in das Gartenhaus. Der Gärtner
Simon trat mir mit einer Art Ehrerbietung entgegen und rief seine
Gattin Clara herbei, um ihr zu sagen, daß ich da sei, und um sie zu
veranlassen, daß sie mir ihre Verbeugung mache. Er hatte dies sonst
nie getan. Als diese Art von Vorstellung vorüber war, führte er
mich erst in den Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke bloß seine
Gewächshäuser nannte. Er zeigte mir wieder seine Pflanzen, erklärte
mir, was neu erworben worden war, was sich besonders schön entwickelt
habe und was in gutem Stande geblieben sei; er erzählte mir auch,
welche Verluste man erlitten habe, wie die Pflanzen im schönsten
Gedeihen gewesen seien, die man verloren habe und welchen besonderen
Ursachen man ihren Verlust zuschreiben müsse. Er bedachte hiebei
nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo sein könnten, wie er bei einer
früheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüt abwesend
sei, da er mir ebenfalls mit vieler Lust und großer Umsicht seine
Gewächse erklärt hatte. Besonders eifrig war er in der Darlegung der
Vorzüge und Schönheiten der Rose, welche die Frau des Sternenhofes für
den Herrn des Hauses aus England verschrieben habe. Er führte mich zu
ihr und zeigte mir alle Vortrefflichkeiten derselben. Dann mußte ich
auch mit ihm in das Cactushaus gehen, wo er mir sogleich den Cereus
Peruvianus wies, der durch meine Güte, wie er sich ausdrückte, in
den Asperhof gekommen sei. Er wachse bereits steilrecht in seinem
Glasfache empor, was durch viele Mühe und Kunst bewirkt worden sei.
Die gelbliche Farbe vom Inghofe sei in die dunkelblau-grüne, gleichsam
mit einem Dufte überflogene übergegangen, welche die völlige
Gesundheit der Pflanze beweise. Wenn es so fortgehe, so könne auch
noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen Säule in
dieses Haus kommen. Er führte mich dann zu einigen Cactusgestalten,
die eben im Blühen begriffen waren. Es lag eine ziemlich große
Sammellinse in der Nähe, um die Blumen und nebstbei auch die Waffen
und die Gestaltungen der Pflanzenkörper unter dem Einflusse des
vollen Sonnenlichtes betrachten zu können. Er bat mich, die Linse
zu gebrauchen. Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei
welcher die Abweichung wegen der Kugelgestalt auf ein Kleinstes
gebracht war. Überhaupt wies sie sich als vortrefflich aus. Er
erzählte mir, daß der Herr das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten
der Cacteen habe machen, es in das schöne Elfenbein fassen und in das
reine Sammetfach habe legen lassen. Heute erst sei er noch in dem
Cactushause gewesen und habe mit dem Glase die Blüten und viele
Stacheln angeschaut. Ich bediente mich des Glases und sah in den von
den seidenartigen Blumenblättern umstandenen gelben, weißen oder
rosenfarbigen Kelch hinein, wie sie eben vorhanden waren. Daß der
Glanz dieser Blumenfarben besonders schön, weit schöner als die
feinste Seide und als der der meisten Blumen sei, wußte ich ohnehin,
mußte es mir aber doch von dem Gärtner Simon zeigen lassen, so wie er
auch der schönen, grün oder rosig oder dunkelrotbraun dämmernden Tiefe
des Kelches erwähnte, aus der die Wucht der schlanken Staubfäden
aufsteige, die keine Blüte so zierlich habe. Überhaupt seien die
Cactusblumen die schönsten auf der Welt, wenn man etwa einige
Schmarotzergewächse und ganz wenige andere, vereinzelte Blumen
ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umstand aufmerksam, den ich
nicht wußte, oder den ich nicht beobachtet hatte, daß nehmlich bei
einigen Kugelcactus sich die Blumen stets aus neuen Stachelaugen,
meistens mit ganz kurzem Stengel, entwickeln, während sie bei andern
auf einem mehr oder minder hohen Stiele aus vorjährigen oder noch
älteren Stachelaugen sich erheben. Er sagte, das werde gewiß einmal
einen Grund zu einer neuen Einteilung dieser Cactusgestalt geben. Er
zeigte mir an vorhandenen Gewächsen den Unterschied, und ich mußte
ihn erkennen. Er sagte, daß dies nicht zufällig sei und daß er die
Tatsache schon dreißig Jahre beobachte. Damals, als er jung gewesen,
seien kaum einige dieser Gestaltungen bekannt gewesen, jetzt vermehre
sich die Kenntnis derselben bedeutend, seit die Menschen zur Einsicht
ihrer Schönheit gekommen sind und Reisende Pflanzen aus Amerika
senden, wie jener Reisende, der von deutschen Landen aus fast
in der ganzen Welt gewesen sei. Es könne nur Unverstand oder
Oberflächlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung
ungestaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und
dabei reizender sei als eben sie. Nur eine erste genaue Betrachtung
und Vergleichung derselben sei nötig, und nur ein sehr kurzes
Fortsetzen dieser Betrachtung, damit die Gegner dieser Pflanzen in
warme Verehrer derselben übergehen - es müßte nur ein Mensch überhaupt
kein Freund der Pflanzen sein, welche Gattung es vielleicht in der
Welt nicht gibt. Als ich das Pflanzenhaus verließ, begleitete er mich
bis an die Grenze der Gewächshäuser, und auch seine Gattin trat aus
der Tür ihrer Wohnung, um sich von mir zu verabschieden.

In dem Blumengarten und in der Abteilung der Gemüse blieben die
Arbeitsleute vor mir stehen, nahmen den Hut ab und grüßten mich artig.

Eustach war mild und freundlich wie gewöhnlich; aber er war noch weit
inniger, als er es in früheren Zeiten gewesen war. Mich freute die
Billigung gerade von diesem Menschen ungemein. Er zeigte mir alles,
was in der Arbeit war und was sich an wirklichen Dingen, was an
Zeichnungen, was an Nachrichten in der jüngsten Zeit zu dem bereits
Vorhandenen hinzugefunden hatte. Er sagte, daß mein Gastfreund in
Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche besuchen werde, in welcher
man auf seine Kosten Wiederherstellungen mache, und daß er mich zu
dieser Reise einladen wolle. Ich sah unter allen vorhandenen Dingen
und Stoffen den sehr schönen Marmor nicht, den ich meinem Gastfreunde
zum Geschenke gemacht hatte, und war auch nie in Kenntnis gekommen,
daß daraus etwas verfertigt worden sei. Es sprach niemand davon, und
ich fragte auch nicht. In mancher Stunde sah ich den Arbeiten zu,
welche in dem Schreinerhause ausgeführt wurden.

Roland war wie gewöhnlich im Sommer nicht in dem Asperhofe anwesend.

Mit Eustach besuchte ich auch die Bilder meines Gastfreundes, seine
Kupferstiche, seine Schnitzereien und seine Geräte. Wir sprachen über
die Dinge, und ich suchte mir ihren Wert und ihre Bedeutung immer mehr
eigen zu machen. Auch in das Bücherzimmer, den Marmorsaal und das
Treppenhaus meines Gastfreundes ging ich. Wie war die Gestalt auf
der Treppe erhaben, edel und rein gegen die Nymphe in der Grotte des
Gartens im Sternenhofe, die mir in der letzten Zeit so lieb geworden
war. Durch meine Bitte ließ sich mein Freund bewegen, mir die
Zimmer aufzuschließen, in denen Mathilde und Natalie während ihres
Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich blieb länger als in den
anderen in dem letzten kleinen Gemache mit der Tapetentür, welches ich
die Rose genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klarheit, die in
dem ganzen Wesen Mathildens ausgeprägt ist, die in den Farben und
Gestalten des Zimmers sich zeigte und die in den unvergleichlichen
Bildern lag, die hier aufgehängt waren.

Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute begegneten mir
achtungsvoll, sie zeigten mir alle Räume und wiesen, was sich in ihnen
befinde, was dort gearbeitet werde, wozu sie dienen und was sich in
neuerer Zeit geändert habe. Der Meier hatte seine besondere Freude an
der neuen, von ihm selbst verbesserten Zucht der Füllen und an dem
Volke aller von meinem Gastfreunde eingeführten Gattungen von Hühnern.
Als wir uns von dem Meierhofe entfernten und uns der vielstimmige
Gesang der Vögel aus dem Garten des Hauses entgegen schallte, sah ich
im Rückblicke, daß sich unter dem Torwege eine Gruppe von Mägden mit
ihren blauen Schürzen und weißen Hemdärmeln gesammelt habe und uns
nachschaue.

Wenn ich auch erkannte, daß ich der Gegenstand der Aufmerksamkeit
geworden war, so entschlüpfte doch Niemandem ein Wort, welches einen
Grund dieser Aufmerksamkeit angedeutet hätte.

Gustav, welcher wohl Anfangs seine Freude gegen mich ausgesprochen
hatte, daß es sei, wie es ist, und daß keiner von denen, die es
gewollt hatten, seine Schwester fortgeführt, sprach nun von dem
Gegenstande nicht mehr und schloß sich nur noch herzlicher, wenn
dieses möglich war, an mich an.

Mein Gastfreund sagte mir endlich auch von der Reise nach der Kirche,
von welcher Eustach gesprochen hatte, und lud mich zu derselben ein.
Ich nahm die Einladung an.


Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe fort, mein Gastfreund,
Eustach, Gustav und ich. Gustav wird, wie mir mein Gastfreund
sagte, auf jede kleinere Reise von ihm mitgenommen. Wenn dies bei
ausgedehnteren Reisen nicht der Fall sein kann, so wird er zu seiner
Mutter in den Sternenhof gebracht. Wir kamen erst am zweiten Tage
bei der Kirche an. Roland, welcher von unserer Ankunft unterrichtet
gewesen war, erwartete uns dort. Die Kirche war ein Gebäude im
altdeutschen Sinn. Sie stammte, wie meine Freunde versicherten, aus
dem vierzehnten Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht groß und
nicht besonders wohlhabend. Die letztvergangenen Jahrhunderte hatten
an dieser Kirche viel verschuldet. Man hatte Fenster zumauern lassen,
entweder ganz oder zum Teile, man hatte aus den Nischen der Säulen
die Steinbilder entfernt und hatte hölzerne, die vergoldet und gemalt
waren, an ihre Stelle gebracht. Weil aber diese größer waren als ihre
Vorgänger, so hat man die Stellen, an die sie kommen sollten, häufig
ausgebrochen, und die früheren Überdächer mit ihren Verzierungen
weggeschlagen. Auch ist das Innere der ganzen Kirche mit bunten Farben
bemalt worden. Als dieses in dem Laufe der Jahre auch wieder schadhaft
wurde und sich Ausbesserungsarbeiten an der Kirche als dringlich
notwendig erwiesen, gab sich auch kund, daß die Mittel dazu schwer
aufzubringen sein würden. Die Gemeinde geriet beinahe über den Umfang
der Arbeiten, die vorzunehmen wären, in großen Hader. Offenbar waren
in früheren Zeiten reiche und mächtige Wohltäter gewesen, welche die
Kirche hervorgerufen und erhalten hatten. In der Nähe stehen noch die
Trümmer der Schlösser, in denen jene wohlhabenden Geschlechter gehaust
hatten. Jetzt steht die Kirche allein als erhaltenes Denkmal jener
Zeit auf dem Hügel, einige in neuerer Zeit erbaute Häuser stehen um
sie herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem Hügellande
zerstreuten Gehöften. Die Besitzer der Schloßrainen wohnen in weit
entfernten Gegenden und haben, da sie ganz anderen Geschlechtern
angehören, entweder nie eine Liebe zu der einsamen Kirche gehabt oder
haben sie verloren. Der Pfarrer, ein schlichter, frommer Mann, der
zwar keine tiefen Kenntnisse der Kunst hatte, aber seit Jahren an den
Anblick seiner Kirche gewöhnt war und sie, da sie zu verfallen begann,
wieder gerne in einem so guten Zustande gesehen hätte, als nur möglich
ist, schlug alle Wege ein, zu seinem Ziele zu gelangen, die ihm nur
immer in den Sinn kamen. Er sammelte auch Gaben. Auf letztem Wege kam
er zu meinem Gastfreunde. Dieser nahm Anteil an der Kirche, die er
unter seinen Zeichnungen hatte, reiste selber hin und besah sie. Er
versprach, daß er, wenn man seinen Plan zur Wiederherstellung der
Kirche billige und annehme, alle Kosten der Arbeit, die über den
bereits vorhandenen Vorrat hinausreichen, tragen und die Arbeit
in einer gewissen Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde
ausgearbeitet und von allen, welche in der Angelegenheit etwas zu
sprechen hatten, genehmigt, nachdem der Pfarrer schon vorher, ohne
ihn gesehen zu haben, sehr für ihn gedankt und sich überall eifrig
für seine Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Ausführung
geschritten, und in dieser Ausführung war mein Gastfreund begriffen.
Die Füllmauern in den Fenstern wurden vorsichtig weggebrochen, daß
man keine der Verzierungen, welche in Mörtel und Ziegeln begraben
waren, beschädige, und dann wurden Glasscheiben in der Art der noch
erhaltenen in die ausgebrochenen Fenster eingesetzt. Die hölzernen
Bilder von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die Nischen wurden
in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt. Wo man unter dem
Dache der Kirche oder in anderen Räumen die alten schlanken Gestalten
der Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden sie, wenn sie
beschädigt waren, ergänzt, und an ihre mutmaßlichen Stellen gesetzt.
Für welche Nischen man keine Standbilder auffinden konnte, die wurden
leer gelassen. Man hielt es für besser, daß sie in diesem Zustande
verharren, als daß man eins der hölzernen Bilder, welche zu der Bauart
der Kirche nicht paßten, in ihnen zurückgelassen hätte. Freilich wäre
die Verfertigung von neuen Standbildern das Zweckmäßigste gewesen;
allein das war nicht in den Plan der Wiederherstellung aufgenommen
worden, weil es über die zu diesem Werke verfügbaren Kräfte meines
Gastfreundes ging. Alle Nischen aber, auch die leeren, wurden,
wenn Beschädigungen an ihnen vorkamen, in guten Stand gesetzt.
Die Überdächer über ihnen wurden mit ihren Verzierungen wieder
hergestellt. Zu der Übertünchung des Innern der Kirche war ein Plan
entworfen worden, nach welchem die Farbe jener Teile, die nicht Stein
waren, so unbestimmt gehalten werden sollte, daß ihr Anblick dem eines
bloßen Stoffes am ähnlichsten wäre. Die Gewölberippen, deren Stein
nicht mit Farbe bestrichen war, so wie alles Andere von Stein wurde
unberührt gelassen, und sollte mit seiner bloß stofflichen Oberfläche
wirken. Die Gerüste zu der Übertünchung waren bereits dort geschlagen,
wo man mit Leitern nicht auslangen konnte. Freilich wäre in der Kirche
noch vieles Andere zu verbessern gewesen. Man hatte den alten Chor
verkleidet und ganz neue Mauern zu einer Emporkirche aufgeführt, man
hatte ein Seitenkapellchen im neuesten Sinne hinzugefügt, und es
war ein Teil der Wand des Nebenschiffes ausgenommen worden, um eine
Vertiefung zu mauern, in welche ein neuer Seitenaltar zu stehen kam.
Alle diese Fehler konnten wegen Unzulänglichkeit der Mittel nicht
verbessert werden. Der Hauptaltar in altdeutscher Art war geblieben.
Roland sagte, es sei ein Glück gewesen, daß man im vorigen
Jahrhunderte nicht mehr so viel Geld gehabt habe als zur Zeit der
Erbauung der Kirche, denn sonst hätte man gewiß den ursprünglichen
Altar weggenommen und hätte einen in dem abscheulichen Sinne des
vergangenen Jahrhunderts an seine Stelle gesetzt. Mein Gastfreund
besah alles, was da gearbeitet wurde, und es ward ein Rat mit Eustach
und Roland gehalten, dem auch ich beigezogen wurde, um zu erörtern,
ob alles dem gefaßten Plane getreu gehalten werde, und ob man nicht
Manches mit Aufwendung einer mäßigen Summe noch zu dem ursprünglich
Beabsichtigten hinzu tun könnte, was der Kirche not täte und was ihr
zur Zierde gereichte. Die Ansichten vereinigten sich sehr bald, da die
Männer nach der nehmlichen Richtung hin strebten und da ihre Bildungen
in dieser Hinsicht sich wechselweise zu dem gleichen Ergebnisse
durchdrungen hatten. Ich konnte sehr wenig mitreden, obgleich ich
gefragt wurde, weil ich einerseits zu wenig mit den vorhandenen
Grundlagen vertraut war und weil andererseits meine Kenntnisse in dem
Einzelnen der Kunst, um welche es sich hier handelte, mit denen meiner
Freunde nicht Schritt halten konnten. Der Pfarrer hatte uns sehr
freundlich aufgenommen und wollte uns sämmtlich in seinem kleinen
Hause beherbergen. Mein Gastfreund lehnte es ab, und wir richteten
uns, so gut es ging, in dem Gasthofe ein. Der Ehrerbietung und des
Dankes aber konnte der bescheidene Pfarrer gegen meinen Gastfreund
kein Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Gemeindeglieder,
um, wie sie sagten, ihre Aufwartung zu machen und ihren Dank
darzubringen. Wirklich, wenn man die schlanken, edlen Gestaltungen der
Kirche ansah, welche da einsam auf ihrem Hügel in einem abgelegenen
Teile des Landes stand, in dem man sie gar nicht gesucht hätte, und
die schon geschehenen Verbesserungen betrachtete, welche ihre feinen
Glieder wieder zu Ansehen und Geltung brachten, so konnte man nicht
umhin, sich zu freuen, daß die reinen blauen Lüfte wieder den reinen,
einfachen Bau umfächelten, wie sie ihn umfächelt hatten, als er
nach dem Haupte des längst verstorbenen Meisters aus den Händen der
Arbeitsleute hervor gegangen war. Und wirklich mußte man sich auch zum
Danke verpflichtet fühlen, daß es einen Mann gab, wie mein Gastfreund
war, der aus Liebe zu schönen Dingen, und ich muß wohl auch
hinzufügen, aus Liebe zur Menschheit, einen Teil seines Einkommens,
seiner Zeit und seiner Einsicht opferte, um manch Edles dem Verfalle
zu entreißen und vor die Augen der Menschen wohlgebildete und hohe
Gestaltungen zu bringen, daß sie sich daran, wenn sie dessen fähig
sind und den Willen haben, erheben und erbauen können.

Das alles wußten aber die Gemeindeglieder nicht, sie dankten nur, weil
sie meinten, daß es ihre Schuldigkeit sei.

Nachdem mein Gastfreund den Bau gut befunden und mit Eustach, dem
eigentlichen Werkmeister, das Nähere angeordnet hatte, und nachdem
auch Roland die Zusicherung gegeben hatte, daß er dem Wunsche meines
Gastfreundes gemäß öfter nachsehen und Bericht erstatten werde,
rüsteten wir uns, unsere verschiedenen Wege zu gehen. Roland wollte
wieder in das nahe liegende Gebirge zurückkehren, von dem er zu der
Kirche heraus gekommen war, und wir wollten den Weg nach dem Asperhofe
antreten. Roland entfernte sich zuerst. Wir besuchten noch den Inhaber
eines Glaswerkes in der Nähe, der von großem Einflusse war, und
begaben uns dann auf den Weg nach dem Hause meines Freundes.

Auf dem Rückwege kamen wir über die Bildung des Schönen zu sprechen,
wie es gut sei, daß Menschen aufstehen, die es darstellen, daß über
ihre Mitbrüder auch dieses sanfte Licht sich verbreite und sie immer
zu hellerer Klarheit fort führe; daß es aber auch gut sei, daß
Menschen bestehen, welche geeignet sind, das Schöne in sich
aufzunehmen und es durch Umgang auf Andere zu übertragen, besonders,
wenn sie noch, wie mein Gastfreund, das Schöne überall aufsuchen, es
erhalten und es durch Mühe und Kraft wieder herzustellen suchen, wo es
Schaden gelitten hatte. Es sei ein ganz eigenes Ding um die Befähigung
und den Drang hiezu.

»Wir haben schon einmal über Ähnliches gesprochen«, sagte mein
Gastfreund, »meine Erfahrungen in der Zeit meines Lebens haben mich
gelehrt, daß es ganz bestimmte Anlagen zu ganz bestimmten Dingen gibt,
mit denen die Menschen geboren werden. Nur in der Größe unterscheiden
sich diese Anlagen, in der Möglichkeit, sich auszusprechen, und in der
Gelegenheit, kräftig zur Wirksamkeit kommen zu können. Dadurch scheint
Gott die Mannigfaltigkeit der Taten mit ihrem nachdrücklichsten
Erfolge, wie es auf der Erde notwendig ist, vermitteln zu wollen.
Es erschien mir immer merkwürdig, wo ich Gelegenheit hatte, es zu
beobachten, wie bei Menschen, die bestimmt sind, ganz Ungewöhnliches
in einer Richtung zu leisten, sich ihre Anlage bis in die feinsten
Fäden ihres Gegenstandes ausspricht und zu ihm hindrängt, während sie
in Anderm bis zum Kindlichen unwissend bleiben können. Einer, der
über Kunstdinge trotz aller Belehrung, trotz alles Umganges, trotz
langjähriger täglicher Berührung mit auserlesenen Kunstwerken nie
Anderes als Ungereimtes sagen konnte, war ein Staatsmann, der die
feinsten Abschattungen seines Gegenstandes durchdrang, der die
Gedanken der Völker und die Absichten der Menschen und Regierungen,
mit denen er verkehrte, erriet und es verstand, alle Dinge seinen
Zwecken dienstbar machen zu können, so daß das Anderen wie ein
Zauberwerk eines Geistes erschien, was gleichsam ein Naturgesetz war.
In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit einem Verstande, über
den wir uns vor Bewunderung kaum zu fassen wußten, in die Tiefen eines
Kunstwesens, das er besprechen wollte, einging, und Gedanken zu Tage
brachte, von denen wir nicht begriffen, wie sie in das Herz eines
Menschen haben kommen können; während er die Meinungen und Absichten
ganz gewöhnlicher Menschen und gerade solcher, die tief unter ihm
standen, nicht durchschaute und den notwendigen Gang der Staaten nicht
sah, weil ihm das Auge dafür versagt war oder weil er im Drange seiner
Gegenstände darauf nicht achtete. Ich könnte noch mehrere Beispiele
anführen: den zum Feldherrn Geborenen im Richtersaale um Mein und
Dein, oder den, der wissenschaftliche Stoffe fördert, in der Bildung
eines Heeres. So hat Gott es auch Manchen gegeben, daß sie dem Schönen
nachgehen müssen und sich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der
sie nicht lassen können. Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von
solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen großen Wirksamkeit
ausgeprägt ist. Ihrer können nicht viele sein, und neben ihnen werden
die geboren, bei denen sich eine gewisse Richtung nicht ausspricht,
die das Alltägliche tun und deren eigentümliche Anlage darin besteht,
daß sie gerade keine hervorragende Anlage zu einem hervorragenden
Gegenstande haben. Sie müssen in großer Menge sein, daß die Welt in
ihren Angeln bleibt, daß das Stoffliche gefördert werde und alle Wege
im Betriebe sind. Sehr häufig aber kömmt es nun leider auf den Umstand
an, daß der rechten Anlage der rechte Gegenstand zugeführt wird, was
so oft nicht der Fall ist.«

»Könnte denn nicht die Anlage den Gegenstand suchen, und sucht sie ihn
nicht auch oft?« fragte Eustach.

»Wenn sie in großer Macht und Fülle vorhanden ist, sucht sie ihn«,
entgegnete mein Gastfreund, »zuweilen aber geht sie in dem Suchen zu
Grunde.«

»Das ist ja traurig, und dann wird ihr Zweck verfehlt«, antwortete
Eustach.

»Ich glaube nicht, daß ihr Zweck deshalb ganz verfehlt wird«, sagte
mein Gastfreund, »das Suchen und das, was sie in diesem Suchen fördert
und in sich und Anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müssen eben
verschiedene, und zwar verschieden hohe und verschieden geartete
Stufen erstiegen werden. Wenn jede Anlage mit völliger Blindheit ihrem
Gegenstande zugeführt würde und ihn ergreifen und erschöpfen müßte,
so wäre eine viel schönere und reichere Blume dahin, die Freiheit der
Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von
ihm fern halten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und
dann trauern kann, daß sie sich von ihm abgewendet hat, oder die
endlich in das Paradies eingeht und sich glücklich fühlt, daß sie
eingegangen ist.«

»Oft habe ich schon gedacht«, sagte ich, »da die Kunst so sehr auf die
Menschen wirkt, wie ich an mir selber, wenn auch nur erst kurze Zeit,
zu beobachten Gelegenheit hatte, ob denn der Künstler bei der Anlage
seines Werkes seine Mitmenschen vor Augen habe und dahin rechne, wie
er es einrichten müsse, daß auf sie die Wirkung gemacht werde, die er
beabsichtiget.«

»Ich hege keine Zweifel, daß es nicht so ist«, erwiderte mein
Gastfreund, »wenn der Mensch überhaupt seine ihm angeborne Anlage
nicht kennt, selbst wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte und wenn
er mannigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe seine Umgebung ihn oder
er sich selber inne wird, ja wenn er zuletzt sich seiner Freiheit
gemäß seiner Anlage hingeben oder sich von ihr abwenden kann: so wird
er wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen im Stande sein,
daß sie an einem gewissen Punkte anlanden müsse; sondern je größer
die Kraft ist, um so mehr, glaube ich, wirkt sie nach den ihr
eigentümlichen Gesetzen, und das dem Menschen inwohnende Große strebt,
unbewußt der Äußerlichkeiten, seinem Ziele zu und erreicht desto
Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es strebt. Das Göttliche
scheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menschen
gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugnis auf die Mitmenschen
wirken soll, die Wirkung ist auch gekommen, sie ist oft eine große
gewesen, aber keine künstlerische und keine tiefe; sie haben etwas
Anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche
nach ihnen kamen, nicht teilten und von dem sie nicht begriffen,
wie es auf die Vorgänger hatte wirken können. Diese Menschen bauten
vergängliche Werke und waren nicht Künstler, während das durch die
wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Blüte der
Menschheit ist, nach allen Zeiten wirkt und entzückt, so lange die
Menschen nicht ihr Köstlichstes, die Menschheit, weggeworfen haben.«

»Es ist einmal in der Stadt die Frage gestellt worden«, sagte ich, »ob
ein Künstler, wenn er wüßte, daß sein Werk, das er beabsichtigt, zwar
ein unübertroffenes Meisterwerk sein wird, daß es aber die Mitwelt
nicht versteht und daß es auch keine Nachwelt verstehen wird, es doch
schaffen müsse oder nicht. Einige meinten, es sei groß, wenn er es
täte, er tue es für sich, er sei seine Mit- und Nachwelt. Andere
sagten, wenn er etwas schaffe, von dem er wisse, daß es die Mitwelt
nicht verstehe, so sei er schon töricht und vollends, wenn er es
schaffe und weiß, daß auch keine Nachwelt es begreifen wird.«

»Dieser Fall wird wohl kaum sein«, antwortete mein Gastfreund, »der
Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie
auch in der Wüste ist und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre
Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden
werden wird oder nicht. Ihm ist klar und schön vor Augen, was er
bildet, wie sollte er meinen, daß reine, unbeschädigte Augen es nicht
sehen? Was rot ist, ist es nicht allen rot? Was selbst der gemeine
Mann für schön hält, glaubt er das nicht für alle schön? Und sollte
der Künstler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten schön halten?
Woher käme denn sonst die Erscheinung, daß einer ein herrliches Werk
macht, das seine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert sich, weil er
eines andern Glaubens war. Es sind dies die Größten, welche ihrem
Volke voran gehen und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken stehen,
zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke führen müssen. Nach
Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift
nicht, wie sie konnten mißverstanden werden. Aber man hat durch diese
Künstler erst so denken und fühlen gelernt. Daher die Erscheinung, daß
gerade die größten Menschen die naivsten sind.

Wenn nun der früher angegebene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren
Künstler gäbe, der zugleich wüßte, daß sein beabsichtigtes Werk nie
verstanden werden würde, so würde er es doch machen, und wenn er es
unterläßt, so ist er schon gar kein Künstler mehr, sondern ein Mensch,
der an Dingen hängt, die außer der Kunst liegen. Hieher gehört auch
jene rührende Erscheinung, die von manchen Menschen so bitter getadelt
wird, daß einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ständen,
sich reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlstand zu gelangen,
lieber in Armut, Not, Entbehrung, Hunger und Elend lebt und immer
Kunstbestrebungen macht, die ihm keinen äußeren Erfolg bringen und
oft auch wirklich kein Erzeugnis von nur einigem Kunstwerte sind. Er
stirbt dann im Armenhause oder als Bettler oder in einem Hause, wo er
aus Gnaden gehalten wurde.«


Wir waren unseres Freundes Meinung. Eustach ohnehin schon, weil er
die Kunstdinge als das Höchste des irdischen Lebens ansah und ein
Kunststreben als bloßes Bestreben schon für hoch hielt, wie er auch
zu sagen pflegte, das Gute sei gut, weil es gut sei. Ich stimmte bei,
weil mich das, was mein Gastfreund sagte, überzeugte, und Gustav
mochte es geglaubt haben - Erfahrungen hatte er nicht -, weil ihm
alles Wahrheit war, was sein Pflegevater sagte.

Von einem Streben, das gewissermaßen sein eigener Zweck sei, vom
Vertiefen der Menschen in einen Gegenstand, dem scheinbar kein äußerer
Erfolg entspricht und dem der damit Behaftete doch alles Andere
opfert, kamen wir überhaupt auf Verschiedenes, an das der Mensch sein
Herz hängt, das ihn erfüllt und das sein Dasein oder Teile seines
Daseins umschreibt. Nachdem wir wirklich eine größere Zahl von Dingen
durchsprochen hatten, die zu dem Menschen in das von uns angeführte
Verhältnis treten können, als ich je vermutet hätte, machte mein
Gastfreund folgenden Ausspruch: »Wenn wir hier alle die Dinge
ausschließen, die nur den Körper oder das Tierische des Menschen
betreffen und befriedigen und deren andauerndes Begehren mit
Hinwegsetzung alles Andern wir mit dem Namen Leidenschaft bezeichnen,
weshalb es denn nichts Falscheres geben kann, als wenn man von edlen
Leidenschaften spricht, und wenn wir als Gegenstände höchsten Strebens
nur das Edelste des Menschen nennen: so dürfte alles Drängen nach
solchen Gegenständen vielleicht nicht mit Unrecht nur mit einem Namen
zu benennen sein, mit Liebe. Lieben als unbedingte Werthaltung mit
unbedingter Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigentlich nur
Gott; aber da uns Gott für irdisches Fühlen zu unerreichbar ist, kann
Liebe zu ihm nur Anbetung sein, und er gab uns für die Liebe auf
Erden Teile des Göttlichen in verschiedenen Gestalten, denen wir uns
zuneigen können: so ist die Liebe der Eltern zu den Kindern, die
Liebe des Vaters zur Mutter, der Mutter zum Vater, die Liebe der
Geschwister, die Liebe des Bräutigams zur Braut, der Braut zum
Bräutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde, die Liebe zum
Vaterlande, zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Natur, und endlich
gleichsam kleine Rinnsale, die sich von dem großen Strome abzweigen,
Beschäftigungen mit einzelnen, gleichsam kleinlichen Gegenständen,
denen sich oft der Mensch am Abende seines Lebens wie kindlichen
Notbehelfen hingibt, Blumenpflege, Zucht einer einzigen Gewächsart,
einer Tierart und so weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei
belegen. Wen die größeren Gegenstände der Liebe verlassen haben, oder
wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei
besitzt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da.

So faßt es sich, glaube ich, zusammen, was wir mit der Richtung
großer Kräfte nach großen Zielen bezeichnen, und so findet es seine
Berechtigung.«

»Jene Zeit«, sagte er nach einer Weile, »in welcher die Kirchen gebaut
worden sind, wie wir eben eine besucht haben, war in dieser Hinsicht
weit größer als die unsrige, ihr Streben war ein höheres, es war
die Verherrlichung Gottes in seinen Tempeln, während wir jetzt
hauptsächlich auf den stofflichen Verkehr sehen, auf die
Hervorbringung des Stoffes und auf die Verwendung des Stoffes,
was nicht einmal ein an sich gültiges Streben ist, sondern nur
beziehungsweise, in so fern ihm ein höherer Gedanke zu Grunde
gelegt werden kann. Das Streben unserer älteren Vorgänger war auch
insbesondere darum ein höheres, weil ihm immer Erfolge zur Seite
standen, die Hervorbringung eines wahrhaft Schönen. Jene Tempel waren
die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte bauten daran, sie liebten sie
also, und jene Tempel sind auch jetzt in ihrer Unvollendung oder in
ihren Trümmern die Bewunderung einer wieder erwachenden Zeit, die ihre
Verdüsterung abgeschüttelt hat, aber zum allseitigen Handeln noch
nicht durchgedrungen ist. Sogar das Streben unserer unmittelbaren
Vorgänger, welche sehr viele Kirchen nach ihrer Schönheitsvorstellung
gebaut, noch mehr Kirchen aber durch zahllose Zubauten, durch
Aufstellung von Altären, durch Umänderungen entstellt und uns eine
sehr große Zahl solcher Denkmale hinterlassen haben, ist in so
ferne noch höher als das unsere, indem es auch auf Erbauung von
Gotteshäusern ausging, auf Darstellung eines Schönen und Kirchlichen,
wenn es sich auch in dem Wesen des Schönen von den Vorbildern
der früheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unsere Zeit von dem
Stofflichen wieder in das Höhere übergeht, wie es den Anschein
hat, werden wir in Baugegenständen nicht auch gleich das Schöne
verwirklichen können. Wir werden Anfangs in der bloßen Nachahmung
des als schön Erkannten aus älteren Zeiten befangen sein, dann wird
durch den Eigenwillen der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte
entstehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blickenden größer
wird, bis man nach einer allgemeineren und begründeteren Einsicht
vorgeht und aus den alten Bauarten neue, der Zeit eigentümlich
zugehörige, entsprießen.«

»In der Kirche, welche wir eben gesehen haben«, sagte ich, »liegt nach
meiner Meinung eine eigentümliche Schönheit, daß es nicht begreiflich
ist, wie eine Zeit gekommen ist, in welcher man es verkennen und so
Manches hinzufügen konnte, was vielleicht schon an sich unschön ist,
gewiß aber nicht paßt.«

»Es waren rauhe Zeiten über unser Vaterland gekommen«, erwiderte er,
»welche nur in Streit und Verwüstung die Kräfte übten und die tieferen
Richtungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten
vorüber waren, hatte man die Vorstellung des Schönen verloren, an
seine Stelle trat die bloße Zeitrichtung, die nichts als schön
erkannte als sich selber und daher auch sich selber überall
hinstellte, es mochte passen oder nicht. So kam es, daß römische oder
korinthische Simse zwischen altdeutsche Säulen gefügt wurden.«

»Aber auch unter den altdeutschen Kirchen ist diese, welche wir
verlassen haben, wenn ich nach den Kirchen, die ich gesehen habe,
urteilen darf, eine der schönsten und edelsten«, sagte ich.

»Sie ist klein«, erwiderte mein Gastfreund, »aber sie übertrifft
manche große. Sie strebt schlank empor wie Halme, die sich wiegen, und
gleicht auch den Halmen darin, daß ihre Bögen so natürlich und leicht
aufspringen wie Halme, die da nicken. Die Rosen in den Fensterbögen,
die Verzierungen an den Säulenknäufen, an den Bogenrippen, so wie die
Rose der Turmspitze sind so leicht wie die verschiedenen Gewächse, die
in dem Halmenfelde sich entwickeln.«

»Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke«, antwortete ich, »den ich
schon öfter hatte, daß man nehmlich die Fassung von Edelsteinen im
Sinne altdeutscher Baudenkmale einrichten sollte, und daß man dadurch
zu schöneren Gestaltungen käme.«

»Wenn ihr den Gedanken so nehmet«, erwiderte er, »daß sich die, welche
Edelsteine fassen, im Sinne der alten Baumeister bilden sollen, welche
Würdiges und Schönes auf einfache und erhebende Art darstellten,
so dürftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn ihr aber meint, daß
Gestaltungen, welche an mittelalterlichen Gebäuden vorkommen, im
verkleinerten Maßstabe sofort als Schmuckdinge zu gebrauchen seien, so
dürftet ihr euch irren.«

»So habe ich es gemeint«, sagte ich.

»Wir haben schon einmal über diesen Gegenstand gesprochen«, erwiderte
er, »und ich habe damals selber auf die altertümliche Kunst als die
Grundlage von Schmuck hingewiesen; aber ich habe damit nicht bloß
die Baukunst gemeint, sondern jede Kunst, auch die der Geräte,
der Kirchenstoffe, der weltlichen Stoffe, die Malerkunst, die
Bildhauerkunst, die Holzschneidekunst und Ähnliches. Auch habe ich
nicht die unmittelbare Nachahmung der Gestaltungen gemeint, sondern
die Erkennung des Geistes, der in diesen Gestaltungen wohnt, das
Erfüllen des Gemütes mit diesem Geiste, und dann das Schaffen in
dieser Erkenntnis und in diesem Erfülltsein. Es steht der Übertragung
der baulichen Gestaltungen auf Schmuck auch ein stoffliches Hindernis
entgegen. Die Gebäude, an denen der Schönheitssinn besonders zur
Ausprägung kam, waren immer mehr oder weniger ernste Gegenstände:
Kirchen, Paläste, Brücken und im Altertume Säulen und Bögen. Im
Mittelalter sind die Kirchen weit das Überwiegende; bleiben wir also
bei ihnen. Um den Ernst und die Würde der Kirche darzustellen, ist der
Stoff nicht gleichgültig, aus dem man sie verfertiget. Man wählte den
Stein als den Stoff, aus dem das Großartigste und Gewaltigste von dem,
was sich erhebt, besteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort, wo er
nicht von Wald oder Rasen überkleidet ist, sondern nackt zu Tage
steht, das erhabenste Ansehen. Daher gibt er auch der Kirche die
Gewalt ihres Eindruckes. Er muß dabei mit seiner einfachen Oberfläche
wirken und darf nicht bemalt oder getüncht sein. Das Nächste unter dem
Emporstrebenden, was sich an das Gebirge anschließt, ist der Wald. Ein
Baum übt nach dem Felsen die größte Macht. Daher ist die Kirche in
Würde und künstlerischem Ansehen auch noch von Holz denkbar, sobald es
nicht bemalt und nicht bestrichen ist. Eine eiserne Kirche oder gar
eine von Silber könnte nicht anders als widrig wirken, sie würde nur
wie roher Prunk aussehen, und von einer Kirche aus Papier, gesetzt,
man könnte den Wänden auf die Dauer Widerstand gegen Wetter und den
Verzierungen durch Pressen oder dergleichen die schönsten Gestalten
geben, wendet sich das Herz mit Widerwillen und Verachtung ab. Mit dem
Stoffe hängt die Gestaltung zusammen. Der Stein ist ernst, er strebt
auf und läßt sich nicht in die weichsten, feinsten und gewundensten
Erscheinungen biegen. Ich rede von dem Bausteine, nicht von dem
Marmor. Daher hat man die Gestalten der Kirche aus ihm emporstrebend,
einfach und stark gemacht, und wo Biegungen vorkommen, sind sie mit
Maß und mit einem gewissen Adel ausgeführt und überladen nicht die
Wände und die andern Bildungen. In der Zeit, als sie das Übergewicht
zu bekommen anfingen, hörte auch die strenge Schönheit der Kirchen auf
und die Niedlichkeit begann. Zu den Fassungen unseres Schmuckes nehmen
wir Metall, und zwar meistens Gold. Das Metall aber hat wesentlich
andere Merkmale als der Stein. Es ist schwerer; darf also, ohne uns zu
drücken, nicht in größeren Stücken angewendet worden, sondern muß in
zarte Gestaltungen auseinander laufen.

Dabei hat es unter allen Stoffen die größte Biegsamkeit und
Dehnbarkeit, wir glauben ihm daher die kühnsten Windungen und
Verschlingungen und fordern sie von ihm. Die Bildungen, besonders
Zieraten aus Gold, können daher nicht genau dieselben sein wie die aus
Stein, wenn beide schön sein sollen. Aber aus dem inneren Geiste des
einen, glaube ich, kann man recht gut und soll man den innern Geist
des andern kennen, und es dürfte Treffliches heraus kommen.«

Ich vermochte gegen diese Ansicht nichts Wesentliches einzuwenden.
Eustach führte sie noch genauer durch Beispiele aus, die er von
bekannten Steingestaltungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine
geläufige, leichte, kirchliche Steinbildung, wenn man sie etwa aus
Gold machen lasse, sogleich schwer, träg und unbeholfen werde, und
er zeigte auch, wie man nach und nach die Steingestaltung umwandeln
müsse, daß sie zu einer für Gold tauge, und da lebendig und
eigentümlich werde. Er versprach mir, daß er mir über diese
Angelegenheit, wenn wir nach Hause gekommen sein würden, Zeichnungen
zeigen würde. Ich sah hieraus, wie sehr meine Freunde über diesen
Gegenstand nachgedacht haben und wie sie tatsächlich in ihn
eingegangen seien.

»Es sind aber nicht bloß die Äußerlichkeiten an unserer Kirche sehr
schön«, fuhr mein Gastfreund fort, »sondern die Gestalten der Heiligen
auf dem Altare und in den Nischen sind schöner, als man sie sonst
meistens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche stammt, zu sehen
gewohnt ist. Wenn ich sagte, daß die griechischen Bildergestalten eine
größere sinnliche Schönheit haben als die aus dem Mittelalter, so ist
dieses nicht ausnahmslos so. Es gibt auch höchst liebliche Gestalten
aus dem Mittelalter, und wo keine Verzeichnung ist und wo sich
Sinnlichkeit zeigt, sind sie meistens wärmer als die griechischen. In
der kleinen Kirche ist Ähnliches vorhanden, deshalb habe ich so gerne
ihre Wiederherstellung übernommen, deshalb bedaure ich, daß meine
Mittel nicht so groß sind, die gänzliche Vollendung herbeiführen zu
können, und deshalb habe ich so sehr nach den Gestalten, die in den
Nischen fehlen, suchen lassen, um so viel als möglich die Kirche zu
bevölkern, wenn auch der Gedanke Raum hatte, daß vielleicht nicht
einmal alle Gestalten fertig geworden und alle Plätze besetzt gewesen
seien. Vielleicht steht einmal eine höhere und allgemeinere Kraft
auf, die diese und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer Reinheit
darstellt.«

Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe an, und ich sagte, daß ich
nun nicht mehr lange da verweilen könne. Mein Gastfreund erwiderte,
daß er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde, daß er mich
einlade, ihn zu begleiten und daß ich bis dahin noch bei ihm bleiben
möge.

Ich erklärte, daß bei mir wohl einige Tage keinen wesentlichen
Unterschied machten, daß ich aber doch wünsche, bald zu meinen Eltern
zurückkehren zu können.

So war der Abend vor der Abreise in den Sternenhof gekommen, und
mein Gastfreund sagte an demselben in einem gelegenen Augenblicke zu
mir: »Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe ist, in ein inniges
Verhältnis; es ist billig, daß ihr alles wisset, wie es in dem
Sternenhofe ist und in welchen Beziehungen ich zu demselben stehe. Ich
werde euch alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel größerer Ruhe
seid und mit Klarheit das Mitgeteilte aufnehmen könnet, so werde ich
es euch erzählen, wenn ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet
jetzt zu euren Eltern gehen, wie ihr sagt, um ihnen zu berichten, wie
ihr aufgenommen worden seid und wie die Angelegenheit steht. Wenn ihr
dann nach eurem beliebigen Willen wieder zu mir kommt, sei es zu was
immer für einer Zeit, so werdet ihr willkommen sein und bereitwilligen
Empfang finden.«


Am anderen Morgen saß ich nebst Gustav mit ihm in dem Wagen, und wir
fuhren dem Sternenhofe zu.

Wir wurden dort so freundlich und heiter aufgenommen wie immer, ja
noch freundlicher und heiterer als sonst. Die Zimmer, welche wir immer
bewohnt hatten, standen für uns, wie für Personen, welche zu der
Familie gehörten, in Bereitschaft. Natalie stand mit lieblichen Mienen
neben ihrer Mutter und sah ihren älteren Freund und mich an. Ich
grüßte mit Ehrerbietung die Mutter und fast mit gleicher Ehrerbietung
die Tochter. Gustav war etwas schüchterner als sonst und blickte
bald mich, bald Natalien an. Wir sprachen die gewöhnlichen
Bewillkommungsworte und andere unbedeutende Dinge. Dann verfügten wir
uns in unsere Zimmer.

Noch an demselben Tage und am nächsten besah mein Gastfreund
verschiedene Dinge, welche zur Bewirtschaftung des Gutes gehörten,
besprach sich mit Mathilden darüber, besuchte selbst ziemlich
entfernte Stellen und ordnete im Namen Mathildens an. Auch die
Arbeiten in der Hinwegschaffung der Tünche von der Außenseite des
Schlosses besah er. Er stieg selber auf die Gerüste, untersuchte die
Genauigkeit der Hinwegschaffung der aufgetragenen Kruste und die
Reinheit der Steine. Er prüfte die Größe der in einer gewöhnlichen
Zeit vollbrachten Arbeit und gab Aufträge für die Zukunft. Wir waren
bei den meisten dieser Beschäftigungen gemeinschaftlich zugegen.

Man behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Mathilde war so
sanft, so gelassen und milde wie immer. Wer nicht genauer geblickt
hätte, würde keinen Unterschied zwischen sonst und jetzt gewahr
geworden sein. Sie war immer gütig und konnte daher nicht gütiger
sein. Ich empfand aber doch einen Unterschied. Sie richtete das Wort
so offen an mich wie früher; aber es war doch jetzt anders. Sie fragte
mich oft, wenn es sich um Dinge des Schlosses, des Gartens, der
Felder, der Wirtschaft handelte, um meine Meinung, wie einen, der
ein Recht habe und der fast wie ein Eigentümer sei. Sie fragte gewiß
nicht, um meine Meinung so gründlich zu wissen; denn mein Gastfreund
gab die besten Urteile über alle diese Gegenstände ab, sondern sie
fragte so, weil ich einer der ihrigen war. Sie hob aber diese Fragen
nicht hervor und betonte sie nicht, wie jemand getan hätte, bei dem
sie Absicht gewesen wären, sondern sie empfand das Zusammengehörige
unseres Wesens und gab es so. Mir ging diese Behandlung ungemein lieb
in die Seele. Mein Gastfreund war wohl beinahe gar nicht anders; denn
sein Wesen war immer ein ganzes und geschlossenes; aber auch er schien
herzlicher als sonst.

Gustav verlor sein anfängliches schüchternes Wesen. Obwohl er auch
jetzt noch kein Wort sagte, welches auf unser Verhältnis anspielte -
das taten auch die anderen nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung
erhalten, um, obgleich er noch so jung war, hierin eine Ausnahme zu
machen -, so ging er doch zuweilen plötzlich an meine Seite, nahm mich
bei einem Arme, drückte ihn oder nahm mich bei der Hand und drückte
sie mit der seinen. Nur mit Natalie war es ganz anders. Wir waren
beinahe scheuer und fremder, als wir es vor jenem Hervorleuchten des
Gefühles in der Grotte der Brunnennymphe gewesen waren. Ich durfte
sie am Arme führen, wir durften mit einander sprechen; aber wenn
dies geschah, so redeten wir von gleichgültigen Dingen, welche weit
entfernt von unseren jetzigen Beziehungen lagen. Und dennoch fühlte
ich ein Glück, wenn ich an ihrer Seite ging, daß ich es kaum mit
Worten hätte sagen können. Alles, die Wolken, die Sterne, die Bäume,
die Felder schwebten in einem Glanze, und selbst die Personen ihrer
Mutter und ihres alten Freundes waren verklärter. Daß in Natalien
Ähnliches war, wußte ich, ohne daß sie es sagte.

Wenn wir an dem Scheunentore des Meierhofes vorbeigingen oder an
einer anderen Tür oder an einem Felde oder sonst an einem Platze, auf
welchem gearbeitet wurde, so traten die Menschen zusammen, blickten
uns nach und sahen uns mit denselben bedeutungsvollen Augen an, mit
denen man mich in dem Asperhofe angeschaut hatte. Es war mir also
klar, daß man auch hier wußte, in welchen Beziehungen ich zu der
Tochter des Hauses stehe. Ich hätte es auch aus der größeren
Ehrerbietung der Diener heraus lesen können, wenn es mir nicht schon
sonst deutlich gewesen wäre. Aber auch hier wie in dem Asperhofe
bemerkte ich, daß es etwas Freundliches war, etwas, das wie Freude
aussah, was sich in den Mienen der Leute spiegelte. Sie mußten also
auch hier mit dem, was sich vorbereitete, zufrieden sein. Ich war
darüber tief vergnügt; denn auf welchem Stande der Entwickelung die
Leute immer stehen mögen, so ist es doch gewiß, wie ich aus dem
Umgange mit vielen Menschen reichlich erfahren habe, daß Geringere die
Höheren oft sehr richtig beurteilen und namentlich, wenn Verbindungen
geschlossen werden, seien es Freundschaften, seien es Ehen, mit
richtiger Kraft erkennen, was zusammen gehört und was nicht. Daß sie
mich also zu Natalien gehörig ansahen, erfüllte mich mit nachhaltender
inniger Freude.

Wie Natalie über diese Kundgebungen der Leute dachte, konnte ich nicht
erkennen.

Nachdem so drei Tage vergangen waren, nachdem wir die verschiedensten
Stellen des Schlosses, des Gartens, der Felder und der Wälder
gemeinschaftlich besucht hatten, nachdem wir auch manchen Augenblick
in den Gemäldezimmern und in denen mit den altertümlichen Geräten
zugebracht und an Verschiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich
auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu besprechen und zu
ordnen war, zwischen Mathilden und meinem Gastfreunde besprochen
und geordnet worden war, wurde auf den nächsten Tag die Abreise
beschlossen. Wir verabschiedeten uns auf eine ähnliche Weise, wie wir
uns bewillkommt hatten, der Wagen war vorgefahren, und wir schlugen
die Richtung zurück ein, in der wir vor vier Tagen gekommen waren.


Ich fuhr mit meinem Gastfreunde nur bis an die Poststraße und auf
derselben bis zur ersten Post. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf
Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg gemacht
hatte, ich aber schlug mit Postpferden die Richtung gegen das Kargrat
ein. Ich war entschlossen, im Kargrat für jetzt ganz abzubrechen und
also die Gegenstände, die ich noch dort hatte, fortschaffen zu lassen.
Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war, richtete ich meine
Verhältnisse zurecht, ließ meine Dinge einpacken und schickte sie
fort. Ich nahm von dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte,
Abschied, verabschiedete mich auch von meinen Wirtsleuten und von den
anderen Menschen, die mir bekannt geworden waren, sagte, daß ich nicht
weiß, wann ich in das Kargrat zurückkehren werde, um meine Arbeiten,
welche ich wegen eines schnell eingetretenen Umstandes hatte abbrechen
müssen, fortzusetzen, und reiste wieder ab.

Ich ging jetzt in das Lauterthal, um es zu besuchen. Es war in der
Richtung nach meiner Heimat ein geringer Umweg, und ich wollte das
Tal, das mir lieb geworden war, wieder sehen. Besonders aber führte
mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung hatte, daß mein
Auftrag, den ich in dem Tale gegeben hatte, zu forschen, ob sich nicht
doch noch die Ergänzungen zu den Vertäflungen meines Vaters fänden,
einen Erfolg haben werde, so wollte ich doch nicht nach Hause reisen,
ohne in dieser Hinsicht Nachfrage gehalten zu haben. Die gewünschten
Ergänzungen hatten sie zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu
denselben war entdeckt worden; aber manche Leute hatte ich gesehen,
denen ich in früheren Tagen geneigt worden war, Gegenstände hatte ich
erblickt, von denen ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnügen
umringt gewesen war.

Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich die Arbeiten noch in
einem höheren Maße entwickelt und im Gange, als sie es bei meiner
letzten Anwesenheit gewesen waren. Von mehreren Orten hatte man
Bestellungen eingesendet, selbst von unserer Stadt, wo das Becken der
Einbeere bekannt geworden war und manchen Beifall gefunden hatte,
waren Briefe geschickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in diese
abgelegene Gegend, machten Käufe und hinterließen Aufträge. Ich sah
also, daß sich Manches hier gebessert habe, betrachtete die Arbeiten
und bestellte auch wieder einige neue, weil ich teils noch Stücke
schönen Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht werden konnte
und weil anderen Teils in dem Garten des Vaters zur Brüstung oder zu
anderen Stellen noch Gegenstände fehlten. Die Leute hatten mich recht
freundlich und zuvorkommend empfangen, sie zeigten mir, was im Gange
war, welche Verbesserungen sie eingeführt hatten und welche sie noch
beabsichtigen. Sie ließen hiebei nicht unerwähnt, daß ich der kleinen
Anstalt immer zugetan gewesen sei und daß ich zu den Verbesserungen
manchen Anlaß und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drückte meine
Freude über alles das aus und versprach, daß ich, wenn ich in die Nähe
käme, jederzeit recht gerne einen kurzen Besuch in dem Rothmoor machen
würde.

Nach diesem unbedeutenden Aufenthalte im Lauterthale und im Rothmoor
setzte ich meine Reise zu meinen Eltern ohne weitere Verzögerung fort.



Die Mitteilung

Zu Hause hatten sie mich noch nicht erwartet, weil ich ihnen durch
meinen Brief angezeigt hatte, daß ich mit meinem Gastfreunde eine
kleine Reise zu einer altertümlichen Kirche machen würde. Auch hatten
sie sich vorgestellt, daß ich noch einmal in meinen Aufenthaltsort
in das Hochgebirge gehen und mich auf der Rückreise eine Zeit in dem
Sternenhofe aufhatten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich in
beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort, und es drängte mein
Herz, den Meinigen zu eröffnen, wie meine Angelegenheiten stehen. Als
ich dieses getan hatte, waren sie bei Weitem weniger ergriffen, als
ich erwartet hatte. Sie freuten sich, aber sie sagten, sie hätten
gewußt, daß es so sein werde, ja sie hätten seit Jahren die jetzige
Entwicklung schon geahnt. Im Rosenhause und im Sternenhofe, meinten
sie, würde man mich nicht so freundschaftlich und gütig behandelt
haben, wenn man mich nicht lieb gehabt und wenn man nicht selbst das,
was sich jetzt ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet hätte,
dessen Spuren man ja doch habe entstehen sehen müssen. So lieb mir
diese Ansicht war, weil sie die Gesinnungen meiner Angehörigen gegen
mich ausdrückte, so konnte ich doch nicht umhin, zu denken, daß nur
die Meinigen die Sache so betrachten, weil sie eben die Meinigen sind,
und daß sie mich auch darum des Empfangenen für würdig erachteten. Ich
aber wußte es anders, weil ich Natalien und ihre Umgebung kannte und
ihren Wert zu ahnen vermochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur
als ein Glück ansehen, welches mir ein günstiges Schicksal entgegen
geführt hatte und dessen immer würdiger zu werden ich mich bestreben
müsse.

Mein Vater sagte, es sei alles gut, die Mutter ließ in wehmütiger und
freudiger Stimmung immer wieder die Worte fallen, daß denn so gar
nichts für ein so wichtiges Verhältnis vorbereitet sei; die Schwester
sah mich öfter sinnend und betrachtend an.

Ich sprach die Bitte aus, daß die Eltern mir nun beistehen müßten,
das, was in den gegenwärtigen Verhältnissen zu tun sei, auf das
Schicklichste zu tun, und ich legte auch den Wunsch dar, daß ich nach
des Vaters Ansicht eine größere Reise unternehmen möchte.

»Es sind mehrere Dinge nötig«, sagte der Vater. »Zuerst, glaube ich,
erwartet man von deinen Eltern eine Annäherung an sie; denn die
Angehörigen der Braut können sich nicht schicklich zuerst den
Angehörigen des Bräutigams vorstellen. Außerdem hat mir dein
Gastfreund Liebes erwiesen, was ich ihm noch nicht habe vergelten
können. Ferner hat dir dein Gastfreund Mitteilungen zu machen, die
er für notwendig hält; und endlich solltest du wirklich, wie du
auch selber wünschest, eine größere Reise machen, um wenigstens im
Allgemeinen Menschen und Welt näher kennen zu lernen. Was deine
Gegenleute tun werden, ist ihre Sache, und wir müssen es erwarten.
Unsere Angelegenheit ist jetzt, das, was uns obliegt, auf solche Weise
zu tun, daß wir uns weder vordrängen noch daß etwas geschehe, was
wie geringere Achtung dessen aussähe, was uns durch diese Verbindung
geboten wird. Ich glaube, die natürlichste Ordnung wäre folgende. Du
mußt zuerst die Mitteilungen deines Freundes anhören, weil sie dir
zuerst ohne Bedingung angetragen worden sind. Dann werde ich mit
deiner Mutter eine Reise zur Mutter deiner Braut machen und bei dieser
Gelegenheit deinen Gastfreund besuchen. Endlich magst du den Vorschlag
tun, daß du eine Reise zu höherer Ausbildung zu unternehmen wünschest.
Weil aber dein Gastfreund selber gesagt hat, daß du, ehe er dir seine
Mitteilungen macht, zu größerer Ruhe kommen sollst, und weil es
andererseits unziemend wäre, zu sehr zu drängen, so kannst du nicht
jetzt sogleich zu ihm gehen und ihn um seine Eröffnungen bitten,
sondern du mußt eine Zeit verfließen lassen und ihn später, vielleicht
im Winter, besuchen. Dadurch sieht er auch, daß du einerseits nicht
zudringlich bist und daß du andererseits, da du in ungewohnter
Jahreszeit zu ihm kömmst, doch die Sehnsucht zu erkennen gibst, deine
Sache zu fördern. Und damit du gewisser zu der erforderlichen Ruhe
gelangest, schlage ich dir vor, mich auf einer kleinen Reise in meine
Geburtsgegend zu begleiten, die wir in Kürze antreten können.

Wenn du dann im Winter zu deinem Gastfreunde kömmst, so kannst du ihm
unsere Grüße bringen und ihm sagen, daß wir mit Beginn der schöneren
Jahreszeit kommen und für dich um die Hand der Tochter seiner Freundin
werben werden.«

Alle waren mit diesem Vorschlage vollkommen einverstanden. Besonders
freute sich die Mutter, als sie hörte, daß der Vater von freien
Stücken auf einen Reiseplan gekommen sei, dessen Richtung sie gar
nicht erraten hätte.

»Ich muß mich ja üben«, erwiderte er, »wenn ich im Frühlinge eine
Reise in das Oberland bis in die Nähe der Gebirge antreten soll, die
uns auch in den Rosenhof bringt und weiß Gott wie weit noch führen
kann; denn wenn Leute, die immer zu Hause sind, einmal von der
Wanderungslust ergriffen werden, dann können sie auch ihres Reisens
kein Ende finden und besuchen Gegend um Gegend.«

Ich aber sagte hierauf: »Weil Klotilde nie die Gebirge gesehen hat,
weil sie in dieser ganzen Angelegenheit am weitesten zurückgesetzt
ist, weil ich ihr immer versprochen habe, sie in die Berge zu führen,
und weil die Erfüllung dieses Versprechens durch meine größere
Reise wieder hinaus geschoben werden könnte: so mache ich ihr den
Vorschlag, mit mir, wenn ich mit dem Vater von unserer kleinen Reise
zurückgekommen bin, einen Teil des Herbstes in dem Hochgebirge
zuzubringen. Die Tage des Herbstes, selbst die des Spätherbstes,
sind in den Gebirgen meistens sehr schön, und wir können in den
klaren Lüften weiter herum sehen, als es oft in dem schwülen und
gewitterreichen Dunstkreise der Monate Juni oder Juli möglich ist.«

Klotilde nahm diesen Vorschlag mit Freude an, und ich versprach ihr,
in den Tagen, die noch bis zu meiner Abreise mit dem Vater verfließen
werden, alles anzugeben, was sie an Kleidern und sonstigen Dingen zu
der Gebirgsreise bedürfe, welche Gegenstände sie dann während meiner
Abreise vorrichten lassen könne.

»Wenn ich zu den Mitteilungen meines Freundes an Ruhe gewinnen muß«,
setzte ich hinzu, »so könnten diese Reisen das beste Mittel dazu
abgeben.«

Der Vater und die Mutter waren mit meinem Vorschlage sehr zufrieden.
Die Mutter sagte nur, sie werde an den Vorbereitungen Klotildens
mitarbeiten und besonders darauf sehen, daß alles vorhanden sei, was
zu dem Schutze der Gesundheit gehöre.

Ich erwiderte, daß das sehr gut sei und daß ich auch bei der Reise
selber alle Maßregeln ergreifen werde, daß Klotildens Gesundheit
keinen Schaden leide.

Wir fingen wirklich am andern Tage an, die Dinge zu bereden, welche
Klotilde zur Reise brauche. Sie ging rüstig an die Anschaffung. Ich
entwarf ein Verzeichnis der Notwendigkeiten, welches ich nach und
nach ergänzte. Als einige Zeit verflossen war, glaubte ich es so
vervollständigt zu haben, daß nun nicht leicht mehr etwas Wesentliches
vergessen werden konnte.


Indessen rückte auch der Tag heran, an welchem ich mit dem Vater
abreisen sollte.

Am frühen Morgen desselben setzten wir uns in den leichten Reisewagen,
dessen sich der Vater immer bedient hatte, wenn er größere
Entfernungen zurücklegen mußte. Jetzt war er lange nicht mehr aus dem
Wagenbehältnis gekommen. Auf Anordnung der Mutter wurde er einige
Tage vorher von Sachkundigen genau untersucht, ob er nicht heimliche
Gebrechen habe, welche uns in Schaden bringen könnten. Als dies
einstimmig verneint worden war, gab sie sich zufrieden. Wir hatten
Postpferde, wechselten dieselben an gehörigen Orten und hielten uns in
ihnen so lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden Abend ließ der
Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde das Nachtlager bestellt und
wir machten vor dem Abendessen einen Spaziergang. In diesen Tagen, an
denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbrochen mit dem Vater
zubrachte, als dies je vorher der Fall gewesen war, sprach ich
auch mehr mit ihm als je zu einer anderen Zeit. Wir sprachen von
Kunstdingen: er erzählte mir von seinen Bildern, sagte mir Manches
über ihre Erwerbung, was ich noch nicht wußte, und verbreitete sich in
guter Rede über ihren Kunstwert, er kam auf seine Steine und erklärte
mir Manches; wir ergingen uns in Büchern, die uns beiden geläufig
waren, setzten ihren Wert, wenn er dichterisch oder wissenschaftlich
war, auseinander und erinnerten uns gegenseitig an Teile des Inhaltes;
wir sprachen auch von Zeitereignissen und von der Lage unsers Staates.

Er erzählte mir endlich von seinem kaufmännischen Geschäfte und machte
mich mit dessen Grundlagen und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Teile
der Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich von dem
Schicksale mancher Familie, die in diesem oder jenem Abschnitte der
Landschaft wohnte. Unter diesen Verhältnissen kamen wir am vierten
Tage an dem Orte unserer Bestimmung an. Die Gegend war mir völlig
unbekannt, weil mich meine Wanderungen nie hieher getragen hatten.

Am Saume des Waldes, der den Norden unseres Landes begrenzt, ging ein
Tal hin, das einst Wald gewesen war und das jetzt zerstreute Häuser,
einzelne Felder, Wiesen, Felsen, Schluchten und rinnende Wasser in
seinem Bereiche hegte. Eines der Häuser, halb aus Holz gezimmert und
halb gemauert, war das Geburtshaus meines Vaters. Es stand am Rande
eines Wäldchens, das von dem großen Walde herstammte, der einst diese
ganzen Gegenden bedeckt hatte. Es war gegen West durch eine Gruppe
sehr großer und dicht stehender Buchen gedeckt. daß ihm die Winde
von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Ost den Schutz eines
Felsens, im Norden den des großen Waldbandes und schaute gegen Süden
auf seine nicht unbeträchtlichen Wiesen und Felder, deren Ergiebigkeit
in Getreide gering, in Futterkräutern außerordentlich war, weshalb der
größere Reichtum auch in Herden bestand. Wir fuhren in das Gasthaus
des Tales, ließen unsere Reisedinge abpacken, bestellten uns auf
einige Tage Wohnung und besuchten dann die sehr entfernten Verwandten,
welche jetzt des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen Mittag.
Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hatten, sehr freundlich auf und
verlangten, daß wir unser Gepäcke holen lassen und bei ihnen wohnen
sollten. Nur auf die dringenden Vorstellungen des Vaters, daß wir
ihnen die Bequemlichkeit nähmen und selber keine gewännen, gaben sie
nach und verlangten nur noch, daß wir zum bevorstehenden Mittagessen
bei ihnen bleiben sollten, was wir annahmen.

Da wir nun in der großen Wohnstube saßen, zeigte mir der Vater den
geräumigen Ahorntisch, bei dem er und seine Geschwister ihre Nahrung
eingenommen hatten. Der Tisch war alt geworden, aber der Vater sagte,
daß er noch in derselben Ecke stehe, von den zwei Fenstern beglänzt
und von der hereinscheinenden Sonne beleuchtet wie einst. Er zeigte
mir seine gewesene, neben der Stube befindliche Schlafkammer.

Dann gingen wir hinaus, er wies mir die Treppe, die auf den hölzernen
Gang führte, welcher rings um den Hof lief, und den Quell, der sich
noch immer mit hellem Wasser in den Granittrog ergoß, welchen schon
sein Urgroßvater hatte hauen lassen, er wies mir den Stall, die
Scheune und hinter ihr den Waldweg, auf dem er, noch ein halbes Kind,
mit einem Stabe in der Hand die Heimat verlassen habe, um in der
Fremde sein Glück zu suchen. Wir gingen sogar in das Freie und dort
herum. Der Vater blieb häufig stehen und erinnerte sich noch der
Fruchtgattungen, welche auf verschiedenen Stellen gestanden waren,
als er mit einem Täfelchen, darauf sich rote und schwarze Buchstaben
befanden, in das eine Viertelstunde entlegene hölzerne Haus ging, das
an der Straße stand, von Buchen umgeben war und die Schule für alle
Kinder des Tales vorstellte. Er sagte, es sei alles noch wie zur Zeit
seiner Kindheit, die nehmlichen Begrenzungen, die nehmlichen kleinen
Feldwege und dieselben Wassergräben und Quellrinnsale. Er sagte, es
sei ihm, als ständen sogar dieselben Arnicablumen auf der Wiese, die
er als Knabe angeschaut habe, und da er mich zu dem Steinbühl geführt
hatte, der am Rande der Felder lag, so ragten die Himbeerzweige
empor, rankten sich die dornenreichen Brombeerreben um die Steine und
wucherten die Erdbeerblätter, gerade wie die, von denen er als Knabe
gepflückt hatte. Vom Steinbühl gingen wir zu dem einfachen Essen, das
wir mit unsern Verwandten verzehrten. Nach demselben besuchten wir mit
dem jetzigen Eigentümer alle Besitzungen. Der Vater sagte, dort habe
sein Vater gepflügt, geeggt, gegraben, hier habe seine Mutter mit der
Schwester, der Magd und den Tagelöhnern Heu gemacht, dort seien die
Kühe und Ziegen gegen den Wald hinan gegangen wie sie jetzt gehen, und
die Seinigen haben ausgesehen wie die Leute jetzt aussehen.

Als wir zurückgekehrt waren, verabschiedeten wir uns, der Vater dankte
für die Bewirtung und sagte, daß er gegen den Abend noch einmal in das
Haus kommen werde.

Da wir uns in dem Zimmer unseres Gasthofes befanden, öffnete der Vater
seinen Koffer und nahm allerlei Dinge aus demselben hervor, welche
zu Geschenken für die Bewohner des Hauses bestimmt waren, in dem wir
gespeist hatten. Ich war von ihm nie in die Kenntnis gesetzt worden,
welche Bewohner wir in seinem Vaterhause treffen würden, er mußte sie
wohl auch selber nicht genau gekannt haben. Ich war also nicht mit
Geschenken versehen. Der Vater hatte aber auch für diesen Fall
gesorgt, er gab mir mehrere Dinge, besonders Stoffe, kleine
Schmucksachen und Ähnliches, um es bei unserem Abendbesuche in dem
Hause auszuteilen. Er hatte nicht gleich bei seiner Ankunft die
Geschenke mitnehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die
gewöhnlichen Talbewohner dieser Gegend waren, für unschicklich hielt,
mit Gaben belastet das Haus zu betreten und ihnen gleichsam sagen zu
wollen: >Ich glaube, daß ihr das für das Wichtigste haltet.< Jetzt
aber war er ihnen etwas schuldig geworden und konnte den Dank für die
gute Aufnahme abstatten.

Als wir die Geschenke in dem Hause verteilt und dafür die Freude
und den Dank der Empfänger geerntet hatten, die in zwei Eheleuten
mittlerer Jahre, in deren zwei Söhnen, einer Tochter und in einer
alten Großmutter bestanden - den Knecht und die zwei Mägde nicht
gerechnet -, war es mittlerweile Nacht geworden, und wir kehrten
wieder in unsere Herberge zurück.

Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der Vater besuchte in meiner
Begleitung viele Stellen, die ihm einst lieb gewesen waren, einen
kleinen See, einen Felsblock, von dem eine schöne Aussicht war, eine
Gartenanlage in einem nicht sehr entfernten schloßähnlichen Gebäude,
die hölzerne Schule und vor allem die eine und eine halbe Wegestunde
entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Tales war und um welche
der Kirchhof bog, in welchem sein Vater und seine Mutter ruhten. Eine
weiße Marmortafel, die er und sein Bruder hatten setzen lassen, ehrte
ihr Angedenken. Sonst ging der Vater auch fast in allen Zeiten des
Tages auf den Wegen der Felder und des Waldes herum.

Am fünften Tage traten wir die Rückreise zu den Unsrigen an.

Wir waren am frühen Morgen noch zu unsern Verwandten gegangen. Sie
waren, wie es bei Landleuten in solchen Fällen gebräuchlich ist,
schöner angekleidet als sonst und erwarteten uns. Wir nahmen in
herzlicher Weise Abschied. Ich versprach, da ich ohnehin das Wandern
gewohnt sei und viele Gegenden besuche, auch hieher wieder zu kommen
und noch öfter in dem kleinen Hause vorzusprechen. Der Vater sagte,
es könne sein, daß er wieder komme oder auch nicht, wie es sich eben
beim Alter füge. Man müsse erwarten, was Gott gewähre. Die Leute
begleiteten uns in das Gasthaus und blieben da, bis wir den Wagen
bestiegen hatten. Aus den Worten ihres Abschiedes und ihrer
Danksagungen erkannte ich, daß der Vater ihnen auch eine Summe Geldes
gegeben haben müsse. Sie sahen uns sehr lange nach.

Im Fortfahren war der Vater anfangs ernst und wortkarg, es mochte ihm
das Herz schwer gewesen sein. Später entwickelte sich bei uns wieder
ein Verkehr der Rede, wie er auf der Herreise gewesen war.

Am Abende des dritten Tages nach unserer Abfahrt waren wir wieder in
dem Hause in der Vaterstadt.

Die Mutter war sehr erfreut, daß der Aufenthalt von elf Tagen in der
freien Luft für den Vater von so wohltätigen Folgen gewesen sei. Seine
Wangen haben sich nicht nur schön rot gefärbt, sie seien auch voller
geworden, und das Auge sei weit klarer, als wenn es immer auf das
Papier seiner Schreibstube geblickt hätte.

»Das ist nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des
Wechsels auf die körperlichen Gebilde«, sagte der Vater, »im Verlaufe
der Zeit gewöhnt sich Blut, Muskel und Nerv an die freie Luft und
Bewegung und das erste rötet sich nicht mehr so, und die letzten
schwellen. Allerdings aber wirkt viel Aufenthalt in freier Luft und
gehörige Bewegung, in welche sich keine Sorgen mischen, weit günstiger
auf die Gesundheit, als ein stetiges Sitzen in Stuben und ein Hingeben
an Gedanken für die Zukunft. Wir werden schon einmal, und wer weiß wie
nahe die Zeit ist, auch dieses Glück genießen und uns recht darüber
freuen.«

»Wir werden uns freuen, wenn du es genießest«, erwiderte die Mutter,
»du entbehrst es am meisten und dir ist es am nötigsten. Wir Andern
können in unsern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen, du suchst
immer die düstere Stube. Weil du es aber schon so oft gesagt hast, so
wird es doch einmal wahr werden.«

»Es wird wahr werden, Mutter«, antwortete der Vater, »es wird wahr
werden.«

Sie wendete sich an uns, wir sollen bestätigen, daß der Vater nie so
gesund und so heiter ausgesehen habe als nach dieser kurzen Reise.

Wir gaben es zu.

Nun mußte aber auch noch auf eine andere Reise gedacht werden, weil
heuer einmal der Sommer der Reisen war, und wir mußten dieselbe ins
Werk setzen, meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbst war
schon da, wie ich an den Buchenblättern um das Geburtshaus meines
Vaters hatte wahrnehmen können, die bereits im Begriffe waren, die
rote Farbe vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit mehr zu
verlieren.

Für Klotilden waren die Vorbereitungen fertig, ich brauchte keine,
weil ich immer in Bereitschaft war, und so konnten wir ungesäumt
unsere verabredete Fahrt beginnen.

Die Mutter legte mir das Wohl der Schwester sehr an das Herz, der
Vater sagte, wir sollen die Muße nach unserer besten Einsicht
genießen, und so fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbstsonne
aus dem Tore unseres Hauses.

Ich wollte die Schwester, welche ihre erste größere Reise machte,
nicht der Berührung mit anderen Menschen in einem gemeinschaftlichen
Wagen aussetzen, da man deren Wesen und Benehmen nicht voraus wissen
konnte; deshalb zog ich es vor, mit Postpferden so lange zu fahren,
als es mir gut erscheinen werde, und dann die Art unsers Weiterkommens
im Gebirge je nach der Sachlage zu bestimmen. Es hatte diese Art zu
reisen noch den Vorteil, daß ich anhalten konnte, wo ich wollte, und
daß ich der Schwester Manches erklären durfte, ohne dabei auf jemand
Rücksicht nehmen zu müssen, der als Zeuge gegenwärtig wäre. Auch
konnten wir uns in unseren geschwisterlichen Gesprächen über unsere
Angehörigen, unser Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung
unserer Seele bewegen. Auf diese Art fuhren wir zwei Tage. Ich gönnte
ihr öfter Ruhe, da sie ein fortwährendes Fahren nicht gewohnt war, und
endete immer noch lange vor Abend unsere Tagreise. Wir sahen die Berge
schon immer in der Nähe von einigen Meilen mit unserem Wege gleich
laufen; aber ihre Teile waren hier weniger wichtig. Es war mir äußerst
lieblich, die Gestalt der Schwester neben mir in dem Wagen zu wissen,
ihr schönes Angesicht zu sehen und ihren Atem zu empfinden. Ihre
schwesterliche Rede und die frische Weise, alles, was ihr neu war,
in die vollkommen klare Seele aufzunehmen, war mir unaussprechlich
wohltätig.

Am Vormittage des dritten Tages ließ ich sie ruhen. Für den Nachmittag
mietete ich einen Wagen, und wir fuhren von der Poststraße weg gerade
dem Gebirge zu. Unsere Fahrt war von angenehmer und heiterer Stimmung
begleitet, und wir ergingen uns in mannigfaltigen Gesprächen. Als die
blauen Berge in der klaren Luft, die einen milchig grünlichen Schimmer
hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge immer freundlicher
und ihre Mienen waren teilnehmend der Gegend, in die wir fuhren,
zugekehrt. Gleich wie bei dem Vater röteten sich nach dieser
dreitägigen Reise auch ihre zarten Wangen, und ihre Augen wurden
glänzender. So kamen wir endlich an dem Orte an, den ich für unsere
Nachtruhe bestimmt hatte. An demselben rauschte die grüne Afel mit
ihren Gebirgswässern vorüber, welches Rauschen durch ein schief über
das Flußbett gezogenes Wehr noch vermehrt wurde. Waldhänge in langen
Rücken begannen schon sich zu erheben, und oberhalb des dunkeln Randes
eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte bereits das rote Haupt
eines im Abende glühenden Berges herein, auf welchem schon einzelne
Strecken von Schnee lagen.

Des andern Tages mietete ich ein Gebirgswägelchen, wie sie zum
Fortkommen auf Wegen, die nicht Poststraßen sind, in den Gebirgen am
besten dienen und deren Pferde an die Gegenstände des Gebirges und an
die Beschaffenheit seiner Wege gewöhnt und daher am zuverlässigsten
sind. Wir brachten unsere Sachen in demselben, so gut es ging, unter
und fuhren der glänzenden Afel entgegen, immer tiefer in die Berge
hinein. Ich nannte jeden Namen eines vorzüglichen Berges, machte auf
die Bildungen aufmerksam und suchte die Farben, die Lichter und die
Schatten zu erörtern. Überall begannen schon die Laubwälder die
rötliche und gelbliche Färbung anzunehmen, was den Hauch über all den
Gestaltungen noch lieblicher machte.

Da ich in eine gewisse Tiefe des Gebirges gekommen war, änderte ich
die Richtung und fuhr nun nach der Länge desselben hin. Als zwei Tage
vergangen waren und der dritte auch schon dem Nachmittag zuneigte,
blickte uns aus der Tiefe des Tales das Gewässer des Lautersees
entgegen. Wir kamen um den Rücken eines breiten Waldberges herum, und
die Glanzstellen entwickelten sich immer mehr. Endlich lag der größte
Teil des Spiegels unter dem Gezweige der Tannen, der Buchen und
der Ahorne zu unsern Füßen. Wir sanken mit unserem Wäglein auf dem
schmalen Wege immer tiefer und tiefer, bis wir nach etwa zwei Stunden
an dem Ufer des Sees anlangten und die Steinchen in seinen seichten
Buchten hätten zählen können. Wir fuhren an dem Ufer dahin, umfuhren
eine kleine Strecke des Sees und kamen in dem Seewirtshause an. Dort
lohnte ich unsern Fuhrmann ab und mietete uns für mehrere Tage ein.
Klotilde mußte dasselbe Zimmer bekommen, welches ich während der
Zeiten meiner Vermessungen des Lautersees innegehabt hatte. Ich
begnügte mich mit einem kleineren Stübchen in ihrer Nähe. Man staunte
das schöne, und wie man sich ausdrückte, vornehme Mädchen an, und ich
gewann sichtbar an Ansehen, da ich eine solche Schwester hatte.

Alle, die ein Ruder führen konnten oder die geübt waren, Steigeisen
anzulegen und einen Alpenstock zu gebrauchen, kamen herzu und boten
ihre Dienste an. Ich sagte, daß ich sie rufen werde, wenn wir sie
bedürfen und daß wir uns dann ihrer Gesellschaft sehr erfreuen würden.

Zuerst machte ich Klotilden ein wenig in ihrem Zimmerchen wohnhaft.
Ich zeigte ihr bedeutsam Stellen, die sie aus ihren Fenstern sehen
konnte, und nannte ihr dieselben. Ich zeigte ihr, wie ich in
verschiedenen Richtungen auf dem See gefahren war, um seine Tiefe
zu messen, und wie wir uns bald auf dieser, bald auf jener Stelle
des Wassers festsetzen mußten. Sie richtete sich Farben und
Zeichnungsgeräte zurechte, um zu versuchen, ob sie nicht auch nach der
unmittelbaren Anschauung von den Räumen ihres Zimmerchens aus etwas
von den Gestaltungen, die sie hier sehen konnte, auf das Papier zu
übertragen vermöchte.

Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in den Umgebungen des
Seehauses Spaziergänge zu machen, damit Klotilde sich ein wenig
in diese Bildungen einlebe. Das vorausgesagte schöne Wetter war
eingetroffen, es dauerte fort, und so konnten wir uns der Freude und
dem Vergnügen, welche diese Gänge uns gewährten, um so ungestörter
hingeben, als auch der Stand unserer Gesundheit ein vortrefflicher war
und die Befürchtungen, welche die Mutter und zum Teile auch ich in
Hinsicht Klotildens gehegt hatten, nicht in Erfüllung gingen. Wir
schickten von hier aus Briefe nach Hause.

In der Folge der Tage führte ich sie auf den See hinaus. Ich führte
sie auf die verschiedenen Teile, die entweder an sich schön und
bedeutend waren oder von denen man schöne und merkwürdige Anblicke
gewinnen konnte. Ich unterstützte sie mit allen meinen Erfahrungen,
die ich mir durch meine mehrfältigen Aufenthalte in dem Gebirge
gesammelt hatte. Sie nahm alles mit einer tiefen Seele auf, und durch
meine Hilfe waren ihr manche Umwege erspart, welche diejenigen, die
zum ersten Male die Berge besuchen, machen müssen, ehe es ihnen
gelingt, sich die Größe und Erhabenheit der Gebirge aufschließen zu
können. Auf den Seefahrten unterstützten uns zwei junge Schiffer, die
meine steten Begleiter bei meinen Messungen gewesen waren. Wir gingen
auch bergan. Ich hatte Klotilden Fußbekleidungen machen lassen,
welche nach Innen weich, nach Außen aber hart und dem rauhen Gerölle
Widerstand leistend waren. Auf dem Haupte trug sie einen bequemen
Schirmhut und in der Hand einen eigens für sie gemachten Alpenstock.
Wenn wir auf die Höhen kamen, wurde mit Freude die Aussicht genossen.
Klotilde versuchte auch nach der Anschauung etwas zu zeichnen und zu
malen; aber die Ergebnisse waren noch weit mangelhafter als bei mir,
da sie einen geringeren Vorrat von Erfahrung zu dem Versuche brachte.

Nachdem über eine Woche vergangen war, führte ich Klotilden mittelst
eines gleichen Fuhrwerkes, wie wir sie bisher im Gebirge gehabt
hatten, in das Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir ein
besseres Unterkommen als in dem Seehause, und wir erhielten zwei
nebeneinander befindliche geräumige und freundliche Zimmer, deren
Fenster auf die Ahorne vor dem Hause hinausgingen und durch die gelben
Blätter derselben auf die blauduftigen Höhen sahen, die vom Hause
gegen den Süden standen. Ich zeigte meine Schwester der Wirtin, ich
zeigte sie dem alten Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft sogleich
herbei gekommen war, und ich zeigte sie den andern, welche sich
gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es war hier ein noch
größerer Jubel als in dem Seehause, es freute sie, daß eine solche
Jungfrau in die Berge gekommen und daß sie meine Schwester sei. Sie
boten ihre Dienste an und näherten sich mit einiger Scheu.

Klotilde betrachtete alle diese Menschen, die ich ihr als meine
Begleiter und Gehilfen bei meinen Arbeiten vorstellte, mit Vergnügen,
sie sprach mit ihnen und ließ sich wieder erzählen. Sie lernte
sich immer mehr in die Art dieser Leute ein. Ich fragte um meinen
Zitherspiellehrer, weil ich Klotilden diesen Mann zeigen wollte und
weil ich auch wünschte, daß sie sein außerordentliches Spiel mit
eigenen Ohren hören möchte. Wir hatten zu diesem Zwecke unsere beiden
Zithern in unserm Gepäcke mitgenommen. Man sagte mir aber, daß seit
der Zeit, als ich ihnen erzählt habe, daß er von meinen Arbeiten
fortgegangen sei, kein Mensch, weder in den nähern noch in den
ferneren Tälern, etwas von ihm gehört habe. Ich sagte also Klotilden,
daß sie keinen andern als die gewöhnlichen einheimischen Zitherspieler
werde hören können, wie sie dieselben auch bereits gehört habe und
wie sie ihr anziehender erschienen seien als die Kunstspieler in der
Stadt und als ich, der ich wahrscheinlich ein Zwitter zwischen einem
Kunstspieler und einem Spieler des Gebirges sei. Wir richteten uns in
unserem Zimmer ein und begannen ungefähr so zu leben, wie wir in der
Umgebung des Seehauses gelebt hatten. Ich führte Klotilden in das
Echertal zu dem Meister, welcher unsere Zithern verfertiget hatte. Er
besaß noch immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klotildens
ganz gleich war. Er sagte, es seien zwar Käufer von Zithern gekommen,
die diese gepriesen hätten; aber das seien Gebirgsleute gewesen, die
nicht so viel Geld haben, sich eine solche Zither kaufen zu können.
Die Andern, welche die Mittel besäßen, vorzüglich Reisende, ziehen
Zithern vor, welche eine schöne Ausschmückung haben, wenn sie auch
teurer sind, und lassen die stehen, deren Tugenden sie nicht zu
schätzen wissen. Er spielte ein wenig auf ihr, er spielte mit einer
großen Fertigkeit; aber in jener wilden und weichen Weise, mit
welcher mein schweifender Jägersmann spielte und welche gerade diesem
Musikgeräte so zusagte, vermochte weder er zu spielen noch hatte ich
jemanden so spielen gehört. Ich sagte dem alten Manne, daß das Mädchen
meine Schwester sei und daß sie auch eine von den drei Zithern
besitze, von denen er sage, daß sie die besten seien, die er in seinem
Leben gemacht habe. Er hatte seine Freude darüber, gab Klotilden ein
Bündel Saiten und sagte: »Es sind meine besten Zithern und werden wohl
auch meine besten bleiben.«

Wir besuchten die Täler und einige Berge um das Ahornhaus, und Kaspar
oder ein Anderer waren zuweilen unsere Begleiter und Träger.

Ich führte Klotilden auch in das Häuschen, in welchem ich die
Pfeilerverkleidungen für den Vater gekauft hatte, ich führte sie
in das steinerne Schloß, in welchen sie ursprünglich gewesen sein
mochten, und ich führte sie auch in das Rothmoor, wo sie das Arbeiten
in Marmor betrachten konnte.

Wir blieben länger in dem Ahornhause, als wir im Seehause
gewesen waren, und alle Menschen waren hier noch freundlicher,
zutraulicher und hilfreicher als dort. Die Wirtin war unermüdet
in Dienstanerbietungen gegen meine Schwester. Zu Ende unseres
Aufenthaltes traten hier kühle und regnerische Tage ein. Wir
verbrachten sie still in der heitern Wohnlichkeit des Hauses. Aber
aus der Beschaffenheit des Laubes an den Bäumen und dem Aussehen der
Herbstpflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Tiere und aus der
Beschaffenheit des Pelzes derselben erkannte ich, daß die dauernde
kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen sei und daß noch
warme und klare Tage eintreten müssen. Als daher das Wetter sich
wieder aufheiterte, verließ ich mit Klotilden das Ahornhaus und schlug
den Weg in das Kargrat ein.


Ich hatte mich in meinen Voraussetzungen nicht getäuscht. Nachdem
zwei halb heitere und kühle Tage gewesen waren, die wir mit Fahren
zugebracht hatten, zog wieder ein ganz heiterer, zwar am Morgen
kalter, in seinem Verlaufe aber sich schnell erwärmender Tag über die
beschneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe schöner und warmer Tage
folgte, die den Schnee auf den Höhen und den, welcher das Eis der
Gletscher bedeckt hatte, wieder weg nahmen und das letztere so weit
sichtbar machten, als es in diesem Sommer überhaupt sichtbar gewesen
war. Wir hatten am zweiten dieser schönen Tage das Kargrat erreicht.
Die Reise war darum von so langer Dauer gewesen, weil wir kleine
Tagefahrten gemacht hatten und weil wir die Berge hinan und hinab
recht langsam gefahren waren. Wir zogen in die Ärmlichkeit unserer
Wohnung, die durch die Größe und Öde der Gegend, von welcher sie
umgeben war, noch mehr herabgedrückt wurde, ein. Am zweiten Tage nach
unserer Ankunft, da alles vorbereitet worden war, folgte mir Klotilde
auf das Simmieis. Es waren Führer, Träger von Lebensmitteln und von
Allem, was auf einer solchen Wanderung notwendig oder nützlich sein
konnte, und endlich auch solche, die eine Sänfte hatten, mitgegangen.
Wir waren am ersten Tage bis zur Karzuflucht gekommen. Dort waren wir
in dem aus Holzblöcken für die Besteiger der Karspitze gezimmerten
Häuschen über Nacht geblieben, hatten aus mitgebrachtem Holze Feuer
gemacht und uns unser Abendessen bereitet.

Mit Anbruch des nächsten Tages gingen wir weiter und kamen im Glanze
des Vormittages auf die Wölbung des Gletschers. Daß an eine Besteigung
der Karspitze nicht gedacht werden konnte, war natürlich.

Wir betrachteten hier nun, was zu betrachten war, und als sich Kälte
in den Gliedern einstellen wollte, traten wir den Rückweg an. In der
Zuflucht wurden wieder Speisen bereitet, und dann gingen wir vollends
hinab. Als wir zurückgekehrt waren, sank mir Klotilde fast erschöpft
an das Herz.

Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeichnungen, die
ich von Gletschern, ihren Einfassungen, Wölbungen, Spaltungen,
Zusammenschiebungen und dergleichen gemacht hatte, vor, damit sie in
der frischen Erinnerung das Gesehene mit dem Abgebildeten vergleichen
konnte. Ich machte auf Vieles aufmerksam, führte Manches in ihr
Gedächtnis zurück und erwähnte hier auch als an der geeignetsten
Stelle, wie sehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit zurück bleibe.
In den nächsten zwei Tagen besuchten wir noch verschiedene Stellen,
von denen wir das Eis und die Schneegestaltungen dieser Berge
betrachten konnten. Auch einen Wassersturz von einer steilrechten Wand
zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich auf unsere Rückreise zu
den Eltern zu denken. Die Zeit war nach und nach so vorgerückt, daß
ein Aufenthalt in diesen hochgelegenen Räumen, besonders für ein der
Stadt gewohntes Mädchen, nicht mehr ersprießlich war. Ich schlug daher
Klotilden vor, nun auf dem nächsten Wege durch das ebenere Land unsere
Heimat zu gewinnen zu suchen. Sie war damit einverstanden. Von dem
nächsten größeren Orte her wurde ein Fuhrwerk bestellt, welches uns
auf die erste Post bringen sollte. Wir nahmen von unserer Wirtin
und ihrem Manne so wie von unsern Trägern und Führern, die noch zum
Empfange eines kleinen Geschenkes herbei gekommen waren, Abschied; wir
verabschiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen besucht und uns
auf Schönheiten, von seinem kleinen Gesichtskreise aus, aufmerksam
gemacht hatte, und fuhren auf unserem Karren, der nur mit einem Pferde
bespannt war, auf dem schmalen Wege von dem Kargrat hinab. Das Letzte,
was wir von dem kleinen Örtchen sahen, war die mit Schindeln bedeckte
Wand des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln bedeckte
Wand der schmalen Seite der Kirche. Ich sagte Klotilden, daß diese
Bedeckungen notwendig seien, um die in diesen Höhen stark wirkende
Gewalt des Regens und des Schnees von dem Mauerwerke abzuhalten. Wir
konnten nur noch einen Blick auf die zwei Gebäude tun, dann trat eine
Höhe zwischen unsere Augen und sie. Wir glitten mit unserem Fuhrwerke
sehr schnell abwärts, wilde Gründe umgaben uns, und endlich empfing
uns der Wald, der die Niederungen suchte, in ihnen dahin zog und schon
wohnlicher und wärmer war. Wir kamen unter Wiegen und Ächzen unseres
Wägleins immer tiefer und tiefer, Fahrgeleise von Holzwegen, die den
Wald durchstrichen, mündeten in unsere Straße, diese wurde fester und
breiter, und wir fuhren zuweilen schon eben und behaglich dahin.

Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem sich die nächste Post
befand, lohnte ich den Führer meines Wägleins ab, sendete ihn zurück
und nahm Postpferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem kürzesten
Wege aus dem Gebirge gegen das flachere Land, um die Heerstraße zu
gewinnen, die nach unserer Heimat führte. Immer mehr und mehr sanken
die Berge hinter uns zurück, die milde Herbstsonne, die sie beschien,
färbte sie immer blauer und blauer, die Höhen, die uns jetzt
begegneten, wurden stets kleiner und kleiner, bis wir in das Land
hinaus kamen, dessen Gefilde mit lauter dem Menschen nutzbarem Grunde
bedeckt waren. Dort trafen wir auf die große Straße. Bisher waren wir
gegen Norden gefahren, jetzt änderten wir die Richtung und fuhren dem
Osten zu. Wir hatten auch bessere Wägen.

Da wir einen Tag auf dieser Straße gefahren waren, ließ ich an einem
Orte halten und beschloß, einen Tag an demselben zu bleiben; den Abend
und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag
führte ich die Schwester auf einen mäßig hoben Hügel. Der Tag war ein
sehr schöner Herbsttag, der Schleier, welcher im Vormittage so Hügel
als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen Klarheit gewichen.
Ich befestigte mittelst Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer
Eiche und richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchsehen und fragte
sie, was sie sähe.

»Ein hohes, dunkles Dach«, sagte sie, »aus welchem mehrere breite
und mächtige Rauchfänge empor ragen. Unter dem Dache ist ein Gemäuer
von ebenfalls dunkler Farbe, in welchem große Fenster in gemäßen
Entfernungen stehen. Das Gebäude scheint ein Viereck zu sein.«

»Und was siehst du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die
Umgebungen des Gebäudes richtest?« fragte ich.

»Bäume, die hinter dem Hause stehen, gleichsam wie ein Garten«,
antwortete sie. »Die Mauern des Gebäudes sind dort licht wie die
unserer Häuser. Dann sehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und
da ein Haus und endlich wolkenartige Spitzen, die wie das Hochgebirge
sind, das wir verlassen haben.«

»Es ist das Hochgebirge«, antwortete ich.

»Ist das etwa - -?« fragte sie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend
und mich ansehend.

»Ja, Klotilde, das Gebäude ist der Sternenhof«, antwortete ich.

»Wo Natalie wohnt?« fragte sie.

»Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde verweilt, wo so treffliche
Menschen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken sich mit Empfindung
wenden, wo sanfte Gegenstände der Kunst thronen und wo ein liebes Land
um all die Mauern herum liegt«, antwortete ich.

»Das ist der Sternenhof!« sagte Klotilde, blickte wieder in das
Fernrohr und sah lange durch dasselbe.

»Ich habe dich mit Freude auf diesen Hügel geführt, Klotilde«, sagte
ich, »um dir diesen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz schlägt und
ein tiefer Teil von meinem Wesen wohnt.«

»Ach lieber, teurer Bruder«, antwortete sie, »wie oft gehen meine
Gedanken an den Ort und wie oft weilt mein Gemüt in seinen mir noch
unbekannten Mauern!«

»Du begreifst aber«, sagte ich, »daß wir jetzt nicht hingehen können
und daß die Angelegenheit ihre naturgemäße Entwickelung haben muß.«

»Ich begreife es«, antwortete sie.

»Du wirst sie sehen, an deinem Herzen halten und sie lieben«, sagte
ich.

Klotilde sah wieder in das Rohr, sie sah sehr lange in dasselbe und
betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Teile, die mir
wichtig schienen, erklärte ihr alles und erzählte von dem Schlosse und
von denen, die in demselben sind.

Es war indessen der Mittag gekommen, wir lösten das Fernrohr ab und
gingen langsam unserer Wohnung zu.

»Kann man hier nicht auch das Rosenhaus deines Freundes sehen?« fragte
sie im Heimgehen.

»Hier nicht«, erwiderte ich, »hier ist nicht einmal der höchste Teil
der Rosenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen
Norden siehst, sie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel
kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann, auf welcher
das Haus liegt und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus sehen
kannst.«

Wir gingen in unsere Wohnung, und am nächsten Tage fuhren wir weiter.
Als wir an die Stelle gekommen waren, von welcher man die Höhe des
Asperhofes sehen konnte, ließ ich halten, wir stiegen aus, ich zeigte
Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus meines Gastfreundes liegt,
richtete das Fernrohr und ließ sie durch dasselbe das Haus erblicken.
Wir waren aber hier so weit von dem Asperhofe entfernt, daß man selbst
durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes Sternchen sehen konnte.
Nach dessen Betrachtung fuhren wir wieder weiter.

Als nach diesem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend
durch den Torweg des Vorstadthauses unserer Eltern ein.

»Mutter«, rief ich, da uns diese und der Vater, der unsere Ankunft
gewußt hatte und daher zu Hause geblieben war, entgegen kamen, »ich
bringe sie dir gesund und blühend zurück.«

Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf seiner kleinen Reise
ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kräftiger, heiterer und
in ihrem Angesichte reicher an Farbe geworden, als sie es je in der
Stadt gewesen war.

Sie sprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begrüßte diese und
dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erste Mal gewesen,
daß sie die Eltern verlassen hatte und auf längere Zeit in ziemlicher
Entfernung von ihnen gewesen war. Man führte sie die Treppe hinan
und dann in ihr Zimmer. Dort mußte sie erzählen, erzählte gerne und
unterbrach sich öfter, indem sie das inzwischen heraufgebrachte Gepäck
aufschloß und die mannigfaltigen Dinge heraus nahm, die sie in den
verschiedenen Ortschaften zu Geschenken und Erinnerungen gekauft oder
an mancherlei Wanderstellen gesammelt hatte. Ich war ebenfalls mit in
ihr Zimmer gegangen, und als wir geraume Weile bei ihr gewesen waren,
entfernten wir uns und überließen sie einer notwendigen Ruhe.

Nun folgte für Klotilden fast eine Zeit der Betäubung, sie beschrieb,
sie erzählte wieder, sie setzte sich vor Zeichnungen hin, blätterte
in ihnen oder zeichnete selber und suchte in der Erinnerung Gesehenes
nachzubilden.

Aber auch für mich war diese Reise nicht ohne Erfolg gewesen. Was ich
halb im Scherze, halb im Ernste gesagt hatte, daß ich durch diese
Reise zu einer größeren Ruhe kommen werde, ist in Wirklichkeit
eingetroffen. Klotilde, welche alle die Gegenstände, die mir längst
bekannt waren, mit neuen Augen angeschaut, welche alles so frisch, so
klar und so tief in ihr Gemüt aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken
auf sich gelenkt, hatte mir selber etwas Frisches und Ursprüngliches
gegeben und mir Freude über ihre Freude mitgeteilt, so daß ich
gleichsam gestärkter und befestigter über meine Beziehungen nachdenken
und sie mir gewissermaßen vor mir selber zurecht legen konnte.

Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechsel verabredet, ich hatte
nicht daran gedacht, sie wahrscheinlich auch nicht. Unser Verhältnis
erschien mir so hoch, daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir
uns gegenseitig Briefe geschickt hätten. Wir mußten in der Festigkeit
der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch
Ungeduld vermindern und mußten warten, wie sich alles entwickeln
werde. So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von Natalien fern
sein, konnte mich freuen, daß alles so ist, wie es ist, und konnte
dessen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehörige beginnen
werden.

Klotilden, welche ihren Bergen, Lüften, Seen und Wäldern die Farbe
geben wollte, die sie gesehen hatte, suchte ich beizustehen und zeigte
ihr, worin sie fehle und wie sie es immer besser machen könne. Wir
wußten es jetzt, daß man die zarte Kraft, wie sie uns in der Wesenheit
der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darstellen könne und die Kunst
des großen Meisters nur in der besten Annäherung bestehe. Auch in
ihrem Bestreben, die Art, wie sie im Gebirge die Zither spielen gehört
hatte und die eigentümlichen Töne, die ihr dort vorgekommen waren,
nachzuahmen, suchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide unsere
Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns aber doch unserer
Versuche.

Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Besuche.

So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil ich schon nach dem Rate
des Vaters beschlossen hatte, im Winter meinen Gastfreund zu besuchen,
zugleich auch den Entschluß, einmal im Winter in das Hochgebirge
zu gehen und, wenn dies möglich sein sollte, einen hohen Berg zu
besteigen und auf dem Eise eines Gletschers zu verweilen. Ich
bestimmte hierzu den Januar als den beständigsten und meistens auch
klarsten Monat des Winters. Gleich nach seinem Beginne fuhr ich von
dem Hause meiner Eltern ab und fuhr in dem flimmernden Schnee und in
der blendenden Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend
zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war schon durch zehn
Tage beständig und mäßig kalt gewesen, der Schnee war reichlich, und
auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin. Wie ich
sonst nie anders als im offenen Wagen fuhr, so fuhr ich auch jetzt,
mit guten Pelzen versehen, im offenen Schlitten und freute mich der
weichen Hülle, die um meinen Körper war, und auch der, die überall und
allüberall lag, freute mich der schweigenden bereiften Wälder, der
ruhenden Obstbäume, die ihre weißen Gitter ausstreckten, der Häuser,
von denen der wohnliche Rauch aufstieg, und der Unzahl der Sterne, die
Nachts in dem kalten und finsteren Himmel feuriger funkelten als je
sonst im Sommer. Ich hatte vor, zuerst die Gebirge und dann meinen
Gastfreund zu besuchen.


Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales. Da ich die Straße verlassen
sollte, mietete ich einen einspännigen Schlitten, weil in den
Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde fährt,
die Bahn zu enge ist, als daß zwei Pferde sicher neben einander gehen
könnten, und fuhr in das Tal und in das Ahornwirtshaus. Die Ahorne
streckten ungeheure, abenteuerlich gestaltete, entblätterte und mit
feinen Zweigen wie mit Bärten versehene Arme der winterlichen Luft
entgegen, das fensterreiche Wirtshaus war in seiner braunen Farbe
gegen die Schneedecke auf seinem Dache und gegen den Schnee, der
überall ringsum lag, noch brauner als sonst, und die Fichtentische
vor dem Hause waren abgebrochen und in Aufbewahrung getan worden. Die
Wirtin empfing mich mit Erstaunen und mit Freude, daß ich in einer
solchen Jahreszeit komme, und gab mir das beste Versprechen, daß meine
Stube so warm und heimlich sein solle, als wehe kein einziges Lüftchen
hinein, und so licht, als schiene die Sonne, wenn sie überhaupt
scheint, sonst nirgends hin als auf meine Fenster. Ich ließ meine
Gerätschaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein lustiges
Feuer in dem Ofen derselben, der ausnahmsweise, wie es sonst in den
Gebirgen fast gar nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die Wirtin
hatte es so einrichten lassen, weil von Außen der Zugang zu dem Ofen
so schwer gewesen war. Als ich mich ein wenig erwärmt und meine
Hauptsachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine
Gaststube hinunter. In ihr waren verschiedene Leute anwesend, die der
Weg vorbei führte oder die eine kleine Erquickung und ein Gespräch
suchten. Bei den vielen und sehr nahe stehenden Fenstern drang ein
reichliches Licht herein, so daß die Sonnenstrahlen des Wintertages
um die Tische spielten, was um so wohltätiger war, da auch eine
behagliche Wärme von den in dem großen Ofen brennenden Klötzen das
Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um meinen Zitherspiellehrer, es
hatte niemand etwas von ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er
war gesund, und es wurde auf meine Bitte um ihn gesendet. Ich sagte,
daß ich im Sinne hätte, von dem Lautersee in die Eisfelder der Echern
hinaufzusteigen. Ich hätte Anfangs Lust gehabt, das Simmieis an der
Karspitze zu besuchen; aber der Zugang ins Kargrat sei mir im Winter
sehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als
die Simmen, so seien sie doch schöner und von unvergleichlich
wohlgebildeten Felsen eingefaßt. Alle rieten mir von meinem
Unternehmen ab, es sei im Winter nicht durchzudringen, und die Kälte
sei auf den Bergen so groß, daß sie kein Mensch zu ertragen vermöge.
Ich widerlegte die Einwürfe vorerst dadurch, daß ich sagte, es
sei eben im Winter niemand auf den Echern gewesen, wie sie selber
berichten, und daß man daher nichts Sicheres wissen könne.

»Aber man kann es sich denken«, erwiderten viele.

»Erfahrung ist noch besser«, sagte ich.

Indessen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den
Anwesenden erzählt, und er riet auch entschieden von dem Unternehmen
ab. Ich sagte, daß viele Forscher in Naturdingen im Winter schon auf
hohen Bergen gewesen seien, auf höheren als den Echern, daß sie dort
Nächte und zuweilen auch eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht
haben. Man wendete immer ein, das seien andere Berge gewesen, und in
den hiesigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verstand sich
endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten.
Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns sorgsam dazu auslesen. Ich
erwiderte ihm, daß ich Geräte bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn
eine schöne Zeit bevorstehe, daß ich mich auch ein wenig auf die
Zeichen an dem Himmel verstehe und daß ich selber auf den Höhen nicht
gar gerne in einen Schneesturm oder in einen langedauernden Nebel
geraten möchte. Alle andern Leute, welche mir sonst gerne bei meinen
Bergarbeiten geholfen hatten und welche ich ebenfalls ins Wirtshaus
hatte rufen lassen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die
Echern zu begleiten. Dem Kaspar sagte ich, er müsse sich vorbereiten.
Ich hätte selber verschiedene Dinge bei mir, von denen er sich die
aussuchen könne, von welchen er glaube, daß er sie auf unserer
Wanderung mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter
gehen werden, würde ich ihm dann schon sagen. Ich ging unter den
lebhaftesten Gesprächen der Anwesenden über diesen Gegenstand in meine
Stube zurück und brachte den Abend in derselben zu. Ich wußte, daß sie
nun tief in die Nacht hinein über die Sache sprechen würden und daß in
den nächsten Tagen für das ganze Tal diese Unternehmung den Stoff der
Unterredungen bilden wurde.

Es meldete sich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu
begleiten.

Die Zeit bis zum Beginne unsers Unternehmens brachte ich damit zu, daß
ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder,
die in Ruhe und Pracht dastanden, ich betrachtete die Höhen, auf
welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die
Echernwand, von der eine Last von Eiszapfen niederhing, deren manche
die Dicke von Bäumen hatten, zuweilen losbrachen und mit Krachen und
Klingen in den Schnee niederstürzten, ich ging auf Berge und schaute
in die stille, gleichsam verdichtete Winterluft und auf alle die
weißen Gebilde, die durch dunkle Wälder, durch Felsen und durch das
sanfte Blau der fernen Bergzüge geschnitten waren.

Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewöhnlich das Wetter
am ausdauerndsten zu sein pflegt, stellten sich die Zeichen ein, daß
längere Zeit schöne Tage sein werden. Ein etwas weicher Luftzug der
vorigen Tage hatte sich verloren, die graue Decke am Himmel war
verschwunden und den verwaschenen Federwolken war eine tiefe Bläue
gefolgt. Die Luft zog aus Osten, die Kälte mehrte sich, der Schnee
flimmerte und Abends zeigte sich der feine blauliche Duft in den
Gründen, der heitere Morgen und immer größere Kälte versprach. Meine
Werkzeuge gaben starken Luftdruck und große Trockenheit an.

Ich sagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr aufbrechen würden. Wir
nahmen an Alpenstöcken, Steigeisen, Stricken, Schneereifen, Decken,
Kleidern, was wir nötig erachteten, eine Schaufel, eine Axt,
Kochgeschirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir
zu dem See. Dort teilten wir unsere Dinge in zwei bequeme Lasten,
daß jeder mit der seinigen so leicht als möglich gehen könne, und
erwarteten den nächsten Morgen.

Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg und stiegen mit
unseren sehr hohen Stiefeln, die ich eigens zu diesem Zwecke hatte
machen lassen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Höhen, auf
die wir wollten, führten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die
jetzt keine Spur zeigten und die wir nur fanden, weil wir der Gegend
sehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in diesem tiefen Schnee,
dann kamen Wälder, in denen er niederer lag und durch welche das
Fortkommen leichter war. Viele Gerölle und schiefliegende Wände, die
nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und
es war über sie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer
gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen scharfen Riffe
und Steine mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die ersten
Vorberge überwunden hatten und auf die Hochebene der Echern gekommen
waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der
weißen Umgebung unten liegen sah, machten wir ein wenig Halt. Die
Oberfläche der Echern oder die Hochebene, wie man sie auch gerne
nennt, ist aber nichts weniger als eine Ebene, sie ist es nur im
Vergleiche mit den steilen Abhängen, welche ihre Seitenwände gegen
den See bilden. Sie besteht aus einer großen Anzahl von Gipfeln, die
hinter und neben einander stehen, verschieden an Größe und Gestalt
sind, tiefe Rinnen zwischen sich haben und bald in einer Spitze sich
erheben, bald breitgedehnte Flächen darstellen. Diese sind mit kurzem
Grase und hie und da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke
ragen aus ihnen empor. Es ist hier am schwersten durchzukommen. Selbst
im Sommer ist es schwierig, die rechte Richtung zu behalten, weil
die Gestaltungen einander so ähnlich sind und ein ausgetretener Pfad
begreiflicher Weise nicht da ist: wie viel mehr im Winter, in welchem
die Gestalten durch Schneeverhüllungen überdeckt und entstellt sind,
und selbst da, wo sie hervorragen, ein ungewohntes und fremdartiges
Ansehen haben. Es sind mehrere Alpenhütten in diesem Gebiete
zerstreut, und es befinden sich im Sommer Herden hier oben, die aber,
wie zahlreich sie auch sind, in der großen Ausdehnung verschwinden und
sich gegenseitig oft Monate lang nicht sehen. Wir wünschten noch beim
Lichte des Tages über diese Erdbildungen hinüber zu kommen und hatten
vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegenseitig in unserer Kenntnis
der Riffe und der Hügelgestaltungen zu unterstützen und uns die
entscheidenden Bildungen wechselseitig zu nennen und zu beschreiben.
Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größeren Felsenbildungen
beginnen und das Verirren weit weniger möglich ist, steht im Bereiche
großer Kalksteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe genannt, welche
das Ziel unserer heutigen Wanderung war. Am Rande der Bergansteigung
und dem Anfange der Hochebene, wo wir jetzt waren, setzten wir uns
nieder. Es liegt da ein großer Stein, der beinahe ganz schwarz ist.
Er ist nicht nur dieser Farbe willen an sich merkwürdig, sondern
besonders darum, weil er durch eben diese Farbe, dann durch seine
Größe und seine seltsame Gestalt von Weitem gesehen werden kann und
denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwärts kommen,
zum Zeichen, und wenn sie bei ihm angelangt sind, zur Beruhigung des
richtig zurückgelegten Weges dient. Weil Vielen, die auf der Hochebene
sind, Sennen, Alpenwanderern, Jägern, der Stein ein Versammlungsort
ist, so findet sich von ihm ab schon ein merkbar ausgetretener
Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht
verfehlen. Auch ist die gegen Sonnenaufgang überhängende Gestalt des
Felsens geeignet, vor Regen und heftigen Westwinden zu schützen. Als
wir bei ihm angelangt waren, sahen wir freilich keine Spur eines
Menschen rings um ihn; denn unberührter Schnee lag bis zu seinen
Wänden hinzu, und er stand noch einmal so schwarz aus dieser Umgebung
hervor. Wir fanden aber auf kleineren Steinen, die unter seinem
Überdache lagen, und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum
zum Sitzen und folgten dieser Einladung willig, da sich schon Ermüdung
eingestellt hatte. Kaspar schnallte die Umhüllungen der Decken
auseinander und holte zwei leichte, aber wärmende Pelze und andere
Pelzsachen hervor, die ich dazu bestimmt hatte, unsere Körper und
Füße, die im Wandern sich sehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor
Verkühlung zu schützen. Als wir diese Pelzdinge umgetan hatten,
schritten wir dazu, uns durch Speise und Trank zu erquicken. Etwas
Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem
unser Mahl vollendet war, den Wärmemesser, welchen ich gleich
nach unserer Ankunft an einer freien Stelle auf meinen Alpenstock
aufgehängt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, daß die Wärme
hier oben größer sei, als wir sie gestern zu gleicher Tageszeit unten
in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne schien sehr kräftig auf
den Schnee, es wehte kein Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel
lagerten nur ein paar sehr dünne weißliche Streifen. Auch konnte man
von dem Steinvorsprunge, von dem aus der See zu erblicken war, fast
deutlich wahrnehmen, daß unten nicht nur die dichtere, sondern auch
kältere Luft liege. Denn so deutlich und klar der See zu erblicken
war, so zog sich doch an den weißen oder weißgesprenkelten Wänden
desselben ein feiner blaulich schillernder Dunst hin zum Zeichen, daß
dort unsere obere, wärmere Luft mit der unteren, schon seit längerer
Zeit über dem See stehenden kälteren zusammengrenze und sich
da ein sanfter Beschlag bilde. Ich schaute nur noch auf den
Feuchtigkeitsmesser und den des Luftdruckes, dann packte Kaspar unsere
Decken und Pelze, ich meine Geräte ein, und wir gingen unsers Weges
weiter.

Mit großer Vorsicht suchten wir die Richtung, die uns nottat, zu
bestimmen. Auf jeder Stelle, die eine größere Umsicht gewährte,
hielten wir etwas an und suchten uns die Gestalt der Umgebung
zu vergegenwärtigen und uns des Raumes, auf dem wir standen, zu
vergewissern. Ich zog zum Überflusse auch noch die Magnetnadel zu
Rate. In den Niederungen und Mulden zwischen einzelnen Höhen mußten
wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den späten Nachmittag stiegen
uns die höheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee
entgegen. Als die Sonne fast nur mehr um ihre eigene Breite von dem
Rande des Gesichtskreises entfernt war, kamen wir in der Ziegenalpe
an. Hier hatten wir einen eigentümlichen Anblick. Es ist da eine
Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu seiner
Umgebung zurücksehen kann, dafür öffnet sich gegen Sonnenuntergang ein
weiter Blick in die Lichtung des Lauterthales, besonders aber in das
Echertal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens
Zither gemacht hatte. In diese Ferne wollte ich noch einen Blick tun,
ehe wir in die Hütte gingen. Aber ich konnte die Täler nicht sehen.
Die Wirkung, welche sich aus dem Aneinandergrenzen der oberen,
wärmeren Luft und der unteren, kälteren, wie ich schon am schwarzen
Steine bemerkt hatte, ergab, war noch stärker geworden, und ein
einfaches, wagrechtes, weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen Füßen
ausgespannt. Es schien riesig groß zu sein und ich über ihm in der
Luft zu schweben.

Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten über dasselbe empor, dann
dehnte es sich weithin, ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog
an seinem Rande, und dann war der gesättigte, goldgelbe, ganz reine
Himmel, an dem eine grelle, fast strahlenlose Sonne stand, zu ihrem
Untergange bereitet. Das Bild war von unbeschreiblicher Größe. Kaspar,
welcher neben mir stand, sagte: »Verehrter Herr, der Winter ist doch
auch recht schön.«

»Ja, Kaspar«, sagte ich, »er ist schön, er ist sehr schön.«

Wir blieben stehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des
Himmels wurde für einen Augenblick noch höher und flammender, dann
begann alles nach und nach zu erbleichen und schmolz zuletzt in ein
farbloses Ganzes zusammen. Nur die gewaltigen Erhebungen, die gegen
Süden standen und die das Eis, das wir besuchen wollten, enthielten,
glommen noch von einem unsichern Lichte, während mancher Stern über
ihnen erschien. Wir gingen nun in dem beinahe finster gewordenen
und ziemlich unwegsamen Raume zur Hütte, um in derselben unsere
Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen. Die Hütte war, wie es im
Winter immer ist, wo sie leer steht, nicht gesperrt. Ein Holzriegel,
der sehr leicht zu beseitigen war, schloß die Tür. Wir traten ein,
steckten eine Kerze in unsern Handleuchter und machten Licht. Wir
suchten das Gemach der Sennerinnen und ließen uns dort nieder. In den
Schlafstellen war etwas Heu, ein grober Brettertisch stand in der
Mitte des Gemaches, eine Bank lief an der Wand hin und eine bewegliche
stand an dem Tische. Wir hatten vor, hier erst unser eigentliches
warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefaßt waren, es
zeigte sich nirgends auch nicht der geringste Vorrat von Holz. Ich
hatte für den Fall Weingeist bei mir, um einige Schnitten Braten in
einer flachen Pfanne rösten zu können; aber wir zogen es vorzüglich
wegen der Erwärmung des Körpers vor, ein Stück Bank zu verbrennen und
dem Eigentümer Ersatz zu leisten. Kaspar machte sich mit der Axt an
die Arbeit, und bald loderte ein lustiges Feuer auf dem Herde. Ein
Abendessen wurde bereitet, wie wir es oft bei unsern Gebirgsarbeiten
bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafstellen, den Decken und den
Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine
Meßwerkzeuge, die im Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet
hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jetzt am späten Abende war bei
ganz heiterem, sternenvollem Himmel eine viel mindere Kälte in dieser
Höhe als ich vermutet hatte.


Ehe der Tag graute, standen wir auf, machten Licht, kleideten uns
vollständig an, richteten all unsere Dinge zurecht, bereiteten ein
Frühmahl, verzehrten es und traten unsern Weg an. Die Echernspitze
stand fast schwarz im Süden, wir konnten sie deutlich in die blasse
Luft über dem Haustein, der uns noch unsere Eisfelder deckte, empor
ragen sehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht
licht war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn wir mußten
geraume Zeit zwischen Felsen empor gehen, die unsere Richtung von
beiden Seiten begrenzten und uns nicht abweichen ließen. Wir legten,
weil der Schnee in diesen Rinnen sich angehäuft hatte, unsere
Schneereife an und gingen in der ungewissen Dämmerung vorwärts. Nach
etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus,
wo die Gegend sich wieder öffnet und gegen Osten weite Felder
hinziehen. Diese biegen, nachdem sie sich ziemlich hoch erhoben, gegen
Süden um einen Fels herum und lassen dann den Eisstock erblicken, zu
dem wir wollten. Dieser drückt mit großer Macht von Süden gegen Norden
herab und hat zu seiner südlichen Begrenzung die Echernspitze. Auf den
erklommenen Feldern war es schon ganz licht; allein die Berge, welche
wir am östlichen Rande derselben unter uns und weit draußen erblicken
sollten, waren nicht zu sehen, sondern am Rande der mit Schnee
bedeckten Felder setzte sich eine Farbe, die nur ein klein wenig von
der Schneefarbe verschieden war, fast ins Unermeßliche fort, die
des Nebels. Er hatte seit gestern noch mehr überhand genommen und
begrenzte unsere Höhe als Insel. Kaspar wollte erschrecken. Ich aber
machte ihn aufmerksam, daß der Himmel über uns ganz heiter sei, daß
dieser Nebel von jenem sehr verschieden sei, der bei dem Beginne des
Regen- oder Schneewetters zuerst die Spitzen der Berge in Gestalt von
Wolken einhüllt, sich dann immer tiefer, oft bis zur Hälfte der Berge,
hinabzieht und den Wanderern so fürchterlich ist; unser Nebel sei kein
Hochnebel, sondern ein Tiefnebel, der die Bergspitzen, auf denen das
Verirren so schrecklich sei, freilasse und der beim Höhersteigen der
Sonne verschwinden werde. Im schlimmsten Falle, wenn er auch bliebe,
sei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht höher stehe, als wo
der schwarze Stein liegt. Von dort hinab aber ist uns der Weg sehr
bekannt, wir müssen unsere eigenen Fußstapfen finden und können an
ihnen abwärts gehen.

Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben sehr vertraut war, sah meine
Gründe ein und war beruhigt.

Während wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel
im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfärbten sich zu einer
schöneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie
bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels
begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde und endlich in
der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot, aber so innig
glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen
Berge überwunden hatte und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher
wurde der Schnee, immer deutlicher, fast grünlich seine Schatten, die
hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch
die sich nähernde Leuchte und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen
als der ungeheure, dunkle, ganz heitere Himmel über uns, und in der
einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen
nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mußten. Der Nebel fing
endlich an seiner äußersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes
Metall, der Himmel lichtete sich und die Sonne quoll wie blitzendes
Erz aus ihrer Umhüllung empor. Die Lichter schossen plötzlich über den
Schnee zu unsern Füßen und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag
war da.

Wir banden uns die Stricke um den Leib und ließen ein ziemlich langes
Stück von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn
einer, da wir jetzt über eine sehr schiefe Fläche zu gehen hatten,
gleiten sollte, er durch den andern gehalten würde. Im Sommer war
diese Fläche mit vielen kleinen und scharfen Steinen bedeckt, daher
der Übergang über sie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden
nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten geraten. Ohne Hilfe der
Schneereife, die hier, weil sie unbehilflich machten, nur gefährlich
werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorsicht glücklich
hinüber, lösten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten
mehrstündigen Wanderung um die Felsen und standen an dem Gletscher und
auf dem ewigen Schnee.

Auf dem Eise, da wir nach uns sehr bekannten Richtungen auf demselben
vorschritten, zeigte sich beinahe mit Rücksicht auf den Sommer gar
keine Veränderung. Da auch im Sommer fast jeder Regen des Tales die
Höhen entweder gar nicht trifft oder auf ihnen Schnee ist, so war es
jetzt auf dem Gletscher wie im Sommer, und wir schritten auf bekannten
Gebieten vorwärts. Wo die Eismengen geborsten und zertrümmert
waren, hatte sie an ihren Oberflächen der Schnee bedeckt, mit den
Seitenflächen sahen sie grünlich oder blaulich schillernd aus dem
allgemeinen Weiß hervor, weiter aufwärts, wo die Gletscherwölbung rein
dalag, war sie mit Schnee bedeckt. Der einzige Unterschied bestand,
daß jetzt keine einzige breite oder lange Eisstelle bloßgelegt
in ihrer grünlichen Farbe da stand, was doch zuweilen im Sommer
geschieht. Wir verweilten einige Zeit auf dem Eise und nahmen auf
demselben auch unser Mittagmahl, in Wein und Brod bestehend, ein.

Unter uns hatte sich aber indessen eine Veränderung vorbereitet. Der
Nebel war nach und nach geschwunden, ein Teil der fernen oder der
näheren Berge war nach dem andern sichtbar geworden, verschwunden,
wieder sichtbar geworden, und endlich stand Alles im Sonnenglanze ohne
ein Flöckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in sanfter Bläue oder
wie in goldigem Schimmer oder wie im fernen, matten Silberglanze, in
tiefem Schweigen und unbeweglich da. Die Sonne strahlte einsam ohne
einer geselligen Wolke an dem Himmel. Die Kälte war auch hier nicht
groß, geringer als ich sie im Tale beobachtet hatte, und nicht viel
größer als sie auch zu Sommerszeiten auf diesen Höhen ist.

Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem Eise aufgehalten hatten,
traten wir den Rückweg an. Wir gelangten leicht an den gewöhnlichen
Ausgang des Gletschers, von wo aus man das Hinabgehen über die Berge
einleitet. Wir fanden unsere Fußstapfen, die in der ungetrübten
Oberfläche des Schnees, da hierauf selten auch Tiere kommen, sehr
deutlich erkennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir kamen
glücklich über die schiefe Fläche und langten gegen Abend in der
Ziegenalpe an. Es war hier schon zu dunkel, um noch etwas von der
Umgebung sehen zu können. Wir hielten in der Hütte wieder unser warm
zubereitetes Abendmahl, wärmten uns am Reste der Bank und erquickten
uns durch Schlaf. Der nächste Morgen war abermals klar, in den Tälern
lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen windstill gewesen
war, so hatten wir uns jetzt in Hinsicht unsers Rückweges über die
Hochebene nicht zu sorgen. Unsere Fußstapfen standen vollkommen
unverwischt da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen. Selbst da, wo
wir ratend gestanden waren und etwa den Alpenstock seitwärts unseres
Standortes in den Schnee gestoßen hatten, war die Spur noch völlig
sichtbar. Wir kamen früher als wir gedacht hatten an dem schwarzen
Steine an. Dort hielten wir wieder unser Mittagmahl und gingen dann
unter dem sich immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber hier
kein wesentliches Hindernis mehr machte, die steile Senkung der Berge
hinunter. Der an ihrem Fuße beobachtete Wärmemesser zeigte wirklich
eine größere Kälte, als wir auf den Bergen gehabt hatten.

Am Nachmittage waren wir wieder in dem Seewirtshause.

Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus im Lauterthale. Alles
umringte uns und wollte unsere Erlebnisse wissen. Sie wunderten sich,
daß die Unternehmung so einfach gewesen sei, besonders aber, daß die
Kälte, die schon im Sommer gegen die Wärme der Täler so abstehe, im
Winter nicht ganz fürchterlich soll gewesen sein. Kaspar war ein
wichtiger Mann geworden.

Ich aber war von dem, was ich oben gesehen und gefunden hatte,
vollkommen erfüllt. Die tiefe Empfindung, welche jetzt immer in meinem
Herzen war und welche mich angetrieben hatte, im Winter die Höhen der
Berge zu suchen, hatte mich nicht getäuscht. Ein erhabenes Gefühl war
in meine Seele gekommen, fast so erhaben wie meine Liebe zu Natalien.
Ja, diese Liebe wurde durch das Gefühl noch gehoben und veredelt, und
mit Andacht gegen Gott, den Herrn, der so viel Schönes geschaffen
und uns so glücklich gemacht hat, entschlief ich, als ich wieder zum
ersten Male in meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahornhauses
ruhte.

Es hat mich nicht gereut, daß ich noch die Weihe dieser Unternehmung
auf mich genommen hatte, ehe ich zu meinem Gastfreunde ging, um ihm
meinen Winterbesuch zu machen.

Ich hielt mich nur noch so lange in dem Lauterthale auf, um noch die
bedeutendsten Stellen desselben im Winterschmucke zu sehen und um die
Einleitung zu treffen, daß dem Eigentümer der Ziegenalpe die Bank, die
wir verbrannt hatten, ersetzt würde. Dann fuhr ich in einem Schlitten
in der Richtung nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herzlich
von mir Abschied genommen, er war mir durch diese Unternehmung noch
mehr befreundet geworden, als er es früher gewesen war.

Die größere Wärme in den oberen Teilen der Luft, welche nur ein
Vorbote des beginnenden Südwindes gewesen war, hatte sich nun völlig
geltend gemacht, der Südwind war in den Höhen eingetreten, obwohl es
in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten die Berge umhüllt, zogen
über die Länder hinaus und schüttelten Regen herab, der in Gestalt von
Eiskörnern unten ankam und mir um das Haupt und die Wangen prasselte,
als ich in dem Asperhofe eintraf.

Die Pferde und der Schlitten wurden in den Meierhof gebracht, ich ging
zu meinem Gastfreunde. Er saß in seinem Arbeitszimmer und ordnete
Pergamentblätter, von denen er einen großen Stoß vor sich hatte. Ich
begrüßte ihn, und er empfing mich wie immer gleich freundlich.

Ich sagte ihm, daß ich seit meiner letzten Anwesenheit im Asperhofe
fast immer gereist sei. Erst hätte ich noch das Kargrat besucht,
weil ich dort zu ordnen gehabt hätte, dann sei ich zu meinen Eltern
gegangen, hierauf habe ich mit meinem Vater einen Besuch in seiner
Heimat gemacht, dann sei ich mit meiner Schwester auf eine Zeit,
um ihr ein Vergnügen zu bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als
hierauf der Winter gekommen sei, habe ich die Echerngletscher besucht,
und nun sei ich hier.

»Ihr seid wie immer herzlich willkommen«, sagte er, »bleibt bei uns,
so lange es euch gefällt, und seht unser Haus wie das eurer Eltern
an.«

»Ich danke euch, ich danke euch sehr«, erwiderte ich.

Er zog an der Klingel zu seinen Füßen, und die alte Katharina kam
herauf. Er befahl ihr, meine Zimmer zu heizen, daß ich sie sehr bald
benutzen könne.

»Es ist schon geschehen«, antwortete sie. »Als wir den jungen Herrn
hereinfahren sahen, ließ ich durch Ludmilla gleich heizen, es brennt
schon; aber ein wenig gelüftet muß noch werden, neue Überzüge müssen
kommen, der Staub muß abgewischt werden, ihr müßt euch schon ein wenig
gedulden.«

»Es ist gut und recht«, sagte mein Gastfreund, »sorge nur, daß alles
wohnlich sei.«

»Es wird schon werden«, antwortete Katharina und verließ das Zimmer.

»Ihr könnt, wenn ihr wollt«, sagte er dann zu mir, »indessen, bis eure
Wohnung in Ordnung ist, mit mir zu Eustach hinüber gehen und sehen,
was eben gearbeitet wird. Wir können hiebei auch bei Gustav anklopfen
und ihm sagen, daß ihr gekommen seid.«


Ich nahm den Vorschlag an. Er zog eine Art Überrock über seine
Kleider, die beinahe wie im Sommer waren, an, und wir gingen aus dem
Zimmer. Wir begaben uns zuerst zu Gustav, und ich begrüßte ihn. Er
flog an mein Herz, und sein Ziehvater sagte ihm, er dürfe uns in
das Schreinerhaus begleiten. Er nahm gar kein Überkleid, sondern
verwechselte nur seinen Zimmerrock mit einem etwas wärmeren und war
bereit, uns zu folgen. Wir gingen über die gemeinschaftliche Treppe
hinab, und als wir unten angekommen waren, sah ich, daß mein
Gastfreund auch heute an dem unfreundlichen Wintertage barhäuptig
ging. Gustav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem Haupte. Wir gingen
über den Sandplatz dem Gebüsche zu. Die Eiskörner, welche eine
bereifte, weiße und rauhe Gestalt hatten, mischten sich mit den weißen
Haaren meines Freundes und sprangen auf seinem zwar nicht leichten,
aber noch nicht für eine strenge Winterkälte eingerichteten Überrocke.
Die Bäume des Gartens, die uns nahe standen, seufzten in dem Winde,
der von den Höhen immer mehr gegen die Niederungen herab kam und
an Heftigkeit mit jeder Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das
Schreinerhaus. Wie bei meiner ersten Annäherung stieg auch heute ein
leichter Rauch aus demselben empor, aber er ging nicht wie damals in
einer geraden luftigen Säule in die Höhe, sondern wie er die Mauern
des Schornsteins verließ, wurde er von dem Winde genommen, in
Flatterzeug verwandelt und nach verschiedenen Richtungen gerissen.
Auch waren nicht die grünen Wipfel da, an denen er damals empor
gestiegen war, sondern die nackten Äste mit den feinen Ruten der
Zweige standen empor und neigten sich im Winde über das Haus herüber.
Auf dem Dache desselben lag der Schnee. Von Tönen konnten wir bei
dieser Annäherung aus dem Innern nichts hören, weil außen das Sausen
des Windes um uns war.

Da wir eingetreten waren, kam uns Eustach entgegen, und er grüßte mich
noch freundlicher und herzlicher, als er es sonst immer getan hatte.
Ich bemerkte, daß um zwei Arbeiter mehr als gewöhnlich in dem Hause
beschäftigt waren. Es mußte also viele oder dringende Arbeit geben.
Die Wärme gegen den Wind draußen empfing uns angenehm und wohnlich
im Hause. Eustach geleitete uns durch die Werkstube in sein Gemach.
Ich sagte ihm, daß ich gekommen sei, um auch einen kleinen Teil des
Winters in dem Asperhofe zu bleiben, den ich in demselben nie gesehen
und den ich nur meistens in der Stadt verlebt habe, wo seine Wesenheit
durch die vielen Häuser und durch die vielen Anstalten gegen ihn
gebrochen werde.

»Bei uns könnt ihr ihn in seiner völligen Gestalt sehen«, sagte
Eustach, »und er ist immer schön, selbst dann noch, wann er seine Art
so weit verleugnet, daß er mit warmen Winden, blaugeballten Wolken und
Regengüssen über die schneelose Gegend daher fährt. So weit vergißt er
sich bei uns nie, daß er in ein Afterbild des Sommers, wie zuweilen in
südlichen Ländern, verfällt und warme Sommertage und allerlei Grün zum
Vorschein bringt. Dann wäre er freilich nicht auszuhalten.«

Ich erzählte ihm von meinem Besuche auf dem Echerngletscher und sagte,
daß ich doch auch schon manchen schönen und stürmischen Wintertag im
Freien und ferne von der großen Stadt zugebracht habe.

Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den früheren neu hinzu
gekommen waren, und zeigte mir Grund- und Aufrisse und andere Pläne
zu den Werken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeichnungen
befanden sich schon einige, die nach Gegenständen in der Kirche von
Klam genommen worden waren, und unter den Plänen befanden sich viele,
die zu den Ausbesserungen gehörten, die mein Gastfreund in der Kirche
vornehmen ließ, welche ich mit ihm besucht hatte.

Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeitsstube und besahen die
Dinge, die da gemacht wurden. Meistens betrafen sie Gegenstände,
welche für die Kirche, für die eben gearbeitet wurde, gehörten. Dann
sah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen- und Lärchenbohlen,
welches wie der Hintergrund zu Schnitzwerken von Vertäflungen aussah,
auch erblickte ich Simse, wie zu Vertäflungen gehörend. Von Geräten
war ein Schrein in Arbeit, der aus den verschiedensten Hölzern, ja
mitunter aus seltsamen, die man sonst gar nicht zu Schreinerarbeiten
nimmt, bestehen sollte. Er schien mir sehr groß werden zu wollen; aber
seinen Zweck und seine Gestalt konnte ich aus den Anfängen, die zu
erblicken waren, nicht erraten. Ich fragte auch nicht darnach, und man
berichtete mir nichts darüber.

Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhause aufgehalten und auch über
andere Gegenstände gesprochen hatten, als sich in demselben befanden
oder mit demselben in Beziehung standen, entfernten wir uns wieder,
und mein Freund und Gustav geleiteten mich in das Wohnhaus zurück und
dort in meine Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaftes
Feuer mußte den Tönen nach, die zu hören waren, in dem Ofen brennen,
alles war gefegt und gereinigt, weiße Fenstervorhänge und weiße
Überzüge glänzten an dem Bette und an jenen Geräten, für die sie
gehörten, und alle meine Reisesachen, welche ich in dem Schlitten
geführt hatte, waren bereits in meiner Wohnung vorhanden. Mein
Gastfreund sagte, ich möge mich hier nun zurecht finden und
einrichten, und er verließ mich dann mit Gustav.

Ich packte nun die Gegenstände, welche ich in meinen Reisebehältnissen
hatte, aus und verteilte sie so, daß die beiden Gemächer, welche mir
zur Verfügung standen, recht winterlich behaglich, wozu die Wärme, die
in den Zimmern herrschte, einlud, ausgestattet waren. Ich wollte es so
tun, ich mochte mich nun lange oder kurz in diesen Räumen aufzuhalten
haben, was von den Umständen abhing, die nicht in meiner Berechnung
lagen. Besonders richtete ich mir meine Bücher, meine Schreibdinge
und auch Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen so her, daß alles
dies meinen Wünschen, so weit ich das jetzt einsah, auf das Beste
entsprach. Nachdem ich mit allem fertig war, kleidete ich mich auch
um, damit die Reisekleider mit bequemeren und häuslichen vertauscht
wären.

Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging in dem Garten meinen
gewöhnlichen Weg zu dem großen Kirschbaume hinauf. Aus dem in dem
Schnee wohl ausgetretenen Pfade sah ich, daß hier häufig gegangen
werde und daß der Garten im Winter nicht verwaist ist, wie es bei so
vielen Gärten geschieht und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht
geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein Freund ist. Selbst
die Nebenpfade waren gut ausgetreten, und an manchen Stellen sah ich,
daß man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel angewendet habe.
Die zarteren Bäumchen und Gewächse waren mit Stroh verwahrt, alles,
was hinter Glas stehen sollte, war wohl geschlossen und durch
Verdämmungen geschützt, und alle Beete und alle Räume, die in ihrer
Schneehülle dalagen, waren durch die um sie geführten Wege gleichsam
eingerahmt und geordnet. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife
befreit, der Schnee, der in kleinen Kügelchen daher jagte, konnte auf
ihnen nicht haften, und sie standen desto dunkler und beinahe schwarz
von dem umgebenden Schnee ab. Sie beugten sich im Winde und sausten
dort, wo sie in mächtigen Abteilungen einem großen Baume angehörten
und in ihrer Dichtheit gleichsam eine Menge darstellten. In den
entlaubten Ästen konnte ich desto deutlicher und häufiger die
Nestbehälter sehen, welche auf den Bäumen angebracht waren. Von den
gefiederten Bewohnern des Gartens war aber nichts zu sehen und zu
hören. Waren wenige oder keine da, konnte man sie in dem Sturme nicht
bemerken oder haben sie sich in Schlupfwinkel, namentlich in ihre
Häuschen, zurückgezogen? In den Zweigen des großen Kirschbaumes
herrschte der Wind ganz besonders. Ich stellte mich unter den Baum
neben die an seinem Stamme befindliche Bank und sah gegen Süden. Das
dunkle Baumgitter lag unter mir, wie schwarze, regellose Gewebe auf
den Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit seinem weißen Dache,
und weiter war nichts; denn die fernere Gegend war kaum zu erblicken.
Bleiche Stellen oder dunklere Ballen schimmerten durch, je nachdem
das Auge sich auf Schneeflächen oder Wälder richtete, aber nichts war
deutlich zu erkennen, und in langen Streifen, gleichsam in nebligen
Fäden, aus denen ein Gewebe zu verfertigen ist, hing der fallende
Schnee von dem Himmel herunter. Von dem Kirschbaume konnte ich nicht
in das Freie hinausgehen; denn das Pförtchen war geschlossen. Ich
wendete mich daher um und ging auf einem anderen Wege wieder in das
Haus zurück.

An demselben Tage erfuhr ich auch, daß Roland anwesend sei. Mein
Gastfreund holte mich ab, mich zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in
dem Wohnhause ein großes Zimmer zurecht gerichtet. In demselben malte
er eben eine Landschaft in Ölfarben. Als wir eintraten, sahen wir ihn
vor seiner Staffelei stehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch
weiter von dem Fenster entfernt war, als dies sonst gewöhnlich der
Fall zu sein pflegt. Das zweite der Fenster war mit einem Vorhange
bedeckt. Er hatte ein leinenes Überkleid an seinem Oberkörper an und
hielt gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand. Er legte beides
auf den nahestehenden Tisch, da er uns kommen sah, und ging uns
entgegen. Mein Gastfreund sagte, daß er mich zu dem Besuche bei ihm
aufgefordert habe und daß Roland wohl nichts dagegen haben werde.

»Der Besuch ist mir sehr erfreulich«, sagte er, »aber gegen mein Bild
wird wohl viel einzuwenden sein.«

»Wer weiß das?« sagte mein Gastfreund.

»Ich wende viel ein«, antwortete Roland, »und Andere, die sich des
Gegenstandes bemächtigen, werden auch wohl viel einzuwenden haben.«

Wir waren während dieser Worte vor das Bild getreten.

Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen. Nicht, daß ich gemeint
hätte, daß das Bild so vortrefflich sei, das konnte man noch nicht
beurteilen, da sich Vieles in den ersten Anfängen befand, auch glaubte
ich zu bemerken, daß Manches wohl kaum würde gemeistert werden
können. Aber in der Anlage und in dem Gedanken erschien mir das
Bild merkwürdig. Es war sehr groß, es war größer als man gewöhnlich
landschaftliche Gegenstände behandelt sieht, und wenn es nicht gerollt
wird, so kann es aus dem Zimmer, in welchem es entsteht, gar nicht
gebracht werden. Auf diesem wüsten Raume waren nicht Berge oder
Wasserfluten oder Ebenen oder Wälder oder die glatte See mit schönen
Schiffen dargestellt, sondern es waren starre Felsen da, die nicht als
geordnete Gebilde empor standen, sondern, wie zufällig, als Blöcke und
selbst hie und da schief in der Erde staken, gleichsam als Fremdlinge,
die wie jene Normannen auf dem Boden der Insel, die ihnen nicht
gehörte, sich seßhaft gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie der
jener Insel oder vielmehr, er war so, wo er nicht von den im Altertume
berühmten Kornfeldern bekleidet oder von den dunkeln, fruchtbringenden
Bäumen bedeckt ist, sondern wo er zerrissen und vielgestaltig ohne
Baum und Strauch mit den dürren Gräsern, den weiß leuchtenden Furchen,
in denen ein aus unzähligen Steinen bestehender Quarz angehäuft ist
und mit dem Gerölle und mit dem Trümmerwerke, das überall ausgesät
ist, der dörrenden Sonne entgegenschaut. So war Rolands Boden, so
bedeckte er die ungeheure Fläche, und so war er in sehr großen und
einfachen Abteilungen gehalten, und über ihm waren Wolken, welche
einzeln und vielzählig schimmernd und Schatten werfend in einem Himmel
standen, welcher tief und heiß und südlich war.

Wir standen eine Weile vor dem Bilde und betrachteten es. Roland
stand hinter uns, und da ich mich einmal wendete, sah ich, daß er die
Leinwand mit glänzenden Augen betrachtete. Wir sprachen wenig oder
beinahe nichts.

»Er hat sich die Aufgabe eines Gegenstandes gestellt, den er noch
nicht gesehen hat«, sagte mein Gastfreund, »er hält sich ihn nur in
seiner Einbildungskraft vor Augen. Wir werden sehen, wie weit er
gelingt. Ich habe wohl solche Dinge oder vielmehr ihnen Ähnliches weit
unten im Süden gesehen.«

»Ich bin nicht auf irgend etwas Besonderes ausgegangen«, antwortete
Roland, »sondern habe nur so Gestaltungen, wie sie sich in dem Gemüte
finden, entfaltet. Ich will auch Versuche in Ölfarben machen, welche
mich immer mehr gereizt haben als meine Wasserfarben und in denen sich
Gewaltiges und Feuriges darstellen lassen muß.«

Ich bemerkte, als ich seine Geräte näher betrachtete, daß er Pinsel
mit ungewöhnlich langen Stielen habe, daß er also sehr aus der Ferne
arbeiten müsse, was bei einer so großen Leinwandfläche wohl auch nicht
anders sein kann und was ich auch aus der Behandlung ersah. Seine
Pinsel waren ziemlich groß, und ich sah auch lange, feine Stäbe,
an deren Spitzen Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er
entworfen haben mußte. Die Farben waren in starken Mengen auf der
Palette vorhanden.

»Der Herr dieses Hauses ist so gütig«, sagte Roland, »und läßt mich
hier wirtschaften, während ich verbunden wäre, Zeichnungen zu machen,
welche wir eben brauchen, und während ich an Entwürfen arbeiten
sollte, die zu den Dingen notwendig sind, die eben ausgeführt werden.«

»Das wird sich alles finden«, antwortete mein Gastfreund, »ihr habt
mir schon Entwürfe gemacht, die mir gefallen. Arbeitet und wählt nach
eurem Gutdünken, euer Geist wird euch schon leiten.«

Um Roland, der hier vor seinem Werke stand und dessen ganze Umgebung,
wie sie in dem Zimmer ausgebreitet war, auf Ausführung dieses Werkes
hinzielte, nicht länger zu stören, da die Wintertage ohnehin so kurz
waren, entfernten wir uns.

Da wir den Gang entlang gingen, sagte mein Gastfreund: »Er sollte
reisen.«

Als es dunkel geworden war, versammelten wir uns in dem Arbeitszimmer
meines Gastfreundes bei dem wohlgeheizten Ofen. Es war Eustach,
Roland, Gustav und ich zugegen. Es wurde von den verschiedensten
Dingen gesprochen, am meisten aber von der Kunst und von den
Gegenständen, welche eben in der Ausführung begriffen waren. Es mochte
wohl Vieles vorkommen, was Gustav nicht verstand, er sprach auch sehr
wenig mit; aber es mochte doch das Gespräch ihn mannigfaltig fördern,
und selbst das Unverstandene mochte Ahnungen erregen, die weiter
führen oder die aufbewahrt werden und in Zukunft geeignet sind, feste
Gestaltungen, die sich fügen wollen, einleiten zu helfen. Ich wußte
das sehr wohl aus meiner eigenen Jugend und selbst auch aus der
jetzigen Zeit.

Da ich in mein Schlafgemach zurückgekehrt war, fühlte ich es recht
angenehm, daß die Scheite aus dem Buchenwalde meines Gastfreundes, der
ein Teil des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beschäftigte
mich noch eine Zeit mit Lesen und teilweise auch mit Schreiben.


Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Strömen aus blaulich
gefärbten, gleichartigen, über den Himmel dahin jagenden Wolken herab.
Der Wind hatte zu solcher Heftigkeit zugenommen, daß er um das ganze
Haus heulte. Da er aus Südwesten kam, schlug der Regen an meine
Fenster und rann an dem Glase in wässerigen Flächen nieder. Aber da
das Haus sehr gut gebaut war, so hatte Regen und Wind keine anderen
Folgen als daß man sich recht geborgen in dem schützenden Zimmer fand.
Auch ist es nicht zu leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewisse
Größe erreicht, etwas Erhabenes hat und das Gemüt zu stärken im Stande
ist. Ich hatte die ersten Morgenstunden bei Licht in Wärme damit
hingebracht, dem Vater und der Mutter einen Brief zu schreiben, worin
ich ihnen anzeigte, daß ich auf dem Echerneise gewesen sei, daß ich
alle Vorsicht beim Hinaufsteigen und Heruntergehen angewendet habe,
daß uns nicht der geringste Unfall zugestoßen sei und daß ich mich
seit gestern bei meinem Freunde im Rosenhause befinde. An Klotilden
legte ich ein besonderes Blatt bei, worin ich, auf ihre teilweise
Kenntnis des Gebirges, die sie sich auf der mit mir gemachten Reise
erworben hatte, bauend, eine kleine Beschreibung des winterlichen
Hochgebirgbesuches gab. Als es dann heller geworden und die Stunde zum
Frühmahle gekommen war, ging ich in das Speisezimmer hinunter. Ich
erfuhr nun hier, daß es im Winter der Gebrauch sei, daß Eustach und
Roland, deren gestrige Anwesenheit bei dem Abendessen ich für zufällig
gehalten hatte, mit meinem Gastfreunde und Gustav an einem Tische
speisen. Es sollte auch im Sommer so sein; allein da oft in dieser
Jahreszeit in dem Schreinerhause lange vor Sonnenaufgang aufgestanden
und zu einer Arbeit geschritten wird, so verändern sich die Stunden,
an denen eine Erquickung des Körpers notwendig wird, und Eustach
hat selber gebeten, daß ihm dann die Zeit und Art seines Essens zu
eigener Wahl überlassen werde. Roland ist ohnehin zu jener Jahreszeit
meistens von dem Hause abwesend. Ich war nie so spät im Winter in dem
Rosenhause gewesen, daß ich diese Einrichtung hätte kennen lernen
können. Mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich saßen also
beim Frühmahltische. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um das
Wetter, welches so stürmisch herein gebrochen war, und es wurde
erläutert, wie es hatte kommen müssen, wie es sich erklären lasse, wie
es ganz natürlich sei, wie jedes Hauswesen sich auf solche Wintertage
in der Verfassung halten müsse und wie, wenn das der Fall sei, man
dann derlei Ereignisse mit Geduld ertragen, ja darin eine nicht
unangenehme Abwechslung finden könne. Nach dem Frühmahle begab sich
jedes an seine Arbeit. Mein Gastfreund ging in sein Zimmer, um dort im
Ordnen der Pergamente, das er angefangen hatte, fortzufahren, Eustach
ging in die Schreinerei, Roland, für den die Zeit trotz des trüben
Tages doch endlich auch hell genug zum Malen geworden war, begab sich
zu seinem Bilde, Gustav setzte sein Lernen fort und ich ging wieder in
meine Zimmer. Da ich dort eine Zeit mit Lesen und Schreiben zugebracht
hatte und da der Sturm, statt sich zu mildern, in den Vormittagstunden
nur noch heftiger geworden war, beschloß ich doch, wie es meine
Gewohnheit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich wählte
eine zweckmäßige Fußbekleidung, nahm meinen Wachsmantel, der eine
Wachshaube hatte, die man über den Kopf ziehen konnte, und ging über
die gemeinschaftliche Treppe hinab. Ich schlug den Weg durch das
Gittertor auf den Sandplatz vor dem Hause ein. Dort konnte der
Südwestwind recht an meine Person fallen, und er trieb mir die
Tropfen, welche für einen Winterregen bedeutend groß waren, mit
Prasseln auf meinen Überwurf, in das Angesicht, in die Augen und auf
die Hände. Ich blieb auf dem Platze ein wenig stehen und betrachtete
die Rosen, welche an der Wand des Hauses gezogen wurden. Manche
Stämmchen waren durch Stroh geschützt, bei manchen war stellenweise
die Erde über den Wurzeln mit einer schützenden Decke bekleidet,
andere waren bloß fest gebunden, bei allen aber sah ich, daß man
außerordentliche Schutzmittel nicht angewendet habe und daß alle nur
gegen Verletzungen von äußerlicher Gewalt gesichert waren.

Der Schnee konnte sie überhüllen, wie ich noch die Spuren sah, der
Regen konnte sie begießen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte
der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig lostrennen und mit ihm spielen
oder ihn zerren. Die ganze Wand des Hauses war auch im Übrigen
unversehrt, und der Regen, der gegen dieselbe anschlug, konnte ihr
nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplatze über den Hügel hinunter.
Der Schnee hatte schon die Gewalt des Regens verspürt, welcher
ziemlich warm war. Die weiche, sanfte und flaumige Gestalt war
verloren gegangen, etwas Glattes und Eisiges hatte sich eingestellt,
und hie und da standen gezackte Eistrümmer gleichsam wie zerfressen
da. Das Wasser rann in Schneefurchen, die es gewählt hatte, nieder,
und an offenen Stellen, wo es durch die löcherichte Beschaffenheit des
Schnees nicht verschluckt wurde, rieselte es über die Gräser hinab.
Ich ging, ohne auf einen Weg zu achten, durch den wässerigen Schnee
fort. In der Tiefe des Tales lenkte ich gegen Osten. Ich ging eine
Strecke fort, ging dort über die Wiesen und ließ das Schauspiel auf
mich wirken. Es war fast herrlich, wie der Wind, welcher den Schnee
nicht mehr heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie schon
Stellen bloß lagen, wie die grauen Schleier gleichsam bänderweise
nieder rollten und wie die trüben Wolken über dem bleichen Gefilde
unbekümmert um Menschentun und Menschenwerke dahin zogen.

Ich richtete endlich in der Tiefe der Wiesen meinen Weg nordwärts
gegen den Meierhof hinauf. Als ich dort anbelangt war, erfuhr ich, daß
der Herr, wie man hier meinen Gastfreund kurzweg nannte, heute auch
schon da gewesen, aber bereits wieder fortgegangen sei. Er hatte
Mehreres besichtigt und Mehreres angeordnet. Ich fragte, ob er heute
auch barhäuptig gewesen sei, und es wurde bejaht. Da ich den Meierhof
besehen hatte und in verschiedenen Räumen desselben herum gegangen
war, sah ich erst recht, was ein wohleingerichtetes Haus sei. Der
Regen fiel auf dasselbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht
eindringen und von dem er äußerlich nur in Jahrhunderten etwas herab
waschen könne. Keine Ritze zeigte sich für das Einlassen des Wassers
bereit, und kein Teilchen der Bekleidung schickte sich zur Loslösung
an. Im Innern wurden die Arbeiten getan wie an jedem Tage. Die Knechte
reinigten Getreide mit der sogenannten Getreideputzmühle, schaufelten
es seitwärts und maßen es in Säcke, damit es auf den Schüttboden
gebracht werde. Der Meier war dabei beschäftigt, ordnete an und prüfte
die Reinheit. Ein Teil der Mägde war in den Ställen beschäftigt, ein
Teil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Teil spann,
und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer. Ich sprach mit
allen, und sie zeigten Freude, daß ich sogar in dieser Jahreszeit
einmal gekommen sei.

Von dem Meierhofe ging ich über den mit Obstbäumen bepflanzten Raum
gegen den Garten hinüber. Das Pförtchen an dieser Seite war unter Tags
selbst im Winter nicht gesperrt. Ich ging durch dasselbe ein und begab
mich in die Wohnung des Gärtners. Dort legte ich meinen Wachsmantel,
durch dessen Falten das Wasser rann, ab und setzte mich auf die reine,
weiße Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und seine Frau empfingen mich
recht freundlich. In ihrem ganzen Wesen war etwas sehr Aufrichtiges.
Seit geraumer Zeit war bei diesen alten Leuten beinahe etwas
Elternhaftes gegen mich gewesen. Die Gärtnersfrau Clara sah mich immer
wieder gleichsam verstohlen von der Seite an. Wahrscheinlich dachte
sie an Natalien. Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die
Gewächshäuser gehen und die Pflanzen auch im Winter besehen wolle.

Das sei außer dem Besuche, den ich ihm und seiner Gattin machen
wollte, meine Nebenabsicht gewesen, erwiderte ich.

Er nahm einen anderen Rock um und geleitete mich in die Gewächshäuser,
welche an seine Wohnung stießen. Ich nahm wirklich großen Anteil an
den Pflanzen selber, da ich mich ja in früherer Zeit viel mit Pflanzen
beschäftigt hatte, und nahm Anteil an dem Zustande derselben. Wir
gingen in alle Räume des nicht unbeträchtlich großen Kalthauses und
begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht bloß, daß ich die Pflanzen
nach meiner Absicht betrachtete, nahm ich mir auch die Zeit,
freundlich anzuhören, was mein Begleiter über die einzelnen sagte, und
hörte zu, wie er sich über Lieblinge ziemlich weit verbreitete. Diese
Hingabe an seine Rede und die Teilnahme an seinen Pfleglingen, die ich
ihm stets bewiesen hatte, mochten nebst dem Anteile, den er mir an der
Erwerbung des Cereus peruvianus zuschrieb, Ursache sein, daß er eine
gewisse Anhänglichkeit gegen mich hegte. Als wir an dem Ausgange der
Gewächshäuser waren, welcher seiner Wohnung entgegengesetzt lag,
fragte er mich, ob ich auch in das Cactushaus gehen wolle, er werde
zu diesem Behufe, da wir einen freien Raum zu überschreiten hätten,
meinen Wachsmantel holen. Ich sagte ihm aber, daß dies nicht nötig
sei, da er ja auch ohne Schutz herüber gehe, daß mein Gastfreund heute
schon barhäuptig in dem Meierhofe gewesen sei, und daß es mir nicht
schaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke im Regen ohne
Kopfbedeckung gehe.

»Ja der Herr, der ist Alles gewohnt«, antwortete er.

»Ich bin zwar nicht Alles, aber Vieles gewohnt«, erwiderte ich, »und
wir gehen schon so hinüber.«

Er ließ sich von seinem Vorhaben endlich abbringen, und wir gingen in
das Cactushaus. Er zeigte mir alle Gewächse dieser Art, besonders den
Peruvianus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze geworden war,
er verbreitete sich über die Behandlung dieser Gewächse während des
Winters, sagte, daß mancher schon im Hornung blüht, daß nicht alle
eine gewisse Kälte vertragen, sondern in der wärmeren Abteilung des
Hauses stehen müssen, besonders verlangen dieses viele Cereusarten,
und er ging dann auf die Einrichtung des Hauses selbst über und hob
es als eine Vorzüglichkeit heraus, daß der Herr für jene Stellen, an
denen die Gläser über einander liegen, ein so treffliches Bindemittel
gefunden habe, durch welches das Hereinziehen des Wassers an den
übereinandergelegten Stellen des Glases unmöglich sei und das diesen
Pflanzen so nachteilige Herabfallen von Wassertropfen vermieden werde.
Dadurch kann es auch allein geschehen, daß an Regentagen und an Tagen,
an welchen Schnee schmilzt, das Haus nicht mit Brettern gedeckt werden
müsse, was finster macht und den Pflanzen schädlich ist. Ich könne
das ja heute sehen, wie bei einem Regen so heftiger Art nicht ein
Tröpflein herein dringen kann oder vom Winde hereingeschlagen wird.
Bretter würden überhaupt über dieses Haus nicht gelegt. Gegen den
Hagel sei es durch dickes Glas und den Panzer geschützt, und wenn
kalte Nächte zu erwarten sind, werde eine Strohdecke angewendet, und
der Schnee werde durch Besen entfernt. Mir war wirklich der Umstand
merkwürdig und wichtig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache
statt finde, was meinem Vater so unangenehm ist. Ich nahm mir vor,
meinen Gastfreund um Eröffnung des Verfahrens zu ersuchen, um dasselbe
dem Vater mitzuteilen. Als wir auf dem Rückwege durch die anderen
Gewächshäuser gingen, sah ich, daß auch hier kein Herabtropfen
vorhanden sei, und mein Begleiter bestätigte es.

Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der Gärtnerleute geblieben
war und mit der Gärtnerfrau gesprochen hatte, machte ich Anstalt zum
Heimwege. Die Gärtnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der Zeit, in
der ich mit ihrem Manne in den Gewächshäusern gewesen war, an seiner
Außenfläche von allem Wasser befreit und ihn überhaupt handlich
und angenehm hergerichtet. Ich dankte ihr, sagte, daß er wohl bald
wieder verknittert sein würde, empfahl mich freundlich, nahm die
anderseitigen freundlichen Empfehlungen in Empfang und ging dann in
meine Zimmer.

Dort kleidete ich mich sorgfältig um und ging dann zu meinem
Gastfreunde. Er war eben mit Gustav beschäftigt, der ihm Rechenschaft
von seinen Morgenarbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt wäre,
in das Bildergemach oder in ähnliche zu gehen.

»Das Lesezimmer und das Bilderzimmer so wie das mit den Kupferstichen
sind ordnungsgemäß geheizt«, antwortete mein Gastfreund, »der
Büchersaal, der Marmorsaal und die Marmortreppe werden leidlich warm
sein. Verschlossen ist keiner der Räume. Bedient euch derselben, wie
ihr es zu Hause tun würdet.«


Ich dankte und entfernte mich. Nach meiner Kenntnis der Tageinteilung
wußte ich, daß er seine Beschäftigung mit Gustav fortsetzte.

Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte sie von oben zu
gewinnen. Als ich von dem gemeinschaftlichen Gange in den oberen Teil
des Marmorganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorgeschrieben
war, Filzschuhe, welche immer in Bereitschaft standen, an und ging die
glatte, schöne Treppe hinunter.

Als ich in die Mitte derselben gekommen war, wo sich der breite
Absatz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung
gewesen. Ich wollte die altertümliche Marmorgestalt betrachten. Selbst
heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch
dazu durch das auf ihr rinnende Wasser getrübt war, gleichsam träge
nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und erhebende. Die
hehre Jungfrau, sonst immer sanft und hoch, stand heute in den
flüssigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb, aber mild da, und
der Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre unaussprechlich
anmutigen Glieder. Ich sah die Gestalt lange an, sie war mir, wie bei
jedem erneuerten Anblicke, wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend
weiße Gestalt der Brunnennymphe im Sternenhofe nach der jüngsten
Vergangenheit als liebes Bild in die Seele geprägt worden war, so war
sie doch ein Bild aus unserer Zeit und war mit unseren Kräften zu
fassen: hier stand das Altertum in seiner Größe und Herrlichkeit. Was
ist der Mensch, und wie hoch wird er, wenn er in solcher Umgebung, und
zwar in solcher Umgebung von größerer Fülle weilen darf!

Ich ging langsam die Treppe wieder hinan und ging in den Marmorsaal.
Seine Größe, seine Leerheit, der, wenn ein solches Wort erlaubt ist,
dunkle Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewissen und zweideutigen
Lichtern wechselnden Tage auf seinen Wänden lag und wechselte, ließ
sich nach dem Anblicke der Gestalt des Altertums tragen und ertragen.
Ja, der Saal erschien mir in dem finstern Tage noch größer und ernster
als sonst, und ich weilte gerne in ihm, fast so gerne wie an jenem
Abende, an welchem ich mit meinem Gastfreunde unter dem sanften
Blitzen eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegangen war.

Ich ging auch jetzt wieder in demselben hin und wider und ließ den
Sturm draußen mit seinen trüben Lichtern, die Wände hier innen mit
ihrem matten Glanze und die Erinnerung der eben gesehenen Gestalt in
mir wirken.

Nach einer Zeit trat ich durch die Tür, welche in das Bilderzimmer
führt. Die Bilder hingen in dem düsteren Glanze des Tages da und
konnten selbst dort, wo der Künstler die kraftvollsten Mittel des
Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur vollen Wirksamkeit
gelangen, weil das, was die Bilder erst recht malen hilft, fehlte, die
Macht eines sonnigen und heiteren Tages. Selbst als ich zu einigen,
die ich besonders liebte, näher getreten war, selbst als ich vor einem
Guido, der auf der Staffelei stand, die nahe an das Fenster und in
das beste Licht gerückt worden war, niedersaß, um ihn zu betrachten,
konnte die Empfindung, die sonst diese Werke in mir erregten, nicht
emporkeimen. Ich erkannte bald die Ursache, welche darin bestand, daß
ohnehin eine viel höhere in meinem Gemüte wartete, welche durch die
Gestalt des Altertums in mir hervorgerufen worden war. Die Gemälde
erschienen mir beinahe klein. Ich ging in das Bücherzimmer, nahm mir
Odysseus aus seinem Schreine, begab mich in das Lesezimmer, in welchem
die gesellige Flamme, die Freundin des Menschen, die ihm in der
Finsternis Licht und im Winter des Nordens Wärme gibt, hinter dem
feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles
auf das Reinlichste geordnet war, setzte mich in einiger Entfernung
von dem Fenster in einen weichen Sitz und begann unter dem Prasseln
des Regens an den Fenstern von der ersten Zeile an zu lesen. Die
fremden Worte, die als lebendig gesprochen einer fernen Zeit
angehörten, die Gestalten, welche durch diese Worte in unsere Zeit mit
all ihrer ihnen einstens angehörigen Eigentümlichkeit heraufgeführt
wurden, schlossen sich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe
hatte stehen gesehen. Als Nausikae kam, war es mir wieder, wie es mir
bei der ersten richtigen Betrachtung der Marmorgestalt gewesen war,
die Gewänder des harten Stoffes löseten sich zu leichter Milde, die
Glieder bewegten sich, das Angesicht erhielt wandelbares Leben, und
die Gestalt trat als Nausikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
Abends gewesen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den
Marmorsaal und in das Bilderzimmer herauf gekommen war und in diesen
keine Befriedigung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odysseus
greifen ließ. Als die Helden das Mahl in dem Saale genossen hatten,
als der Sänger gerufen worden war, als die Worte jenes Liedes
vernommen worden waren, dessen Ruhm damals bis zu dem Himmel reichte,
als Odysseus das Haupt verhüllt hatte, damit man die Tränen nicht
sähe, welche ihm aus den Augen flossen, als endlich Nausikae schlicht
und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte des Saales stand: da
gesellte sich auch lächelnd das schöne Bild Nataliens zu mir; sie war
die Nausikae von jetzt, so wahr, so einfach, nicht prunkend mit ihrem
Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Gestalten verschmolzen in
einander, und ich las und dachte zugleich, und bald las ich und bald
dachte ich, und als ich endlich sehr lange bloß allein gedacht hatte,
nahm ich das Buch, das vor mir auf dem Tische lag, wieder auf, trug es
in das Bücherzimmer auf seinen Platz und ging durch den Marmorsaal und
den Gang der Gastzimmer in meine Wohnung zurück.

Das Werk des Vormittages war abgetan.


Am Mittagtische fanden sich wieder dieselben Personen ein, welche
bei dem Frühmahle versammelt gewesen waren. Nach dem Genusse eines
einfachen, aber für Gedeihen und Gesundheit sehr wohl zubereiteten
Mahles, wie es immer in dem Rosenhause sein mußte, nach manchem
freundlichen und erheiternden Gespräche stand man auf, um wieder zu
seinen Geschäften zu gehen, die jedem ernst und wichtig genug waren,
mochten sie nun im Erwerben von Kenntnissen bestehen, wie fast
ausschließlich bei Gustav, oder mochten sie im Vorwärtsdringen in der
Kunst oder auf wissenschaftlichem Felde oder in einer richtigeren
Gestaltung der eigenen Lebenslage enthalten sein.

Für den heutigen Nachmittag war ein besonderes Geschäft vorbehalten
worden, zu welchem auch Roland kommen und deshalb seine heutige
Arbeit an seinem Bilde abbrechen mußte. Es war eine Sammlung von
Kupferstichen eingelangt, welche zum Kaufe angeboten waren, und deren
Besichtigung man auf den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein
Gastfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupferstiche lagen in zwei
Mappen in dem Zimmer meines Gastfreundes. Wir gingen über die Treppe,
die für die Dienerschaft bestimmt war, in sein Zimmer empor und
rückten den Tisch, auf welchem die Mappen lagen, näher an ein Fenster,
damit wir die Blätter besser betrachten konnten. Die Mappen wurden
geöffnet, und bald sah man, daß der Sammler der in denselben
enthaltenen Stücke kein Mann gewesen sei, der von der Tiefe der Kunst,
von ihrem Ernste und von ihrer Bedeutung für das menschliche Leben
eine Vorstellung gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewöhnlicher Art
gewesen, der die Menge und die Mannigfaltigkeit der Stücke vor Augen
gehabt hatte. Jetzt lag er im Grabe, und seine Erben mußten weder für
die Verhältnisse der Kunst zum menschlichen Leben noch für Sammeln
von was immer für einer Art einen Sinn gehabt haben, daher sie alle
Hefte meinem Gastfreunde, von dem sie gehört hatten, daß er solche
Merkwürdigkeiten suche, zum Verkaufe anboten. Neben ganz wertlosen
Erzeugnissen des Grabstichels nach heutiger unbedeutender Weise, wie
sie in Büchern und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vorkommen,
neben Steinzeichnungen mit der Feder und der Kreide befanden sich auch
bessere Werke von jetzt und besonders einige Stücke aus älterer Zeit
von großem Werte. Mein Gastfreund und seine zwei Gehilfen sprachen
bei dieser Gelegenheit Manches über Kupferstiche, was mir neu war und
woran ich die Bedeutung dieses Kunstzweiges mehr kennen lernte, als
ich sie früher kannte. Da er die Übersetzung der Werke der großen
Meister aller Zeiten vermitteln kann, da er ein Bild, das nur einmal
da ist, das für viele Menschen an fernen und ihnen nie erreichbaren
Orten sich befindet, oder das als Eigentum eines einzelnen Mannes
nicht einmal allen denen, die denselben Ort mit ihm bewohnen,
zugänglich ist, vervielfältiget und zur Anschauung in viele Orte
und in ferne Zeiten bringen kann, so sollte man ihm wohl die größte
Aufmerksamkeit schenken. Wenn er nicht einer gewissen, zu bestimmten
Zeiten in Schwung kommenden Art huldigt, sondern strebt, die Seele des
Meisters, wie sie sich in dem Bilde darstellt, wieder zu geben, wenn
er nicht bloß die Stoffe, wie sie sich in dem Bilde befinden, von
der Zartheit des menschlichen Angesichtes und der menschlichen Hände
angefangen durch den Glanz der Seide und die Glätte des Metalles bis
zu der Rauhigkeit der Felsen und Teppiche herab, sondern auch sogar
die Farben, die der Maler angewendet hat, durch verschiedene, aber
immer klare, leicht geführte und schöngeschwungene Linien, die niemals
unbedeutend, niemals durch Absonderlichkeit auffallend sein, niemals
einen bloßen Fleck bilden dürfen und die er zur Bemeisterung jedes
neuen Gegenstandes neu erfinden kann, darstellt: dann kann er zwar
nicht der Malerei in ihren Wirkungen an die Seite gesetzt werden,
die sie auf ihre Beschauer geradehin ausübt, aber er kann ihr an
Kunstwirkung überhaupt als ebenbürtig erkannt werden, weil er auf eine
größere Zahl von Menschen wirkt und bei denen, welche die nachgeahmten
Gemälde nicht sehen können, eine desto tiefere und vollere
Kunstwirkung hervorbringt, je tiefer und edler er selber ist. Dies
habe ich bei meinem Gastfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in
Verbindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies ist mir wieder
besonders klar geworden, als die Kupferstiche durchgesehen wurden
und als man über ihren Wert und über Mittel, Wege und Wirkung der
Kupferstecherkunst überhaupt sprach. Es wurde, da man die Einzelheiten
der guten Blätter genau untersucht und ihre Vorzüge und ihre Mängel
sorglich besprochen hatte, festgesetzt, daß man der guten Stücke
willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr Preis einen gewissen
Betrag, den man anbot und den man gerechter und billiger Weise geben
konnte, nicht überstiege. Die schlechten Blätter wollte man dann
vernichten, weil sie durch ihr Dasein eine gute Wirkung nicht nur
nicht hervorbringen, sondern das Gefühl dessen, der nichts Besseres
sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung
lenken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegenstände der
Natur geboten würden. Den Geist des Menschen, sagten die Männer,
verunreinigte falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder
Kunst. Da es dämmerte, wurden die Kupferstiche in ihre Behältnisse
getan, der Tisch wurde wieder an seine Stelle gerückt, und wir
trennten uns.

Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und der Regen schlug in
Strömen an die Fenster.

Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes
vereinigt, nur Gustav fehlte, weil er sich in seinem Zimmer noch mit
seiner Tagesaufgabe beschäftigte. Ehe wir zu dem Abendessen gingen,
zeichnete mein Gastfreund noch den Stand der naturwissenschaftlichen
Geräte, welche sich auf Luftdruck, Feuchtigkeit, Wärme, Electricität
und dergleichen bezogen, in seine Bücher, und dann ging er durch
das ganze Haus und besah den Verhalt der Dinge in demselben, die
geförderten Arbeiten der Hausleute, ihr jetziges Tun und den
allfälligen Einfluß des heutigen stürmischen Wetters.

Bei dem Abendessen wurde, nachdem man die Nahrungsbedürfnisse in
kurzer Zeit gestillt und heitere Gespräche geführt hatte, noch aus
einem Buche vorgelesen, das damal neu war. Es betraf größtenteils
die Geschichte des Seidenbaues und der Seidenweberei, und besonders
wurde der Abschnitt behandelt, wie dieses Gewerbe aus dem fernsten
Morgenlande nach Syrien, nach Arabien, Egypten, Byzanz, dem
Peloponnes, nach Sicilien, Spanien, Italien und Frankreich gekommen
sei. Mein Gastfreund behauptete, daß in der Anfertigung von jenen
Prachtstoffen, die aus Seide und Gold oder Silber bestanden, was die
Feinheit und Zartheit des Gewebes, was dessen Weichheit, verbunden
mit mildem Glanze, gegen den die heutigen Stoffe dieser Art, in ihrer
Steifheit und in ihrem harten Schimmer stark abstehen, und was endlich
den Schwung, die feine Zierlichkeit und die reiche Einbildungskraft
in den Zeichnungen betrifft, die Zeit des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts den späteren Zeiten und besonders der unsrigen weit
vorzuziehen sei. Er habe zu spät angefangen, diesem Zweige des
Altertumes, der beinahe ein Zweig der Kunst sei, seine Aufmerksamkeit
zu widmen. Eine Sammlung solcher Stoffe müßte merkwürdig sein, er
könne aber keine mehr anlegen, da sie Reisen durch ganz Europa, ja
durch nicht unbedeutende Teile von Asien und Afrika voraussetze
und wahrscheinlich die Kräfte eines einzelnen Mannes überschreite.
Gesellschaften oder der Staat könnten solche Sammlungen zur
Vergleichung, zur Belehrung, ja zur Bereicherung der Geschichte
selber zu Stande bringen. In reichen Abteien, in den Kleiderschreinen
alter berühmter Kirchen, in Schatzkammern und andern Behältnissen
königlicher Burgen und größerer Schlösser dürfte sich Vieles finden,
was dort zu entbehren wäre und in einer Sammlung Sprache und Bedeutung
gewänne. Wie viel müßte nach den Kreuzzügen aus dem Morgenlande nach
Europa gekommen sein, da selbst einfache Ritter mit dort gewonnener
Beute an Gold und kostbaren Stoffen in die Heimat zurückgekehrt seien
und sich Prunk außer bei kirchlichen Feierlichkeiten, Krönungen,
Aufzügen, Kampfspielen auch im gewöhnlichen Verkehre mehr eingefunden
hatte, als er früher gewesen war. Wie müßte dieser Zweig auch ein
Licht auf die mit seinem Blühen ganz gleich laufende Zeit werfen,
in welcher jene merkwürdigen Kirchen gebaut wurden, deren erhabene
Überbleibsel noch heute unsere Bewunderung erregen, wie müßte er
auch eine Beziehung eröffnen zur Verzierungskunst jener Zeit in
Steinmetzarbeit, in Elfenbein- und Holzschnitzerei, ja zum Beginne der
später blühenden großen Malerschulen in dem Norden und Süden Europas,
und wie müßte er sogar auf Gedanken über Anschauungsweise der Völker,
ihre Verbindungen und ihre Handelswege leiten. Tun das ja auch Münzen,
tun es Siegel und andere, diesen untergeordnete Dinge. Roland sagte,
er wolle nun solche Stoffe zu sammeln suchen.

Wir gingen an jenem Abende später auseinander als gewöhnlich.

Am anderen Morgen, als ich aufgestanden war und das beginnende Licht
einen Ausblick durch die Fenster gestattete, sah ich frischen Schnee
über alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das
Glas der Fenster spielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Kälte mußte gestiegen sein.

Wir machten an diesem Tage alle zusammen einen ziemlich großen
Spaziergang. Im Garten wurde herumgegangen, ob etwas zu richten sei,
die Gewächshäuser wurden besucht, in dem Meierhofe wurde nachgesehen
und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte,
weiter gelesen. Der Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert,
dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorscheine.

Wie diese zwei Tage vergangen waren, so vergingen nun mehrere,
und mein Gastfreund begann nicht, seine Mitteilungen, welche er
versprochen hatte, zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in
seiner Wohnung bei seinen Arbeiten zubrachte, manche Gänge durch die
Gegend gemacht, was um so angenehmer war, als nach den stürmischen
Tagen bei meiner Ankunft sich heiteres, stilles und kaltes Wetter
eingestellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Gesellschaft meines
Gastfreundes, ich sah ihm zu, wenn er seine Vögel vor dem Fenster
fütterte oder wenn er für Ernährung der Hasen außerhalb der Grenze
seines Gartens sorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen
war, doppelt notwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem
Schlitten gemacht, um Nachbarn zu besuchen, Manches zu besprechen oder
die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal war ich mit meinem
Gastfreunde zu einer Brücke gefahren, die er mit mehreren Männern
beschauen sollte, weil man vorhatte, sie im Frühlinge neu zu bauen -
man hatte meinen Gastfreund nicht verschont und ihn mit Gemeindeämtern
betraut -, mehrere Male waren wir in verschiedenen Teilen der Wälder
gewesen, um bei dem Fällen der Hölzer nachzusehen, welche zum Bauen
und zur Verarbeitung in dem Schreinerhause verwendet werden sollten,
welche Fällung in dieser Jahreszeit vor sich gehen mußte; wir waren
auch einmal im Inghofe gewesen und hatten die dortigen Gewächshäuser
besehen. Der Hausverwalter und der Gärtner hatten uns bereitwillig
und freundlich herum geführt. Der Herr des Besitztums war mit seiner
Familie in der Stadt.

Eines Tages kam mein Gastfreund in meine Wohnung, was er öfter tat,
teils um mich zu besuchen, teils um nach zu sehen, ob es mir nicht an
etwas Notwendigem gebreche. Nachdem das Gespräch über verschiedene
Dinge eine Weile gedauert hatte, sagte er: »Ihr werdet wohl wissen,
daß ich der Freiherr von Risach bin.«

»Lange wußte ich es nicht«, antwortete ich, »jetzt weiß ich es schon
eine geraume Zeit.«

»Habt ihr nie gefragt?«

»Ich habe nach der ersten Nacht, die ich in eurem Hause zugebracht
habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr
seiet der Aspermeier. An demselben Tage forschte ich auch in weiterer
Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Später habe ich nie mehr
gefragt.«

»Und warum habt ihr denn nie gefragt?«

»Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus schloß ich, daß ihr nicht für
nötig hieltet, mir euren Namen zu sagen, und daraus zog ich für mich
die Maßregel, daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch nicht
fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht.«

»Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn«, antwortete
er, »weil es bei uns gebräuchlich ist, den Besitzer eines Gutes nach
dem Gute, nicht nach seiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in
Hinsicht aller Besitzer bei dem Volke fort, dieser ändert sich bei
einer Änderung des Besitzstandes, und da mußte das Volk stets wieder
einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend ist. Einige
Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgänger geheißen
hat.«

»Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen nennen gehört«, sagte
ich.

»Ihr werdet dann auch wissen, daß ich in Staatsdiensten gestanden
bin«, erwiderte er.

»Ich weiß es«, sagte ich.

»Ich war für dieselben nicht geeignet«, antwortete er.

»Dann sagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher über euch gehört
habe, widersprechen. Sie loben eure Staatslaufbahn insgesammt«,
erwiderte ich.

»Sie sehen vielleicht auf einige einzelne Ergebnisse«, antwortete er,
»aber sie wissen nicht, mit welchem Ungemache des Entstehens diese aus
meinem Herzen gekommen sind. Sie können auch nicht wissen, wie die
Ergebnisse geworden wären, wenn ein Anderer von gleicher Begabung,
aber von größerer Gemütseignung für den Staatsdienst, oder wenn gar
einer von auch noch größerer Begabung sie gefördert hätte.«

»Das kann man von jedem Dinge sagen«, erwiderte ich.

»Man kann es«, antwortete er, »dann soll man aber das, was nicht
gerade mißlungen ist, auch nicht sogleich loben. Hört mich an. Der
Staatsdienst oder der Dienst des allgemeinen Wesens überhaupt, wie er
sich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große Zahl von Personen. Zu
diesem Dienste wird auch von den Gesetzen eine gewisse Ausbildung und
ein gewisser Stufengang in Erlangung dieser Ausbildung gefordert und
muß gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden ist,
daß einer nach Vollendung der geforderten Ausbildung und ihres
Stufenganges sogleich im Staatsdienste Beschäftigung finden und daß
er in einer entsprechenden Zeit in jene höheren Stellen empor rücken
werde, welche einer Familie einen anständigen Unterhalt gewähren,
widmen sich mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn. Aus der
Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeschriebenen Bildungsweg
zurückgelegt haben, wählt der Staat seine Diener und muß sie im Ganzen
daraus wählen. Es ist wohl kein Zweifel, daß auch außerhalb dieses
Kreises Männer von Begabung für den Staatsdienst sind, von großer
Begabung, ja von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann
sie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre Begabung durch
besondere Zufälle zur Erscheinung gelangt und mit dem Staate in
Wechselwirkung gerät, nicht wählen, weil er sie nicht kennt und weil
das Wählen ohne nähere Kenntnis und ohne die vorliegende Gewähr der
erlangten vorgeschriebenen Ausbildung Gefahr drohte und Verwirrung und
Mißleitung in die Geschäfte bringen könnte.

Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben,
beschaffen sind, so muß sie der Staat nehmen. Oft sind selbst große
Begabungen in größerer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer,
oft ist im Durchschnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf diese
Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die
Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes
mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur
Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen
Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder
geringere einzelne Kräfte abwechselnd auf die einzelnen Stellen
gelangen, in denen sie tätig sind. Ich könnte ein Beispiel gebrauchen
und sagen, jene Uhr wäre die vortrefflichste, welche so gebaut
wäre, daß sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile verändert würden,
schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer
kämen. Aber eine solche Uhr dürfte kaum möglich sein. Der Staatsdienst
mußte sich aber so möglich machen oder sich nach der Entwicklung,
die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, daß die
Fassung des Dienstes eine strenge sein muß, daß es nicht erlaubt sein
könne, daß ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung
als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja daß sogar mit Rücksicht auf
die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet
werden muß, als man es, von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun
könnte. Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemütes, abgesehen
von den andern Fähigkeiten, besteht nun auch in wesentlichen Teilen
darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist,
ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man
Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen
zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen und daß man dann
dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letztere
tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute
Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an,
freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wissen, zwei
Eigenschaften, die dem Gesagten geradezu entgegen standen. Ich war
erstens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild
dessen, was ich tun sollte, selbst und vollführte es auch gerne mit
meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich schon als Kind, wie
meine Mutter erzählte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen
lieber nahm als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerspenstig
war, daß man mich als Knaben und Jüngling ungehorsam und eigensinnig
nannte, und daß man in meinen Männerjahren mir Starrsinn vorwarf. Das
hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gründe und
hohe Triebfedern unterstützt gegeben wurde, dasselbe als mein Eigenes
aufnahm und mit der tiefsten Begeisterung durchführte. Das habe ich
einmal in meinem Leben gegen meine stärkste Neigung, die ich hatte,
getan, um der Ehre und der Pflicht zu genügen. Ich werde es euch
später erzählen. Daraus folgt, daß ich eigensinnig in der Bedeutung
des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt, nicht gewesen bin und es auch
im Alter, in dem man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin.
Eine zweite Eigenschaft von mir war, daß ich sehr gerne die Erfolge
meiner Handlungen abgesondert von jedem Fremdartigen vor mir haben
wollte, um klar den Zusammenhang des Gewollten und Gewirkten
überschauen und mein Tun für die Zukunft regeln zu können. Eine
Handlung, die nur gesetzt wird, um einer Vorschrift zu genügen oder
eine Fassung zu vollenden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß
ich Taten, deren letzter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war,
nur lässig zu vollführen geneigt war, während ich Handlungen, wenn ihr
Ziel auch sehr schwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen
war, mit Eifer und Lust zu Ende führte, sobald ich mir nur den
Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen
konnte. Im ersten Falle vermochte ich es mir nur durch die
Vorstellung, daß der Zweck wenn auch dunkel, doch ein hoher sei,
abzuringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber
immer zum Eilen geneigt war, weshalb man mich auch ungeduldig schalt:
im zweiten Falle gingen die Kräfte von selber an das Werk, und es
wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwendung aller gegebenen Zeit
zu Stande gebracht, weshalb man mich auch wieder hartnäckig nannte.
Ihr werdet in diesem Hause Dinge gesehen haben, aus denen euch klar
geworden ist, daß ich Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann.
Sonderbar ist es überhaupt und dürfte von größerer Bedeutung sein, als
man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weitaussichtigkeit der
Pläne wächst, man denkt an Dinge, die unabsehliche Strecken jenseits
alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht tut, und das
Alter setzt mehr Bäume und baut mehr Häuser als die Jugend. Ihr seht,
daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum
Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und
Sachen ist, und das Geschick zu einer tätigen Einreihung in ein Ganzes
und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Gesichtskreise liegen,
was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung ist. Ich
wollte immer am Grundsätzlichen ändern und die Pfeiler verbessern,
statt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die
Zwecke allein entwerfen und wollte jede Sache so tun, wie sie für sich
am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen und ohne zu beachten, ob
nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke gerissen werde, die mehr
schadet als mein Erfolg nützt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als
ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß ich sie und mich
kannte, und ich ging in derselben fort, so weit ich konnte, weil ich
einmal in ihr war und mich schämte, meine Pflicht nicht zu tun. Wenn
einiges Gute durch mich zu Stande kam, so rührt es daher, daß ich
einerseits in Betrachtung meines Amtes und seiner Gebote meinen
Kräften eine mögliche Tätigkeit abrang und daß andererseits die
Zeitereignisse solche Aufgaben herbei führten, bei denen ich die Pläne
des Handelns entwerfen und selber durchführen konnte. Wie tief aber
mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur
entgegengesetzt sind, begriffen war, das kann ich euch jetzt kaum
ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande gewesen, es auszudrücken.
Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein,
wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat,
schwimmen muß. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine
Ämter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn notwendig sei, daß sich in
der Gliederung des Staatsdienstes eine so große Anzahl von Personen
befinde, und ob man nicht einen Teil der allgemeinen Geschäfte, wie
sie jetzt sind, zu besonderen Geschäften machen und sie besonderen
Körperschaften oder Personen, die sie hauptsächlich angehen,
überlassen könnte, wodurch eine größere Übersicht in den Staatsdienst
käme und wodurch es möglich würde, daß sich hervorragende Begabungen
mehr im Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemeinem Besten
geltend machen könnten: so antworte ich: diese Frage ist allerdings
eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der größten
Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren
Einzelnheiten dürfte eine der schwersten Aufgaben sein, und ich
getraue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich diese richtige
Beantwortung zu geben im Stande wäre. Auch liegt dieser Gegenstand
unserem heutigen Gespräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal
von ihm reden, so weit wir im Urteile über ihn zu kommen vermögen.
Das ist gewiß: wenn auch im gegenwärtigen Staatsdienste Veränderungen
notwendig sein sollten, und wenn die Veränderungen in dem früher
angeführten Sinne vor sich gehen werden, so hat der gegenwärtige
Zustand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat so wie
jedes menschliche Ding und die Erde selbst unterworfen ist, sein
Recht, er ist ein Glied der Kette und wird seinem Nachfolger so
weichen, wie er selber aus seinem Vorläufer hervor gegangen ist. Wir
haben schon vielmal über Lebensberuf gesprochen, und daß es so schwer
ist, seine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre
Richtung vorzeichnen, das heißt, einen Lebensweg wählen muß. Wir
hatten bei unsern Gesprächen hauptsächlich die Kunst im Auge, aber
auch von jeder andern Lebensbeschäftigung gilt dasselbe. Selten sind
die Kräfte so groß, daß sie sich der Betrachtung aufdrängen und
die Angehörigen eines jungen Menschen zur Ergreifung des rechten
Gegenstandes für ihn führen, oder daß sie selber mit großer Gewalt
ihren Gegenstand ergreifen. Ich hatte außer den Eigenschaften meines
Geistes, die ich euch eben darlegte, noch eine besondere, deren
Wesenheit ich erst sehr spät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen
Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind.
Bloße Beziehungen und Verhältnisse sowie die Abziehung von Begriffen
hatten für mich wenig Wert, ich konnte sie in die Versammlung der
Wesen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich
allerlei Dinge aneinander und gab dem so Entstandenen den Namen einer
Ortschaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine
Gerte, einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab
ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter,
die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältnissen,
von denen ich sprach, gab ich Gestalten und konnte sie mir merken.
So erinnere ich mich noch jetzt, daß ich als Kind öfter das Wort
Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntisch, dessen
Plattenteile durch dunkelfarbige Holzkeile an einander gehalten
wurden. Der Querschnitt dieser Keile kam als eine dunkle Gestalt an
der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vorscheine, und diese
Gestalt hieß ich die Kriegswerbung. Diese sinnliche Regung, die wohl
alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher
und stärker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares
hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Gräsleins, an dem
Knospen der Gesträuche, an dem Blühen der Gewächse, an dem ersten
Reife, der ersten Schneeflocke, an dem Sausen des Windes, dem Rauschen
des Regens, ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fürchtete.
Ich ging zusehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine
Hütte gezimmert, ein Brett angenagelt wurde. Ja, die Worte, die einen
Gegenstand sinnlich vorstellbar bezeichneten, waren mir weit lieber
als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beispiele traf
es mich viel mächtiger, wenn jemand sagte: der Graf reitet auf dem
Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem
Rotstifte Hirsche, Reiter, Hunde, Blumen, mit Vorliebe aber Städte,
von denen ich ganz wunderbare Gestalten zusammensetzte. Ich machte aus
feuchtem Lehm Palläste, aus Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne
diesen Trieb Schaffungslust. Er ist bei vielen Menschen mehr oder
minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat die Bewahrungslust,
von der der Geiz eine häßliche Abart ist. Selbst in späteren Jahren
trat diese Lust nicht zurück. Da ich einmal an unserem schönen Strome
zu wohnen kam und im ersten Winter zum ersten Male das Treibeis sah,
konnte ich mich nicht satt sehen an dem Entstehen desselben und
an dem gegenseitigen Anstoßen und Abreiben der mehr oder minder
runden Kuchen. Selbst in den nächstfolgenden Wintern stand ich oft
stundenlange an dem Ufer und sah den Eisbildungen zu, besonders der
Entstehung des Standeises. Das, was Vielen so unangenehm ist, das
Verlassen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir
Lust. Mich freute das Einpacken, das Auspacken und die Instandsetzung
der neuen Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere Seite dieses
Triebes hervor. Ich liebte nicht bloß Gestalten, sondern ich liebte
schöne Gestalten. Dies war wohl auch schon in dem Kindertriebe
vorhanden. Rote Farben, sternartige oder vielverschlungene Dinge
sprachen mich mehr an als andere. Es kam aber diese Eigenschaft damals
weniger zum Bewußtsein. Als Jüngling begehrte ich die Gestalten wie
sie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunst hervor gehen, als
Flächen, Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefühle in
der Musik, der menschlich sittlichen und der irdisch merkwürdigen
Zustände in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Gestalten mit
Wärme hin und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich sind im Leben.
Felsen, Berge, Wolken, Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die
entgegengesetzten verachtete ich. Menschen, menschliche Handlungen und
Verhältnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stießen
mich ab. Es war, ich erkannte es spät, im Grunde die Wesenheit eines
Künstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfüllung heischte. Ob
ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künstler geworden wäre, weiß ich
nicht. Ein großer aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem
Vermuten doch die Begabung durchgebrochen wäre und ihren Gegenstand
ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr
bloß die Anlage des Kunstverständnisses, was sich offenbarte, als die
der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die
Kräfte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher
hinderlich als förderlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten
sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine
Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der
Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der
Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht
Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen
eine Gestalt leihen mußte, um sie halten zu können, so habe ich oft in
gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen,
um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere
handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht
und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. Auch habe ich
nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres
Staates allein als das höchste Gesetz und die Richtschnur meiner
Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an
sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen, streitigen
Ansprüchen und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht
auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich
forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder
werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten,
ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind. Diese meine
Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel
zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht.
Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so
hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer
Natur gegründet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir
vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung
geschützt waren, unserem Staate einen größeren Nutzen, als wenn
wir früher den einseitigen angestrebt hätten, und ich erhielt
Ehrenzeichen, Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der
schweren Arbeit eine Ruhezeit hatte und auf einer kleinen Reise die
erhabene Gestalt eines Berges sah oder eine Hügelreihe sich türmender
Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder den
schlanken Körper eines Jünglings auf einem schönen Pferde - oder wenn
ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden stand, deren ich
damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsäule, so
verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres,
als wäre es in seine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künstlerisches
Gestaltungsvermögen in mir war, so war es das eines Baumeisters oder
eines Bildhauers oder auch noch das eines Malers, gewiß aber nicht das
eines Dichters oder gar eines Tonsetzers. Die ersteren Gegenstände
zogen mich immer mehr an, die letzteren standen mir ferner. Wenn es
aber mehr eine Kunstliebe war, was sich in mir äußerte, nicht eine
Schöpfungskraft, so war es immerhin auch ein Vermögen der Gestalten,
aber nur eines, die Gestalten aufzunehmen. Wenn diese Art von
Eigentümlichkeit den Besitzer zunächst beglückt, wie ja jede Kraft,
selbst die Schaffungskraft, zuerst ihres Besitzers willen da ist,
so bezieht sie sich doch auch auf andere Menschen, wie in zweiter
Hinsicht jede Kraft, selbst die eigenste eines Menschen, nicht in ihm
verschlossen bleiben kann, sondern auf andere übergeht. Es ist eine
sehr falsche Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große
Kunstwerk auf seine Zeit eine große Wirkung hervorbringen müsse, daß
ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervor bringt, auch ein
großes Kunstwerk sei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wirkung
ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein
Teil der Menschheit, ein Volk, rein und gesund am Leibe und an der
Seele ist, wenn seine Kräfte gleichmäßig entwickelt, nicht aber nach
einer Seite unverhältnismäßig angespannt und tätig sind, so nimmt
dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein
Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten
Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen und
hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so
hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn sie
gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen
die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen sollen, auf jene
Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise tätig sind, hinzielen, oder
sie müssen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem
solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. Daher rührt
die Erscheinung, daß edle Werke der Kunst ein Zeitalter rühren und
begeistern können, und daß dann ein Volk kömmt, dem sie nicht mehr
sprechen. Sie verhüllen ihr Haupt und harren bis andere Geschlechter
an ihnen vorüber wandeln, die wieder reines Sinnes sind und zu ihnen
empor blicken. Diesen lächeln sie und von diesen werden sie wieder wie
herübergerettete Heiligtümer in Tempel gebracht. In entarteten Völkern
blüht zuweilen, aber sehr selten, ein reines Werk wie ein vereinsamter
Strahl hervor, es wird nicht beachtet und wird später von einem
Menschenforscher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber
der Dienst der Kunst leichter werde, sind in jedem Zeitalter solche,
denen ein tieferer Sinn für Kunstwerke gegeben ward, sie sehen mit
klarerem Auge in ihre Teile, nehmen sie mit Wärme und Freude in
ihr Herz und übergeben sie so ihren Mitmenschen. Wenn man die
Erschaffenden Götter nennt, so sind jene die Priester dieser Götter.
Sie verzögern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunstdienst zu
verfallen beginnt, und sie tragen, wenn es nach der Finsternis wieder
hell werden soll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein solcher war,
wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst
und der Schöpfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt
haben, Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude, Erkenntnis und
Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu übertragen, so war
mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und
dürftige Spätblüten können den Sommer, dessen kräftige Lüfte und warme
Sonne unbenutzt vorüber gingen, nicht ersetzen. Es ist traurig, daß
man sich nicht so leicht den Weg, der der vorzüglichste in jedem Leben
sein soll, wählen kann. Ich wiederhole, was wir oft gesagt haben und
womit euer ehrwürdiger Vater auch übereinstimmt, daß der Mensch seinen
Lebensweg seiner selbst willen zur vollständigen Erfüllung seiner
Kräfte wählen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Besten, wie
er nur immer dienen kann. Es wäre die schwerste Sünde, seinen Weg nur
ausschließlich dazu zu wählen, wie man sich so oft ausdrückt, der
Menschheit nützlich zu werden. Man gäbe sich selber auf und müßte in
den meisten Fällen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben. Aber
was ist es mit der Wahl? Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse sind
so geworden, daß zur Befriedigung unserer stofflichen Bedürfnise ein
sehr großer Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe sie sich
selber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb
dessen, was sie zur Befriedigung der angeführten Bedürfnisse brauchen,
sichern. Von einem Berufe ist da nicht die Rede. Das ist schlimm,
sehr schlimm, und die Menschheit wird dadurch immer mehr eine Herde.
Wo noch eine Wahl möglich ist, weil man nicht nach sogenanntem
Broderwerbe auszugehen braucht, dort sollte man sich seiner Kräfte
sehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wirkungskreis zuteilt. Aber
muß man nicht in der Jugend wählen, weil es sonst zu spät ist? Und
kann man sich in der Jugend immer seiner Kraft bewußt werden? Es ist
schwierig, und mögen, die beteiligt sind, darüber wachen, daß weniger
leichtsinnig verfahren werde. Lasset uns über diesen Gegenstand
abbrechen. Ich wollte euch das, was ich gesagt habe, sagen, ehe ich
euch erzähle, wie ich mit den Angehörigen eurer künftigen Braut
zusammenhänge. Ich sagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand
beurteilen könnt, auf dem ich nun stehe. Wir wollen zur Fortsetzung
eine andere Zeit bestimmen.«

Nach diesen Worten ging das Gespräch auf andere Gegenstände über, wir
machten dann auch einen Spaziergang, dem sich auch Gustav zugesellte.



Der Rückblick

Ohne daß ich eine nähere oder entferntere Aufforderung oder Bitte
gemacht hätte, fuhr mein Gastfreund nach Verlauf eines Tages in seinen
Mitteilungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in meinem Zimmer
zubringen dürfe, und ich hatte es begreiflicher Weise bejaht. Wir
saßen an einem angenehmen und stillen Feuer, das von sehr großen und
dichten Buchenklötzen unterhalten wurde, er lehnte sich in seinem
Polsterstuhle zurück und sagte: »Ich möchte, wenn es euch genehm ist,
heute meine Mitteilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge getragen,
daß wir nicht gestört werden, ihr dürft nur sagen, ob ihr mich hören
wollt.«

»Ihr wißt, daß es mir nicht nur angenehm, sondern auch meine Pflicht
ist«, antwortete ich.

»Zuerst muß ich von mir erzählen«, begann er, »es dürfte so notwendig
sein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde
geboren worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht mehr so viel
zu bedeuten hat, als er sagt. Einmal war er wie über die ganze Gegend,
welche von unserem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht,
auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals
nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen
Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jetzt sind Felder, Wiesen und
Weiden über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reste der alten
Waldungen schauen ernst auf diese Gründe herab. Das Haus meines Vaters
stand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch
frei genug, um auf Wiesen, Felder, Gärten und im Süden auf ein sehr
schönes blaues Waldband zu sehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren
war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend und konnte
sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine,
ich kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten und war in allen
benachbarten Orten schon gewesen, die sie berühren. Ich kannte
alle Hunde von Dallkreuz, wußte, welche Farben sie hatten, wie sie
hießen und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die
Gesträuche, unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken
däuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden
geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte
noch eine Schwester, welche meine Knabenfahrten mit mir machen
mußte. Zu unserem Hause, das nur ein Erdgeschoß hatte, welches aber
schneeweiß war und weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wiesen,
Felder und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch Knechte verwalten,
er selber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf
vielfache Reisen führte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem
Erben dieser Dinge bestimmt, sollte aber vorher auf einer Lehranstalt
die notwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als dessen
Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, gestorben waren, keine
Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt
hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil sie als von
einem wohlhabenden Hause stammend eine Verbindung unter ihrem Stande,
wie er sich ausdrückte, geschlossen hatte, zerfallen war und durch
nichts versöhnt werden konnte. Wir wußten nichts von ihm, man vermied
es, seiner Erwähnung zu tun, und oft in einem ganzen Jahre wurde sein
Name nicht genannt. Die Zustände meines Vaters aber blühten empor,
und er war fast der Angesehenste in der Gegend. In dem Jahre, nach
dessen Ende ich in die Lehranstalt abgehen sollte, trafen mehrere
Unglücksfälle ein. Hagelschaden verwüstete die Felder, ein Teil des
Gebäudes brannte ab, und als das alles wieder hergestellt und in
das Geleise gebracht worden war, starb der Vater eines plötzlichen,
unvorhergesehenen Todes. Ein lässiger Vormund, hinterlistige
Handelsfreunde, welche zweifelhafte Forderungen stellten, und ein
unglücklicher Prozeß, der daraus entsprang, brachten für die Mutter
eine Lage herbei, in welcher sie mit Sorgen für unsere Zukunft zu
kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte,
auf das Notdürftigste beschränkt. Ich mußte im Herbste das geliebte
Haus, das geliebte Tal und die geliebten Angehörigen verlassen. Mit
ärmlicher Ausstattung ging ich an der Hand eines größeren Schülers zu
Fuß den ziemlich weiten Weg in die Lehranstalt. Dort gehörte ich zu
den Dürftigsten. Aber die Mutter sandte das, was sie senden konnte,
so genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel, aber doch das zum
Bestehen Nötige hatte. Es war an der Anstalt Sitte, daß die Knaben
in den höheren Abteilungen denen in den niedreren außerordentlichen
Unterricht erteilten und dafür ein Entgelt bekamen. Da ich einer der
besten Schüler war, so wurden mir in meinem vierten Lehrjahre schon
einige Knaben zum Unterrichten zugeteilt, und ich konnte der Mutter
die Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir
bereits so viel, daß ich meinen ganzen Unterhalt selbst bestreiten
konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schwester in
dem weißen Hause zu. Von dem Antreten des Hauses als Erbschaft war
nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntnisse
eine Stellung verschaffen und das Haus und den Grundbesitz einmal als
Notpfennig der Schwester überlassen. So war die Zeit heran gekommen,
in welcher ich mich für einen Lebensberuf entscheiden mußte. Die
damals übliche Vorbereitungsschule, die ich eben zurückgelegt hatte,
führte nur zu einigen Lebensstellungen und machte zu andern eher
untauglich als tauglich. Ich entschloß mich für den Staatsdienst, weil
mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jetzigen Kenntnissen
emporsteigen konnte, noch weniger zusagten. Meine Mutter konnte mir
mit keinem Rate beistehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch
außerordentliche Sparsamkeit zusammengelegt. Mit diesem und tausend
Segenswünschen der Mutter versehen und mit den Abschiedstränen der
geliebten Schwester benetzt begab ich mich auf die Reise in die Stadt.
Zu Fuße wanderte ich durch unser Tal hinaus, und suchte durch allerlei
Betrachtungen die Tränen zu ersticken, welche mir immer in die Augen
steigen wollten. Als unsere Wäldergestalten hinter mir lagen, als
die Herbstsonne schon auf ganz andere Felder schien, als ich durch
meine Jugend hindurch gesehen hatte, wurde mein Gemüt nach und nach
leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir jeder, der
mir begegnete, ansehen könne, daß mir das Weinen so nahe sei. Die
Entschlossenheit, welche mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu
gehen und dort mein Heil in dem Berufe eines Staatsdieners zu suchen,
ließ mich immer fester und rascher meinen Weg verfolgen und tausend
glänzende Schlösser in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande
angekommen war, wo unser höheres Land in großen Absätzen gegen den
Strom hinabgeht und ganz andere Gestaltungen anfangen, sah ich
noch einmal um, segnete das Mutterherz, das nun beinahe schon eine
Tagereise weit hinter mir lag, streichelte gleichsam mit den Fingern
die schönen, langwimperigen Augenlider der Schwester, die immer etwas
blaß aussah, segnete unser weißes Haus mit dem roten Dache, segnete
all die Felder und Wäldchen, die hinter mir lagen und die ich
durchwandelt hatte, und stieg, nun wirklich schwere Tränen in den
Augen tragend, in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter
hohem Laubdache hingehend einen der Pässe ausmachte, die das rauhere
Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem
ich drei Schritte gemacht hatte, die Gestaltungen meines Geburtslandes
nicht mehr sehen, nur sein Rand war alles, was meine Augen erreichen
konnten und was mich noch lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen
lagen vor mir. Es war mir, ich müsse umkehren, um nur noch einmal
zurück schauen zu können. Ich tat es aber nicht, weil ich mich vor mir
selber schämte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter
und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts verzögern, wenn ich
vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte,
auf dem mich am andern Morgen ein Schiff weiter tragen sollte. Die
herbstliche Abendsonne spielte durch die Zweige, manche Kohlmeise ließ
einen Ruf erschallen, wie ihn die hatten erschallen lassen, welche
jetzt noch in meinen heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher
Fuhrmann, mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernstem Herzen
weiter, und als die Sonne untergegangen war, hörte ich das Rauschen
des Stromes, der mir nun so wichtig geworden war, und sah sein
goldenes abendliches Glänzen.«

»Ich vergesse mich«, unterbrach sich hier mein Gastfreund, »und
erzähle euch Dinge, die nicht wichtig sind; aber es gibt Erinnerungen,
die, wie unbedeutende Gegenstände sie auch für Andere betreffen, doch
für den Eigentümer im höchsten Alter so kräftig dastehen, als ob sie
die größte Schönheit der Vergangenheit enthielten.«

»Ich bitte euch«, entgegnete ich, »fahret so fort und entzieht mir
nicht die Bilder, die euch aus früheren Zeiten übrig sind, sie gehen
schöner in das Gemüt und verbinden leichter, was verbunden werden
soll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher Schatten gegeben
werden sollte. Auch ist meine Zeit, wenn anders die eurige nicht
strenger zugemessen ist, kein Hindernis, daß ihr mir irgend etwas
vorenthalten solltet.«

»Meine Zeit«, antwortete er, »ist entweder so gemessen, daß ich nichts
Anderes tun sollte, als auf mein Ende sehen, oder daß ich über sie
verfügen kann, wie ich will; denn was sollte ein so alter Mann noch
Ausschließliches zu tun haben? Er mag für die paar Stunden, die
ihm übrig sind, noch Blumen zurecht legen, wie er will. Ich tue ja
eigentlich hier auf dieser Besitzung nichts anders. Auch dürfte das,
was ich euch sagen will, für euch nicht ganz unwichtig sein, wie sich
wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre daher fort, wie sich oben
unter den Worten die Erzählung gibt.«

»Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer, und der erste Morgen
sah mich auf einem jener rohen, kleinen Schiffe, wie sie damals mit
verschiedenen Gütern beladen unsern Strom abwärts befuhren, und auch
Menschen mit sich nahmen. Mehrere junge Leute, die entweder ganz
gleichen oder ähnlichen Beruf mit mir verfolgten, standen auf dem
Verdecke und legten sogar manches Mal Hand an die Ruder, da unser
Schiff auf dem breiten, rauschenden Strome sich abwärts bewegte und
die kleine Stadt, die uns Nachtherberge gegeben hatte, sich aus den
Morgennebeln ringend unsern Augen immer weiter und weiter zurück trat.
Manches Lied, mancher Spruch, der aus der Schar meiner Begleiter
hervortrat, machte seine Wirkung auf mich, und ich wurde stärker und
entschlossener.«

»Als am Abende des zweiten Tages unserer Wasserfahrt der hohe schlanke
Turm der Stadt, deren Miteinwohner ich nun werden sollte, gleichsam
luftig blau unter den Gebüschen der Ufer sichtbar wurde, als man sich
rief und das Zeichen sich zeigte, das man nun nach Verlauf von etwas
mehr als einer Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Busen
wieder unruhiger pochen. Dieses Merkmal vergangener Menschenalter,
dachte ich, welches so viele große und gewaltige Schicksale gesehen
hatte, wird nun auch auf dein kleines Geschick herabsehen, es mag sich
nun gut oder übel abspinnen, und wird, wenn es längstens abgelaufen
ist, wieder auf Andere schauen. Wir fuhren rascher zu, weil alles
hoffnungsvoll die Ruder führte, die Entschloßneren sangen ein Lied,
und ehe noch die Stunde um war, legte unser Schiff an der steinernen
Einfassung des Flusses im Angesichte sehr großer Häuser an. Ein
älterer Schüler, der schon zwei Jahre in der Stadt zugebracht hatte
und jetzt von den bei seinen Eltern verlebten Ferien zurückkehrte,
erbot sich, mir einen Gasthof zur Unterkunft zu zeigen und mir morgen
zur Auffindung eines Wohnzimmerchens für mich behilflich zu sein. Ich
nahm es dankbar an. Unter dem Torwege des Gasthofes, in den er mich
geführt hatte, nahm er Abschied von mir und versprach, mich morgen
mit Tagesanbruch zu besuchen. Er hielt Wort, ehe ich angekleidet
war, stand er schon in meinem Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag
erreichte, waren meine Sachen schon in einem Mietzimmerchen, das wir
für mich gefunden hatten, untergebracht. Er verabschiedete sich und
suchte seine wohlbekannten Kreise auf. Ich habe ihn später selten
mehr gesehen, da uns nur die Schiffahrt zusammengebracht hatte und da
seine Laufbahn eine ganz andere war als die meine. Als ich von meinem
Stübchen ausging, die Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine
sehr große Bangigkeit. Diese ungeheure Wildnis von Mauern und Dächern,
dieses unermeßliche Gewimmel von Menschen, die sich alle fremd sind
und an einander vorübereilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige
Gassen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und die
Notwendigkeit, wenn ich nach Hause wollte, mich Schritt für Schritt
durchfragen zu müssen, wirkte sehr niederdrückend auf mich, der ich
bisher immer in einer Familie gelebt hatte und stets an Orten gewesen
war, in denen ich alle Häuser und Menschen kannte. Ich ging zu dem
Vorstande der Rechtsschule, um mich für die Vorbereitungsjahre zum
Staatsdienste einschreiben zu lassen. Er nahm mich meiner trefflichen
Zeugnisse willen sehr gut auf und ermahnte mich, durch die große Stadt
mich von meinem Fleiße nicht abbringen zu lassen. Ach Gott, die große
Stadt war für mich bei meinen so kargen Mitteln nichts als ein Wald,
dessen Bäume auf mich keine Beziehung haben, und sie trieb mich durch
ihre Fremdartigkeit eher zum Fleiße an, als daß sie mich abgehalten
hätte. Am Tage der Eröffnung des Unterrichtes ging ich, der ich nun
doch schon einige auf mich bezügliche Wege wußte, in die hohe Schule.
Dort wogte ein großes Gewimmel durch einander. Alle Fächer wurden hier
gelehrt, und für alle Fächer fanden sich Schüler. Die meisten sahen
sehr begabt, gebildet und behende aus, so daß ich wieder im Glauben
an meine nur geringen Kräfte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt
halten zu können. Ich begab mich in den Lehrsaal, in den ich gehörte,
und setzte mich auf einen der mittleren Plätze. Die Lehrstunde begann
und ging vorüber, so wie nun viele nach und nach begannen und vorüber
gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch immer etwas Ungewöhnliches
für mich. Das Liebste war mir, in meinem Stübchen zu sitzen, an meine
Vergangenheit zu denken und sehr lange Briefe an meine Mutter zu
schreiben.«

»Als einige Zeit verflossen war, wuchs mir Mut und Kraft im Herzen.
Unser Lehrer, ein würdiger Rat in der Rechtsversammlung der Schule,
lehrte fragend. Ich schrieb getreulich seine Lehren in meine Hefte.
Als schon eine große Zahl meiner Mitschüler gefragt worden war, als
endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, daß ich
Vielen, die mich an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in
unserem Lehrfache nicht nachstehe, sondern einer großen Zahl vor
sei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen
Verhältnisse der Stadt würdigen, und sie wurden mir immer mehr und
mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich schon früher gekannt, da sie
vor mir von der nehmlichen Lehranstalt, in der ich bisher gewesen war,
hieher übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. Als meine
Barschaft, mit der ich sehr strenge Haus hielt, sich schon sichtlich
zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitschüler, der mein
Nachbar auf der Schulbank war und aus meinem Munde gehört hatte, daß
ich früher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, seine zwei kleinen
Schwestern zu unterrichten. Wir hatten durch die tägliche Berührung
eine Art Freundschaft geschlossen und waren einander geneigt. Als er
daher zu Hause gehört hatte, daß man für die zwei kleinen Mädchen
einen Lehrer suche, schlug er mich vor und erzählte mir auch von der
Sache. Die Eltern wollten mich sehen, er führte mich zu ihnen und ich
wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich selber nach
meiner Berechnung der Dinge getan hatte, um durch Erteilung von
Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen
bedeutenden, auf einen solchen hatte ich nicht gerechnet, aber sie
hatten doch einen. So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch
meine Umsiedlung in die große Stadt angestrebt hatte. Ich lebte jetzt
sorgenfrei, hatte in dem Hause meines Freundes, in welches ich öfter
geladen wurde, eine Gattung Familienumgang und konnte mit allem Eifer
der Erlernung meines Faches mich widmen.«

»In den ersten Ferien besuchte ich die Mutter und Schwester. Ich hatte
die besten Zeugnisse in meinem Koffer und konnte ihnen von meinen
sehr guten anderweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende
des Schuljahres hatten sich diese sehr gebessert. Mit ganz anderem
Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das
mütterliche Haus verlassen, und die Reise in die Stadt antreten.«

»Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr besuchen.
Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder
unterrichtete, sagte vielen Familien zu, man suchte mich und gab mir
auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte
mir stets etwas als Sparpfennig zurück und hatte bei der Freudigkeit
meines Gemütes über diesen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache
auch noch meine Lieblingswissenschaften Mathematik und Naturlehre zu
betreiben. Nur das Einzige war störend, daß die Familien, bei denen
ich Unterricht gab, nicht gerne sahen, daß ich durch eine Reise den
Unterricht unterbreche. Es war diese Forderung eine begreifliche, ich
blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechsel als früher
und verabredete mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung
meines Lehrganges sie wieder besuchen, dann aber einige Monate bei
ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienste ich
stand, zufrieden.«


»Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir
immer lieber. Ich gewöhnte mich daran, immer fremde Menschen in den
Gassen und auf den Plätzen zu sehen und darunter nur selten einem
Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbürgerlich,
und wie es früher mein Gemüt niedergedrückt hatte, so stählte es
jetzt dasselbe. Einen schönen Einfluß übten auf mich die großen
wissenschaftlichen und Kunsthilfsmittel, welche die Stadt besitzt.

Ich besuchte die Büchersammlungen, die der Gemälde, ich ging gerne in
das Schauspiel und hörte gute Musik. Es lebte von jeher ein großer
Eifer für wissenschaftliche Bestrebungen in mir, und ich konnte
demselben jetzt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich
bedurfte und was ich durch meine Mittel mir nicht hätte anschaffen
können, fand ich in den Sammlungen. Da ich den sogenannten
Vergnügungen nicht nachging, sondern in meinen Bestrebungen mein
Vergnügen fand, so hatte ich Zeit genug, und weil ich gesund und stark
war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich
einige schöne Gebäude, besonders Kirchen, dann Bildsäulen und Gemälde.
Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der
kleinsten Teile dieser Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche
Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen und bildete nach
und nach meinen Umgang mit Menschen etwas mehr heraus.«

»Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermählte sich meine
Schwester. Ich hatte ihren jetzigen Gatten schon früher gekannt. Er
war ein sehr guter Mann, hatte keine Leidenschaften, keine übeln
Gewohnheiten, war häuslich sogar auch tätig, hatte eine angenehme
Körpererscheinung, war aber sonst nichts mehr. Diese Vermählung hatte
mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schwester so
liebte, so war mir stets, daß sie nie einen andern Mann als den
allerherrlichsten bekommen solle. Dies war nun wohl nicht der Fall.
Die Mutter schrieb mir, daß mein Schwager seine Gattin sehr verehre,
daß er lange und treu um sie geworben und endlich ihr Herz gewonnen
habe. Sie wohnen in unserem Hause, und von da aus treibe er still und
emsig sein kleines Handelsgeschäft, das sie nähre. Ich schrieb einen
Brief entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen wünschte
und den Schwager bat, seine Gattin sehr zu lieben, zu schonen und zu
ehren; denn ich glaube, daß sie es verdiene. Die Antworten versprachen
alles, so wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines stillen
häuslichen Friedens trugen.«

»In diesen Verhältnissen kam die Zeit heran, da ich mit den letzten
Prüfungen meine Vorbereitungsjahre beendigt hatte. Ich richtete eben
mein Reisegepäcke zusammen, um der Verabredung gemäß nach langer
Trennung die Meinigen wieder zu sehen, als ein Brief von der Hand der
Schwester kam, dessen Inneres häufige Tränenspuren zeigte und der mir
sagte, daß unsere Mutter gestorben sei. Sie war vor einiger Zeit krank
geworden, man hielt das Übel nicht für gefährlich, und da man mich in
der Vorbereitung zu meinen letzten Prüfungen wußte, so wollte man mir,
um mich nicht zu stören, keine Meldung von der Krankheit zukommen
lassen. So zog es sich durch zehn Tage hin, von wo es sich rasch
verschlimmerte, und ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte. Man
konnte mir nur mehr diesen melden. Ich raffte sofort alles zusammen,
was zu einer Reise nötig schien, schrieb zwei Zeilen an einen
Freund, worin ich ihn bat, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm
bezeichnete, zu melden und mich zu entschuldigen, daß ich ohne
Abschied abreise.

Hierauf ging ich auf die Post und ließ mich einschreiben. Zwei Stunden
darnach saß ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am
Tage fuhren, obwohl ich von der letzten Post aus, an der der Weg nach
meiner Heimat ablenkte, eigene Pferde nahm und mittelst Wechsels
derselben unaufhörlich fortfuhr, so kam ich doch zu spät, um die
irdische Hülle meiner Mutter noch einmal sehen zu können. Sie ruhte
bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern, in Geräten, im Arbeitszeuge,
das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres Daseins. Ich
warf mich in eine Lehnbank und wollte in Tränen vergehen. Es war der
erste große Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des
Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können.
Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß gewesen war und ich geglaubt
hatte, ihn nicht überleben zu können, so verminderte er sich wider
meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten
wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung
mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich
daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten häuslichen Reinheit
zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und
des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt für unser Denken geworden,
und mir kam fast nicht zu Sinne, daß das je einmal anders werden
könne. Jetzt wußte ich erst, wie sehr wir sie liebten. Sie, die nie
gefordert hatte, die nie auf sich irgend eine Beziehung gemacht hatte,
die geräuschlos immer gegeben hatte, die jedes Schicksal als eine
Fügung des Himmels empfangen hatte und die in ruhigem Glauben ihre
Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der
Decke der Schollen schlummerte ihr Herz, das dort vielleicht so
ergebungsvoll schlummerte, wie es sonst in der Kammer unter der Hülle
seiner weißen Decke geschlummert hatte. Die Schwester war wie ein
Schatten, sie wollte mich trösten, und ich wußte nicht, ob sie
des Trostes nicht noch bedürftiger wäre als ich. Der Gatte meiner
Schwester war in einer gewissen Ergebung, er war stille und ging an
die Beschäftigungen seines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit das
frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus und betete
für sie zu dem Herrn des Himmels. Da ich in das Haus zurückgekehrt
war, besuchte ich alle Räume, in denen sie zuletzt geweilt hatte,
besonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles gelassen hatte,
wie es bei ihrer Erkrankung gewesen war. Der Schwager und die
Schwester boten mir an und baten mich, eine Zeit bei ihnen zu
verweilen. Ich nahm es an. In dem hinteren Teile des Hauses, den
ich immer am meisten geliebt hatte, war schon vor der Erkrankung
der Mutter ein Zimmer für mich, größtenteils durch ihre Hände,
hergerichtet worden. Dieses Zimmer bezog ich und packte darin meinen
Koffer aus. Seine zwei Fenster gingen in den Garten, die weißen
Fenstervorhänge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des
Bettes war durch ihre vorsorglichen Finger gleichgestrichen worden.
Ich getraute mir kaum, etwas zu berühren, um es nicht zu zerstören.
Ich blieb sehr lange unbeweglich in dem Zimmer sitzen. Dann ging ich
wieder durch das ganze Haus. Es schien mir gar nicht, als ob es das
wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es
erschien mir so groß und fremd. Die Wohnung, welche sich meine
Schwester und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da
gewesen, dafür war das Gemach für Vater und Mutter, das immer, auch
nach seinem Tode, noch bestanden war, verschwunden, ebenso fand ich
das Zimmer für uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien,
die ich zu Hause zugebracht hatte, noch in dem Zustande aus unserer
früheren Zeit her gesehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in
dem Gebäude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen, sah ich,
daß man schadhafte Stellen des Daches ausgebessert hatte, daß man
neue Ziegel genommen hatte und daß an den Kanten, wo sich früher die
Rundziegel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Mörtel
angewendet worden war. Dies alles tat mir wehe, obwohl es natürlich
war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde.
Jetzt aber war mein Gemüt durch den Schmerz erregt, und jetzt schien
es mir, als ob man alles Alte, auch die Mutter, aus dem Hause hinaus
gedrängt hätte.«

»Ich lebte von jetzt an still in dem Zimmer, las, schrieb, ging
täglich auf das Grab der Mutter, besuchte die Felder und manches
Wäldchen, hielt mich aber von den Menschen ferne, weil sie immer von
meinem Verluste redeten und mit den Worten in ihm stets wühlten. Das
Haus war auch sehr stille. Die Vermählten hatten noch keine Kinder,
mein Schwager, dessen Wesen friedlich und einfach war, befand sich
größten teils außer Hause, die Schwester besorgte mit der einzigen
Magd, die sie hatte, die häuslichen Geschäfte, und wenn die
Abenddämmerung kam, wurde die Tür, die gegen die Straße ging, mit
den eisernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die in den Garten
führende blieb offen, bis die Stunde zum Schlafen kam, wo sie dann
auch die Schwester mit eigenen Händen schloß. Das häusliche Glück der
zwei Ehegatten schien fest gegründet zu sein, das war eine Linderung
für meine Wunde, und ich verzieh dem Schwager, daß er nicht ein
Mann war, der durch hohe Begabung und den Schwung seiner Seele die
Schwester zu einem himmlischen Glücke emporgeführt hatte.«

»So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner Abreise ging ich noch in
unser Gerichtsamt, verzichtete dort für meine Schwester auf jeden
Erbanspruch des von unsern Eltern hinterlassenen Besitztumes und ließ
meine Rechte auf die Schwester überschreiben. So war den beiden Gatten
das Dasein, so lange es ihnen der Himmel verlieh, gesichert; ich hatte
als Erbteil den Unterricht bekommen und hoffte durch das, was er mir
an Kenntnissen eingebracht hatte und was ich mir noch erwerben wollte,
den Unterhalt meines Lebens schon zu decken. Hierauf reiste ich,
von dem Danke und von den wärmsten Wünschen für mein Wohl von der
Schwester und dem Schwager begleitet, wieder in die Stadt ab.«

»In derselben begann ich jetzt ein sehr zurückgezogenes Leben zu
führen. Ich hatte mir so viel erspart, daß ich nur einen kleinen Teil
meiner Zeit zum Unterrichtgeben verwenden mußte. Die übrige wendete
ich für mich an und verlegte mich auf Naturwissenschaften, auf
Geschichte und Staatswissenschaften. Meinen eigentlichen Beruf
ließ ich etwas außer Acht. Die Wissenschaften und die Kunst, deren
Vergnügen ich nie entsagte, füllten mein Herz aus. Ich suchte jetzt
weniger als je die Gesellschaft von Menschen auf. Die Notwendigkeit,
die Zeit der Vorbereitung zu meinem Berufe recht zu benutzen und mir
außerdem noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich schon
in früheren Jahren fast nur auf mich allein zurückgewiesen, und ich
setzte jetzt dies Leben fort.«

»Allein es dauerte nicht lange in dieser Art. Schon nach einem halben
Jahre, als ich das Grab der Mutter verlassen hatte kam mir von meinem
Schwager die Nachricht zu, daß zu den zwei Gräbern des Vaters und der
Mutter auf unserer Familienbegräbnisstätte ein drittes Grab gekommen
sei, das meiner Schwester. Sie hatte sich seit dem Tode der Mutter
nicht recht erholt, und eine unversehene Verkühlung raffte sie dahin.
Der Schwager schrieb mir, und wie ich sah, in aufrichtigem Kummer,
daß er nun ganz verlassen sei, daß er keine Freude mehr habe, daß er
einsam sein Leben zubringen wolle, daß er wohl von der Verewigten zum
Erben eingesetzt worden sei, daß er aber gerne mit mir teilen wolle,
er habe kein Kind, seine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht
mehr viel auf Besitzungen, sein Stückchen Brod, welches für sein
einfaches Leben recht klein sein dürfe, werde er für die Zeit schon
finden, die er noch zubringen müsse, ehe er zu Kornelien gehen könne.
Da der Mann meine Schwester sehr geliebt hatte, da ihre Briefe an mich
immer von ihrem Glücke erzählten, gönnte ich ihm das kleine Besitztum
und schrieb ihm zurück, daß ich keine Ansprüche erhebe und daß er das
Hinterlassene ungeteilt genießen möge. Er dankte mir, ich sah aber aus
seinem Briefe, daß er über das Geschenk eben keine sonderliche Freude
habe.«

»Ich zog mich nun noch mehr zurück, und mein Leben war sehr trübe.
Ich zeichnete viel, ich bildete zuweilen auch etwas in Ton und suchte
sogar manches in Farben darzustellen. Nach einiger Zeit kam mir
von befreundeter Hand der Antrag, daß ich bei einer gebildeten
und wohlhabenden Familie wohnen möchte, daß ich einen Teil des
Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie sei, gegen vorteilhafte
Bedingungen übernehmen möchte, worunter auch die war, daß ich nicht
gebunden sei, daß ich öfter abwesend sein und zum Teile sogar kleine
Reisen machen könne. In der Verödung, in der ich mich befand, hatte
die Aussicht auf ein Familienleben eine Art Anziehung für mich, und
ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben
müsse, in jedem Augenblicke das Verhältnis wieder auflösen zu können.
Die Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach
drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie
ab. Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien,
die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von
der Stadt entfernt. Es war sehr geräumig, hatte eine sonnige Lage,
liebliche Rasenplätze um sich und hing mit einem großen Garten
zusammen, in dem teils Gemüse, teils Obst, teils Blumen gezogen
wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen
Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere
Beschäftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir geschildert worden,
mit dem Beifügen, daß er ein sehr guter Mann sei, mit dem sich
jedermann vertrage, daß er eine treffliche, sorgsame Frau habe und daß
außer dem Knaben nur noch ein halberwachsenes Mädchen da sei. Diese
Dinge waren es auch vorzüglich, welche mich zur Annahme bestimmt
hatten. Mein Name sei der Familie in einem Hause genannt worden, mit
dem sie in sehr inniger Beziehung stand, und ich sei sehr empfohlen
worden. Man hatte mir auf die letzte Post einen Wagen entgegen
gesandt. Es war ein schöner Nachmittag, als ich in Heinbach, das war
der Name des Hauses, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen Torwege,
zwei Diener kamen die Treppe herab, um meine Sachen in Empfang zu
nehmen und mir mein Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit
Herausnehmen von ein paar Büchern und andern Kleinigkeiten beschäftigt
war, kam auch der Herr des Hauses herunter, begrüßte mich artig und
führte mich selber in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zimmern
bestand. Er sagte, ich möge mich hier zurecht richten, möge hiebei nur
meine Bequemlichkeit vor Augen haben, ein Diener sei angewiesen, meine
Befehle zu vollziehen, und wenn ich fertig sei und etwa heute noch
wünsche, mit seiner Gattin zu sprechen, so möge ich klingeln, der
Diener werde mich zu ihr führen. Hierauf verließ er mich unter
höflichem Abschiede. Der Mann gefiel mir sehr wohl. Ich entledigte
mich meiner staubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das
Notwendigste in meinem Zimmer in Ordnung, kleidete mich dann
besuchsgemäß an und ließ die Frau des Hauses fragen, ob ich bei ihr
erscheinen dürfe. Sie sendete eine bejahende Antwort. Ich wurde über
einen Gang geführt, in welchem allerlei Bilder hingen, wir traten in
einen Vorsaal und von dem in das Zimmer der Frau. Es war ein großes
Zimmer mit drei Fenstern, an welches ein niedliches Gemach stieß.
In diesem Zimmer waren heitere Geräte, einige Bilder, und die
Nachmittagssonne war durch sanfte Vorhänge gedämpft. Die Frau saß an
einem großen Tische, zu ihren Füßen spielte ein Knabe, und seitwärts
an einem kleinen Tischchen saß ein Mädchen und hatte ein Buch vor
sich. Es schien, es habe vorgelesen. Die Frau stand auf und ging mir
entgegen. Sie war sehr schön, noch ziemlich jung, und was mir am
meisten auffiel war, daß sie sehr schöne braune Haare, aber tief
dunkle, große schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wußte aber
nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß
sie mich einen Platz nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie
meinen Vor- und Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen
und sagte, daß sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem
Dache zu sehen.«

»>Alfred<, rief sie, >komm und küsse diesem Herrn die Hand!<«

»Der Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat
vor mich, küßte mir die Hand und sagte: >Sei willkommen!<«

»>Sei auch du willkommen<, erwiderte ich und drückte ein wenig das
Händchen des Knaben. Er hatte ein sehr rosiges Angesicht, ebenfalls
braune Haare wie die Mutter, aber dunkelblaue Augen, wie ich sie an
dem Vater gesehen zu haben glaubte.«

»>Das ist das Kind, dessentwegen ich euch so sehr in unser Haus
gewünscht habe<, sagte sie. >Ihr sollt dasselbe weniger unterrichten,
dazu sind Lehrer da, welche das Haus besuchen, sondern wir bitten
euch, daß ihr bei uns lebet, daß ihr dem Knaben öfter eure
Gesellschaft gönnt, daß er außer dem Umgange mit seinem Vater auch den
eines jungen Mannes hat, was auf ihn Einfluß nehmen möge. Erziehung
ist wohl nichts als Umgang, ein Knabe, selbst wenn er so klein ist,
muß nicht immer mit seiner Mutter oder wieder nur mit Knaben umgehen.
Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man
nur etwas wissen und es mitteilen können, zur Erziehung muß man etwas
sein. Wenn aber einmal jemand etwas ist, dann, glaube ich, erzieht er
auch leicht. Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen
Warengewölbe dem großen Tore des Erzdomes gegenüber ist, hat mir von
euch erzählt. Wenn ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend
etwas zu unterrichten, so ist es eurem Ermessen überlassen, wie und
wie weit ihr es tut.<«

»Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr errötet.«

»>Mathilde<, sagte die Frau, >begrüße auch diesen Herrn, er wird jetzt
bei uns wohnen.<«

»Das Mädchen, welches immer bei seinem aufgeschlagenen Buche sitzen
geblieben war, stand jetzt auf und näherte sich mir. Ich erstaunte,
daß das Mädchen schon so groß sei, ich hatte es mir kleiner gedacht.
Es war auf einem etwas niederen Stuhle gesessen. Da es in meine Nähe
gekommen war, stand ich auf, wir verneigten uns gegen einander,
Mathilde ging wieder zu ihrem Sitze, und ich nahm auch den meinigen
wieder ein. Die Frau hatte wohl diese Begrüßung eingeleitet, um mein
Erröten vorüber gehen zu machen. Es war auch zum großen Teile vorüber
gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich gerichtete Rede
auch wahrscheinlich nicht erwartet. Sie fragte mich jetzt um mehrere
gleichgültige Dinge, die ich beantwortete.

In meine näheren Verhältnisse oder etwa gar in die meiner Familie ging
sie nicht ein. Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte,
verabschiedete sie mich, sagte, ich möchte von der Reise etwas
ausruhen, bei dem Abendessen würden wir uns wieder sehen. Der Knabe
hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir
stehen geblieben und hatte öfter zu meinem Angesichte heraufgeschaut.
Ich löste jetzt meine Hand aus der seinen, grüßte ihn noch, verneigte
mich vor der Mutter und verließ das Zimmer.«

»Als ich in meiner Wohnung angekommen war, setzte ich mich auf einen
der schönen Stühle nieder. Jetzt wußte ich, weshalb man mir so gute
Bedingungen gestellt hatte und wie schwer meine Aufgabe war. Ich
zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir sehr gefallen, darum zagte ich
noch mehr. Als ich eine Zeit auf meinem Stuhle gesessen war, erhob
ich mich wieder, und es fiel mir ein, daß ich ja dem Herrn des Hauses
auch einen Besuch zu machen habe. Ich klingelte und verlangte von
dem eintretenden Diener, daß er mich zu dem Herrn führe. Der Diener
antwortete, der Herr sei in den Wald gegangen und werde erst Abends
zurückkehren. Er hatte den Befehl hinterlassen, daß man mir sage,
ich möge nur meine Reisesachen auspacken, möge ausruhen und möge
mir seinethalben keine Pflichten auflegen, morgen könne das Weitere
besprochen werden. Ich legte daher die Kleider, welche ich zu dem
Besuche bei der Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders an
und brachte meine Sachen nun in meiner Wohnung in Ordnung. Bei dieser
Beschäftigung ging mir nach und nach der ganze Rest des noch übrigen
Tages dahin. Als ich fertig war, dämmerte es bereits. Nachdem ich mich
gereinigt und zum Abendessen angekleidet hatte, sagte mir mein Diener,
daß sich der Herr, der schon nach Hause zurückgekehrt sei, zum Besuche
bei mir melde. Ich sagte zu, der Herr kam und fragte, ob man in meiner
Wohnung alles nach Gebühr vorbereitet habe und ob ich nichts vermisse.
Ich antwortete, daß alles meine Erwartung übertreffe und daher ein
weiteres Begehren die größte Unbescheidenheit wäre. Er sagte, daß er
nun wünsche, daß mein Eintritt in sein Haus gesegnet sei, daß mein
Aufenthalt darin erfreulich sein möge und daß ich es einst nicht mit
Reue und Schmerz verlasse. Hierauf lud er mich zum Abendessen ein. Wir
gingen in ein sehr heiteres Speisezimmer, in welchem ein einfaches
Abendmahl unter einfachen Gesprächen eingenommen wurde. Bei demselben
war der Herr, die Frau, die zwei Kinder und ich gegenwärtig.«

»Am nächsten Vormittage ließ ich anfragen, ob ich den Herrn besuchen
dürfe. Ich wurde dazu eingeladen, und mein Diener führte mich zu ihm.
Ich war in denselben Besuchkleidern wie gestern bei der Frau. Der Herr
saß bei Papieren und Schriften, er erhob sich bei meinem Eintritte,
ging mir entgegen, grüßte mich auf das Ausgezeichnetste und führte
mich zu einem Tische.

Er war schon völlig und sehr fein angekleidet. Als wir uns
niedergelassen hatten, sagte er: >Seid mir noch einmal in meinem Hause
willkommen. Ihr seid uns so empfohlen worden, daß wir uns glücklich
schätzen, daß ihr zu uns gekommen seid, daß ihr eine Zeit bei uns
wohnen wollt und daß ihr erlaubt, daß mein lieber Knabe, dem ich eine
glückselige Zukunft wünsche, eure Gesellschaft genieße. Ich glaube,
ihr werdet vielleicht in einiger Zeit sehen, daß wir eure Freunde
sind, und ihr werdet uns etwa auch eure Freundschaft schenken. Richtet
eure Beschäftigungen ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was
euer künftiger Beruf fordert und betrachtet euch in allen Stücken
wie in eurem eigenen Hause. Ihr werdet euch wohl hier an Einfachheit
gewöhnen müssen. Wir haben hier und in der Stadt wenig Besuch und
machen auch wenig. Mathilde wird von der Frau selber erzogen. Mit
Erzieherinnen hatten wir kein Glück. Wir gaben es daher auf, für
Mathilden eine Gesellschafterin zu suchen. Sie ist bei der Mutter,
zuweilen sieht sie Mädchen ihres Alters, und manches Mal wohnt sie
Gesprächen und Spaziergängen mit zwei älteren guten und lieben Mädchen
bei. Sonst ist sie in ihrer Ausbildung begriffen und bringt ihre Zeit
mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben ist, werdet ihr wohl sehen. Man
hat uns gesagt, daß ihr in der Stadt sehr zurückgezogen gelebt habt,
deshalb glaubten wir, daß ihr bei uns nicht gar sehr die menschliche
Gesellschaft vermissen werdet. Ich beschäftige mich mit einigen
wissenschaftlichen Dingen, und wenn euch ein Gespräch hierin, falls
wir in den Gegenständen zusammentreffen, nicht unangenehm ist, so
betrachtet mich als euren älteren Bruder, und zwar nicht bloß hierin,
sondern auch in allen anderen Dingen.<«

»>Ich bin durch eure Güte sehr beschämt<, antwortete ich, >und sehe
jetzt erst, wie groß die Aufgabe ist, die ich in eurem Hause habe. Ich
weiß nicht, ob ich ihr auch nur in einem geringen Maße werde genügen
können.<«

»>Es wird vielleicht nicht schwer sein, zu genügen<, erwiderte er.«

»>Wenn es aber doch nicht geschähe?< fragte ich.«

»>Dann wären wir so offen und sagten es euch, damit man darnach
handeln könnte<, antwortete er.«

»>Das erleichtert mir mein Herz sehr<, erwiderte ich; >denn auf diese
Weise wird nie Mißtrauen aufkommen können. Ich habe bisher nur in zwei
Familien gelebt, in der meiner Mutter - denn mein Vater ist in meiner
frühen Jugend gestorben - und in der eines würdigen alten Amtmannes,
in dessen Hause ich während meiner lateinischen Schulen in Kost
und Wohnung war. Die erste Familie ist mir wie jedem Menschen
unvergeßlich, und die zweite ist es mir auch.<«

»>Vielleicht wird es auch die unsere<, sagte er, >jetzt laßt euch das
Haus und sein Zugehör zeigen, daß ihr den Schauplatz kennt, auf dem
ihr ein Weilchen leben sollt. Oder wollt ihr etwas anders tun, so tut
es. Zu mir steht euch der Zutritt stets offen, laßt euch nicht ansagen
und klopft nicht an meine Tür.<«

»Mit diesen Worten war unser Gespräch zu Ende, wir erhoben uns,
verabschiedeten uns, er reichte mir freundlich die Hand, und ich
verließ das Zimmer.«

»Ich kleidete mich nun in meine gewöhnlichen Kleider und ließ fragen,
ob Alfred Zeit habe, mich zu begleiten und mir etwas von dem Hause und
dem Garten zu zeigen. Man antwortete, daß Alfred gleich kommen werde
und daß er hinlänglich Zeit habe. Die Mutter führte den Knaben selbst
zu mir, und sie brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund
Schlüssel trug und den Auftrag hatte, mir die Räume des Hauses zu
zeigen. Der Diener war ein alter Mann und schien die Aufsicht über
die andern Dienstleute zu haben. Die Mutter entfernte sich sogleich
wieder. Ich sprach einige freundliche Worte mit dem Knaben, welcher
über sieben Jahre alt schien, er erwiderte diese Worte unbefangen und,
wie ich glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Räume des Hauses zu
betrachten. Das Haus war nicht alt, es war kein Schloß und mochte in
dem siebenzehnten Jahrhunderte gebaut worden sein. Es bestand aus
zwei Flügeln, die einen rechten Winkel bildeten und einen Sandplatz
einschlossen. Die Zufahrt war aber von entgegengesetzter Seite, daher
der Sandplatz, welcher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem
Spielplatze für die Kinder als einer Anfahrt glich. Es waren auf
demselben, und zwar an den Mauern des Hauses, auch Linnendächer zum
Aufspannen gegen die Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeschoß
und ein Stockwerk. Durch beide lief der Länge nach ein breiter Gang,
von dem aus man in die Zimmer gelangen konnte. Die Mauern des Ganges
waren schneeweiß, hatten Stuckarbeit, schön vergitterte Fenster und
zeigten braune, wohlgebohnte Gemächertüren. An vielen Stellen der
Gänge hingen Gemälde. Sie waren durchaus nicht vorzüglich, aber auch
bei Weitem nicht so schlecht, als solche Gang- und Treppengemälde
gewöhnlich zu sein pflegen. Die Gegenstände, welche auf ihnen
abgebildet waren, drehten sich in einem kleinen Kreise: Landschaften
mit Ansichten der Umgebung oder merkwürdiger Gebäude, Tiere -
vorzüglich Hunde mit Jagdgerätschaften -, Küchengeschirr oder Inneres
von Zimmern und anderen Gelassen. Der alte Diener schloß manche
Gemächer auf, die im Gebrauche waren; denn das Haus hatte mehr, als
die jetzigen Bewohner benützten. Es war ein großer, mit sehr schönen
Geräten versehener Saal da, in welchem, wenn es notwendig war,
Gesellschaften aufgenommen wurden, dann waren andere Zimmer zu
verschiedenem Gebrauche, darunter ein sehr großes Bücherzimmer und
die Zimmer für Gäste. Alles war sehr schön eingerichtet und rein und
ordentlich gehalten. Als wir das Haus gesehen hatten, sagte Alfred,
Raimund, der alte Diener, sei nun nicht mehr vonnöten, den Garten
werde er mir schon allein zeigen. Ich war damit einverstanden,
verabschiedete den alten Diener und ging mit Alfred ins Freie. Das
Erdgeschoß, worin sich die Küche, die Gesindezimmer und dergleichen
befanden, hatten wir nicht besucht. Die Ställe und Wagenbehälter
waren abseits des Hauses in eigenen Gebäuden. Als wir in das Freie
gekommen waren, zeigte sich ein sehr schöner Rasenplatz, der von
mannigfaltigen, künstlich angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf diesem
Rasenplatze standen in ziemlichen Entfernungen sehr große Bäume. Zu
jedem führte ein Weg, und fast unter jedem stand ein Bänkchen oder
ein Sitz. Alfred führte mich zu den meisten und nannte mir sie. Mich
erfreute dieses Zeichen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Er
erzählte mir auch, was sie bald unter diesem, bald unter jenem Baume
getan und wie sie gespielt hätten. Die Bäume waren Eichen, Linden,
Ulmen und eine Anzahl sehr großer Birnbäume. Diese Art von Wald hatte
etwas sehr Anmutiges.«

»>Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen<, sagte Alfred, >weil ich
leicht hinein fallen könnte, und ich gehe auch nicht hin; aber weil du
heute bei mir bist, so dürfen wir ihn besuchen. Komme mit, ich habe
Brot bei mir, um es den Enten und den Fischen zu geben.<«

»Er faßte mich bei der Hand, und ich ließ mich von ihm führen. Er
geleitete mich durch ein kleines Gebüsch zu einem mäßig großen Teiche,
der das Merkwürdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in geringen
Entfernungen angebracht waren, die die Bestimmung hatten, daß darin
Wildenten nisteten. Das geschah auch reichlich. Es war noch nicht
so weit im Sommer, und wir sahen noch manche Mutter mit ihren fast
erwachsenen, aber noch nicht flugfähigen Jungen auf dem Wasser
herumschwimmen. An den Ufern waren an verschiedenen Stellen
Futterbrettchen angebracht. Im Wasser selber bewegte sich eine große
Zahl schwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus seiner
Tasche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf diese einzeln in das
Wasser und hatte seine Freude daran, wenn die Enten und auch manch
ungeschickter Mund eines Karpfen darnach haschten. Es schien, daß er
mich dieses Zweckes halber zu dem Teiche geführt hatte. Als er mit
seinem Brote fertig war, gingen wir weiter. Er sagte: >Wenn du auch
den Garten sehen willst, so werde ich dich schon hinführen.<«

»>Ja, wohl will ich ihn sehen<, antwortete ich.«

»Er führte mich nun aus dem Gebüsche, wir begaben uns auf die
entgegengesetzte Seite des Hauses, dort war ein mit einem Gitter
umgebener großer Garten, und wir gingen durch das Tor desselben
hinein. Blumen, Gemüse, Zwerg- und Lattenobst empfingen uns. In der
Ferne sah ich die größeren und wahrscheinlich sehr edlen Obstbäume
stehen. Daß mir der Garten um viel mehr gefiel als der Teich, sagte
ich Alfred nicht, er mochte es auch nicht wissen. In sehr schöner Art
waren hier die Blumen gepflegt, die man gewöhnlich in Gärten findet.
Sie hatten nicht bloß ihre ihnen zusagenden Plätze, sondern sie waren
auch zu einem sehr schönen Ganzen zusammengestellt. An Gemüsen glaubte
ich die besten Arten zu sehen, wie man sie nur immer in den Handlungen
der Stadt finden konnte. Zwischen ihnen stand das Zwergobst. Die
Gewächshäuser enthielten Blumen, aber auch Früchte. Ein sehr langer
Gang, welcher mit Wein überwölbt war, führte uns in den Obstgarten.
Die Bäume standen in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten
Grasboden unter sich, und es führten auch hier wieder Wege von einem
zum andern. An seiner rechten Seite war dieser Gartenteil von dichtem
Haselnußgebüsche begrenzt. Ein Pfad führte uns durch dasselbe
hindurch. Wir trafen jenseits einen freien Platz, auf welchem ein
ziemlich großes Gartenhaus stand. Es war gemauert, hatte hohe Fenster,
ein Ziegeldach und seine Gestalt war ein Sechseck. Die Außenseite
dieses Hauses war ganz mit Rosen überdeckt. Es waren Latten an dem
Mauerwerke angebracht und an diese Latten waren die Rosenzweige
gebunden. Sie standen in Erde vor dem Hause, hatten verschiedene Größe
und waren so gebunden, daß die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben
die Zeit der Rosenblüte war und diese Rosen außerordentlich reich
blühten, so war es nicht anders, als stände ein Tempel von Rosen da
und es wären Fenster in dieselben eingesetzt. Alle Farben, von dem
dunkelsten Rot, gleichsam Veilchenblau, durch das Rosenrot und Gelb
bis zu dem Weiß, waren vorhanden. Bis in eine große Entfernung
verbreitete sich der Duft. Ich stand lange vor diesem Hause, und
Alfred stand neben mir. Außer den Rosen an dem Gartenhause waren
auf dem ganzen Platze Rosengesträuche und Rosenbäumchen in Beeten
zerstreut. Sie waren nach einem sinnvollen Plane geordnet, das zeigte
sich gleich bei dem ersten Blicke. Alle Stämmchen trugen Täfelchen mit
ihrem Namen.«

»>Das ist der Rosengarten<, sagte Alfred, >da sind viele Rosen, es
darf aber keine abgepflückt werden.<«

»>Wer pflanzt denn diese Rosen und wer pflegt sie?< fragte ich.«

»>Der Vater und die Mutter<, antwortete Alfred, >und der Gärtner muß
ihnen helfen.<«

»Ich ging zu allen Rosenbeeten, und ging dann um das ganze Haus herum.
Als ich alles betrachtet hatte, gingen wir auch in das Haus hinein.
Es war mit Marmor gepflastert, auf dem feine Rohrmatten lagen. In der
Mitte stand ein Tisch und an den Wänden Bänkchen, deren Sitze von Rohr
geflochten waren. Eine angenehme Kühle wehte in dem Hause; denn die
Fenster, durch welche die Sonne herein scheinen konnte, waren durch
gegliederte Balken zu schützen. Da wir wieder aus dem Innern dieses
Gartenhauses getreten waren, besuchten wir noch einmal den Obstgarten
und gingen bis an sein Ende. Da wir an das Gartengitter gekommen
waren, sagte Alfred: >Hier ist der Garten zu Ende und wir müssen
wieder umkehren.<«

»Das taten wir auch, wir gingen wieder zu dem Eingangstore zurück,
durchschritten es, begaben uns in das Haus, und ich führte Alfred zu
seiner Mutter.«

»Das war das Haus und der Garten in Heinbach, der Besitzung des Herrn
und der Frau Makloden.«

»Der erste Tag verging sehr gut, so auch ein zweiter, ein dritter und
mehrere. Ich wohnte mich in meine zwei Zimmer ein, und die Stille des
Landes tat mir in meiner jetzigen Gemütsverfassung sehr wohl. Für
den Unterricht Alfreds war in der Art gesorgt, daß der Graf, dessen
Meiereien in der Nähe von Heinbach lagen, und ein Herr von Heinbach,
wie man Makloden jetzt auch nannte, eine Summe stifteten und dem
Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten unter der Bedingung, daß ein
in gewissen Fächern gebildeter Mann stets diese Stelle bekleide,
welchen sie in Vorschlag zu bringen das Recht hatten und der die
Verbindlichkeit übernahm, die Kinder des Hauses Heinbach und die des
Verwalters der Meiereien in ihren Wohnungen zu unterrichten, wofür er
aber besonders bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach waren
eine kleine halbe Wegstunde von dem Herrenhause entfernt. Der Lehrer
kam jeden Nachmittag herüber und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde
wurde nur mehr in seltenen Stunden noch von ihm unterrichtet. Für
Alfred sollte ich die Art der Lehrstunden einrichten, was ich auch
im Übereinkommen mit dem Lehrer, der ein sehr bescheidener und nicht
ungebildeter junger Mann war, tat. Den Unterricht in gewissen Dingen,
jetzt vor allem den Sprachunterricht, behielt ich mir vor. So kam die
Sache in den Gang und so ging sie fort.«

»Das Leben in Heinbach war wirklich sehr einfach.

Man stand mit der Morgensonne auf, versammelte sich in dem
Speisezimmer zum Frühmahle, dem einiges Gespräch folgte, und ging dann
an seine Geschäfte. Die Kinder mußten ihre Aufgaben machen, von denen
Mathilde besonders von der Mutter manche in einigen Zweigen bekam. Der
Vater ging in seine Stube, las, schrieb oder er sah in dem Garten oder
in dem kleinen Grundbesitze nach, der zu dem Hause gehörte. Ich war
teils in meiner Wohnung mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt
begonnen hatte und hier fortsetzte, beschäftigt, teils war ich in
Alfreds Zimmer und überwachte und leitete, was er zu tun hatte. Die
Mutter stand mir hierin bei, und sie hielt es für ihre Pflicht, noch
mehr um Alfred zu sein als ich. Der Mittag versammelte uns wieder in
dem Speisezimmer, am Nachmittage waren Lehrstunden und der Rest des
Tages wurde zu Gesprächen, zu Spaziergängen, zum Aufenthalte im Garten
oder, besonders wenn Regenwetter war, zum gemeinschaftlichen Lesen
eines Buches benutzt. Was man im Freien tun konnte, wurde lieber im
Freien als in Zimmern abgemacht. Besonders war hiezu der Aufenthalt
unter den Linnendächern am Hause geeignet, den die Mutter sehr liebte.
Stundenlang war sie mit irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder
mit ihrem Schreibzeuge oder mit Büchern auf diesem Platze beschäftigt.
Dies war besonders der Fall, wenn die Vormittagssonne die Luft
durchwürzte und doch noch nicht so viel Kraft hatte, die Mauern zu
erhitzen und den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden die
mannigfaltigen Bänkchen auf dem Rasenplatze, vor welche man Tischchen
stellte, und das Innere des Rosenhauses benützt. Zuweilen wurden
größere Spaziergänge verabredet. An solchen Tagen waren keine
Lehrstunden, man bestimmte die Zeit, in welcher fortgegangen
werden sollte, alle mußten gerüstet sein, und mit dem betreffenden
Glockenschlage wurde aufgebrochen. Wir besuchten zuweilen einen Berg,
einen Wald oder gingen durch schöne, ansprechende Gründe. Manches Mal
war es auch eine Ortschaft, in welche wir uns begaben. Um das Haus
lagen in geringen Entfernungen Besitztümer von Familien, mit denen
die Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Öfter fuhr ein Wagen vor
unserem Hause vor, öfter fuhr der unsere in die Nachbarschaft. Die
Kinder mischten sich zur Geselligkeit und ältere traten zusammen. Die
Mutter Alfreds sah es gerne, wie sie mir sagte, wenn eine Freundin
Mathildens bei ihr durch längere Zeit verweilte, sie aber konnte sich
nie entschließen, ihre Tochter zu anderen Leuten auf Besuch zu geben.
Sie wollte nicht getrennt sein. Auch, meinte sie, würde sich Mathilde
fern von ihr nicht wohl fühlen. Von Künsten wurde bei wechselseitigen
Besuchen vorzüglich die Musik geübt. Es war der Gesang, der gepflegt
wurde, das Clavier, und zu vierstimmigen Darstellungen die Geigen. Der
Vater Alfreds schien mir ein Meister auf der Geige zu sein. Wir hörten
solchen Vorstellungen zu. Wir Unbeschäftigten sahen aber auch sehr
gerne zu, wenn die Kinder auf dem Rasenplatze hüpften und sich in
ihren Spielen ergötzten. Bei alle dem besorgte die Mutter Alfreds
aber auch ihr ausgedehntes Hauswesen. Sie gab den Dienern und Mägden
hervor, was das Haus brauchte, sorgte für die richtige und zweckmäßige
Verwendung, leitete die Einkäufe und ordnete die Arbeiten an. Die
Bekleidung des Herrn, der Frau und der Kinder war sehr ausgezeichnet,
aber auch sehr einfach und wohlbildend. Nach dem Abendessen saß man
oft noch eine geraume Weile in Gesprächen bei dem Tische, und dann
suchte jedes sein Zimmer.«

»So war eine Zeit vergangen, und so kam nach und nach der Herbst. Ich
lebte mich immer mehr in das Haus ein und fühlte mich mit jedem Tage
wohler. Man behandelte mich sehr gütig. Was ich bedurfte, war immer
da, ehe das Bedürfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch
nicht bloß das wurde hergestellt, was ich bedurfte, sondern auch das,
was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte,
wurden in Töpfen in meine Zimmer gestellt, ein Buch, ein neues
Zeichnungsgeräte fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf
mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung
mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem
Nachbarschlosse sehr gelobt hatte.

Bei Spaziergängen gesellte sich der Vater Alfreds gerne zu mir, wir
gingen abgesondert von den Andern und führten Gespräche, die mir in
dem, was er sagte, sehr inhaltreich schienen. Ebenso war die Mutter
Alfreds nicht ungeneigt, sich mit mir zu besprechen. Wenn ich in
Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam sie gerne herein
und sprach mit mir, oder sie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies mir
einen Sitz an und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle
meine Familienverhältnisse erzählt, sie hatte teilnehmend zugehört und
hatte manches Wort gesprochen, das höchst wohltätig in meine Seele
ging. Alfred war mir gleich in den ersten Tagen zugetan, und diese
Neigung wuchs. Sein Wesen war nicht verbildet. Er war körperlich sehr
gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem überall
von den Seinigen mit Maß und Ruhe umgeben war. Er lernte sehr genau
und lernte leicht und gut, er war folgsam und wahrhaftig. Ich wurde
ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, verlangte er, daß er
nicht mehr neben der Mutter, sondern neben mir wohnen solle, er sei ja
kein so kleiner Knabe mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er
müsse nun bald neben den Männern sein. Man willfahrte ihm auf meine
Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jetzt
nebst andern meine Aufträge zu besorgen gehabt hatte, wurde uns
gemeinschaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte sich auch
ziemlich regsam, er war in dem Sommer gewachsen, sein Haupt war
regelmäßiger und sein Blick war stärker geworden.«

»So endete der Herbst, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf
den Wiesen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier änderte sich Manches.
Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber statt des
Himmels und der Berge und der grünen Bäume sahen Häuser und Mauern in
unsere Fenster herein. Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und
Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Fächern
genommen, und die Lehrstunden waren gedrängter als auf dem Lande. Auch
kamen wir mit viel mehr Menschen in Berührung und die Einwirkungen
vervielfältigten sich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut
behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie
gerechnet, und alles was überhaupt der Familie gemeinschaftlich
zukam, wurde auch mir zugeteilt. Die Mutter Alfreds sorgte für meine
häuslichen Angelegenheiten, und nur die Anschaffung von Kleidern,
Büchern und dergleichen war meine Sache.«

»Als kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach
Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen in einem Wagen, der Vater
und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt
sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte es daher so einrichten,
daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war, als ich das Haus betreten
hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen
fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeutend gewachsen, so
daß sie wohl so groß war wie ein vollendetes Mädchen. Ihr Körper war
äußerst schlank, aber sehr gefällig gebildet. Man kleidete sie gerne
in dunkle Stoffe, die ihr wohl standen. Wenn sie in dem tiefen Blau
oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging und das
schöne Weiß das Kleid oben säumte, so wurde eine Anmut sichtbar, die
gleichsam sagte, daß alles sei, wie es sein muß. Ihre Wangen waren
sehr frisch, sanft rot und wurden jetzt ein wenig länglich, ihr Mund
war fast rosenrot, die großen Augen waren sehr glänzend schwarz, und
die reinen braunen Haare gingen von der sanften Stirne zurück. Die
Mutter liebte sie sehr, sie ließ sie fast gar nicht von sich, sprach
mit ihr, ging mit ihr spazieren, unterrichtete sie auf dem Lande
selber und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsstunde bei, die ein
fremder Lehrer erteilte. Nur mit mir und Alfred ließ sie sie im
vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Rasenplatze, ja sogar in
der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte sie,
erzählte ihnen, ließ mich selber fragen und ließ mir erzählen. Alfred
hielt mich größtenteils an der Hand oder suchte sich überhaupt
irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen,
das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde
wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie
keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht
anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß sie nicht
in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre Schuhe oder ihre
Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mußten
immer ohne Makel sein, ihre Zähne, ihre Hände mußten sehr rein sein,
und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich so vortrefflich geordnet,
daß kein Tadel entstehen konnte. Ich zeigte den Kindern die Berge,
die zu sehen waren, und nannte sie, ich lehrte sie die Bäume, die
Gesträuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen
Steinchen, Schneckenhäuschen, Muscheln auf und erzählte ihnen von dem
Haushalte der Tiere, selbst solcher, die groß und mächtig sind und in
entfernten Wäldern oder gar in Wüsten wohnen. Alfred liebte das Walten
und das Tun der Vögel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute sich,
aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem
Gebüsche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen,
von denen sie strömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden
und fragte sie bei manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die
Vorschriften der Mutter nie überschritten, und Mathilde gewann an
Schönheit des Aussehens und an Gesundheit durch diese Spaziergänge.
So wie die Mutter im Sommer und Herbste sie mit uns hatte herum gehen
lassen, so ließ sie sie jetzt mit uns fahren. Sie saß zwei Tage uns
gegenüber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte
einen Mantel, und Alfred war in einen warmen Überrock geknöpft.
Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die
Spitzen ihrer Schuhe hervorsahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen
Oberkörper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte hatte sie
einen warmen, wohlgefütterten Hut, dessen weite Flügel sich wohl
anschmiegten, so daß nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in
der Märzluft noch röter geworden waren, und die glänzenden Augen
hervorsahen. Wir beredeten, was wir in dem nächsten Sommer vornehmen
wollten. Der Hauptinhalt unserer Gespräche aber war, daß alles, was
uns auf unserem Wege oder in dessen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß
wir es nannten und darüber sprachen. So kamen wir endlich bei heiterem
und klarem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor den Fenstern
hatten noch kein Laub, der Garten war öde und die Felder waren noch
nicht grün, außer dort, wo sie die Wintersaaten trugen.«

»Obwohl es draußen sehr unwirtlich war, wenn man den äußerst
freundlichen blauen Himmel abrechnet, so war es in dem Hause sehr
heimisch. Alles war auf das Reinlichste geputzt und zu dem Empfange
der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glänzten, die Fenster
spiegelten, durch die Vorhänge schien eine helle Märzsonne herein und
in den Kaminen brannte ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemächer
waren um ein sehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt worden, und man
hatte mir schönere und bequemere Geräte in meine Wohnung gestellt.
Ich traf jetzt die Veranstaltung, daß die Tür von meiner Wohnung in
Alfreds Zimmer immer offen war, daß beide Wohnungen eine bildeten und
daß ich gleichsam neben einem jüngeren Bruder lebte. Hatte ich eine
Arbeit vor, bei der eine Störung hindernd gewesen wäre, so ging ich in
mein Eckzimmer.«

»Das Leben in dem Landhause begann jetzt wieder wie in dem vorigen
Sommer. Wenn auch noch kein Laub auf den Bäumen war, wenn sich das
Grün der Wiesen noch dürftig zeigte und auf den Feldern für die
Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, so gingen wir doch schon
vielfach spazieren. Alfred und ich gingen täglich, selbst wenn trübes
Wetter war, nur nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel strömte.
Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer
weiß gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken waren,
ging Mathilde mit uns, und wir führten sie auf Anhöhen oder Felder, wo
wir kurz vorher die schönsten Triller der Lerchen gehört hatten. Diese
Sänger waren die einzigen, die mit uns schon die Gegend bevölkerten.«

»Nach und nach wurde das Weiß auf Feld und Wiesen seltener, die Sonne
schien kräftiger, das Feuer in den Kaminen war nicht mehr nötig,
die Wiesen gewannen Grün, die Bäume Knospen und an den Zweigen der
Lattenpfirsiche im Garten erschienen einzelne Blüten. Die Sänger
der Luft erschienen in verschiedenen Gestalten und Farben. Wenn ich
irgendwo Veilchen oder andere Frühlingsblumen fand, welche Mathilde
nicht mit uns hatte pflücken können, so brachte ich sie ihr in einem
Strauße für das Blumenglas ihres Tischchens nach Hause. Als Dank für
solche Aufmerksamkeiten erhielt ich zu meinem Geburtsfeste, welches in
die ersten Tage des Frühlings fiel, von ihrer Hand gestickt ein rundes
Deckchen, worauf ein silberner Handleuchter, den mir Mathildens Mutter
gab, zu stehen bestimmt war.«

»Der Frühling war endlich mit voller Pracht gekommen. Im vergangenen
Jahre hatte ich ihn in dieser Gegend nicht gesehen, weil ich erst
später angelangt war. Überhaupt hatte ich meines längern Stadtlebens
willen schon lange nicht einen vollkommenen Frühling in der Tiefe des
Landes erblickt. Nur an der Grenze des Landes, das heißt, wo es an die
Stadt reicht, hatte ich den einen oder andere Frühlingstag zugebracht
oder irgend einen Sonnenblick erlauscht. Das teilt man aber mit
Vielen, die aus der Stadt hinaus kommen, und muß es im Gedränge und
Staube genießen. In Heinbach war Einsamkeit und Stille, die blaue Luft
schien unermeßlich, und die Blütenfülle wollte die Bäume erdrücken.
Jeden Morgen strömte neue Würze durch die geöffneten Fenster. Man
fühlte in Heinbach, wie sehr mich Ungewohnten dieser Reichtum
überrasche und freue, und man suchte mir diese Freude auf jede Weise
noch fühlbarer zu machen und sie zu erhöhen. Jeden Tag wurden die
Blumen in meiner Wohnung durch neu aufgeblühte aus den Gewächshäusern
ersetzt. Wenn in dem freien Grunde sich etwas zeigte, sei es ein
Gesträuch, sei es eine Blume, so machte man mich darauf aufmerksam,
man brachte den größten Teil der Zeit im Freien zu, und machte weit
öfter und weit längere Spaziergänge als sonst. Mathilde erzählte
mir es, wenn sie den Gesang eines Vogels gehört hatte, wenn Faltern
vorüber geflogen waren, wenn sich ein Becher in einem Gebüsche
geöffnet hatte, ja sie gab mir zuweilen Blumen, um sie in meiner
Wohnung aufzubewahren.«

»So verging der Frühling, und der Sommer rückte vor.

War mir das Leben im vergangenen Jahre in dieser Familie angenehm
gewesen, so war es mir in diesem noch angenehmer. Wir gewöhnten uns
immer mehr an einander, und mir war zuweilen, als hätte ich wieder
eine unzerstörbare Heimat. Der Herr des Hauses zeichnete mich aus, er
besuchte mich oft in meiner Wohnung und sprach lange mit mir, er lud
mich zu sich, zeigte mir seine Sammlungen, seine Arbeiten und sprach
über Gegenstände, die bewiesen, daß er mich auch achte. Mathildens
Mutter war sehr liebreich, freundlich und gütig. Sie sorgte wie früher
für mich; aber sie tat es einfacher und fast wie ein Ding, das sich
von selber verstehe. Wir waren oft alle in ihrem Zimmer und spielten
ein kindisches Spiel oder trieben Musik. Alfred hatte gleich Anfangs
schon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieses Zutrauen war immer
gewachsen und war dann unbedingt geworden. Er war ein vortrefflicher
Knabe, offen, klar, einfach, gutmütig, lebendig, ohne doch einem
heftigen Zorne anheimzufallen, heiter, unschuldig und folgsam. Er war
jetzt gegen neun Jahre alt, entwickelte sich stets fröhlicher und
gewann am Geiste sowie am Körper. Mathilde wurde immer herrlicher,
sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem Gartenhause, zu denen wir
sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unsäglich. Wenn Alfred
Unterrichtsstunde hatte, war ich dabei und leitete und überwachte sie,
ich überwachte sein Lernen und fragte ihn immer um das Gelernte, damit
er sich bei dem Lehrer keine Blöße gebe. Die Gegenstände, die ich mit
ihm vornahm, vermehrte ich ansehnlich, ich suchte sie ihm recht gut
beizubringen, und er lernte sie auch besser als früher bei andern
Lehrern. Vater und Mutter waren oft bei dem Unterrichte zugegen und
überzeugten sich von den Fortschritten. Mathilde nahm ich nicht nur
sehr gerne, sondern viel lieber als früher zu unsern Spaziergängen
mit. Ich sprach mit ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenstände,
die an unserm Wege waren, hörte ihre Fragen, ihre Erzählungen und
beantwortete sie. Bei rauhen Wegen oder wo Nässe zu befürchten war,
zeigte ich ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man
trockenen Fußes gehen konnte. Zu Hause nahm ich an ihren Bestrebungen
Anteil. Ich sah öfter ihre Zeichnungen an und gab ihr einen Rat, den
sie sehr gerne verlangte und befolgte. Sie freute sich sehr, wenn das
Veränderte dann viel besser aussah. Ich war dabei, wenn sie auf dem
Claviere spielte, und hörte zu, so lange ihre Finger aus den Saiten
die Töne hervor zu locken suchten. Ich schrieb ihr in Hefte sehr
zierlich ab, wenn sie irgendwo einen Gesang hörte und sich denselben
aus dem Gedächtnisse in Musiknoten aufschrieb. Dies war besonders in
Hinsicht der Zither der Fall, die sie spielen zu lernen angefangen
hatte, die sie sehr liebte und auf der sie bedeutende Fortschritte
machte. Oft hörte die Mutter Mathildens mit Aufmerksamkeit zu, wenn
sie anmutige Weisen aus den Metallsaiten hervorbrachte, und ich und
Alfred regten uns nicht und lauschten. Ich las ihr und der Mutter aus
ihren Büchern vor und bezeichnete schöne Stellen durch eingelegte
Zeichen. Auch Blumen, Waldfrüchte und dergleichen brachte ich ihr,
wenn ich dachte, daß sie ihr Freude machen könnten.«

»Der Sommer war beinahe vergangen und der Herbst stand bevor. Wir
hatten so viel getan, daß uns die Zeit sehr kurz schien. Wir waren uns
auch genug, um unsere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde Kinder zugegen
waren, wenn Spiele veranstaltet waren und alle auf dem heiteren Rasen
hüpften und sprangen, stand Mathilde seitwärts und sah teilnahmslos
zu. Wir fuhren auch nicht so oft in die Nachbarschaft wie im
vergangenen Jahre, und verlangten es auch nicht.«

»Eines Tages nachmittags standen wir drei an dem Ausgange des langen
Laubenweges, der mit Reben bekleidet ist und zu dem Obstgarten führt.
Mathilde und ich standen ganz allein an der Mündung des Laubganges,
Alfred war unter den Bäumen damit beschäftigt gewesen, einige
Täfelchen, die an den Stämmen hingen und schmutzig geworden waren, zu
reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte
es in Häufchen und sonderte das bessere von dem schlechteren ab. Ich
sagte zu Mathilden, daß der Sommer nun bald zu Ende sei, daß die Tage
mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden, daß bald die Abende
kühl sein würden, daß dann dieses Laub sich gelb färben, daß man die
Trauben ablesen und endlich in die Stadt zurückkehren würde.«

»Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.«

»Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei und
daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.«

»>Es ist wirklich sehr schön<, antwortete sie, >hier sind wir alle
viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird
getrennt und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es
ist doch das größte Glück, Jemanden recht zu lieben.<«

»>Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr<,
erwiderte ich, >und ich weiß daher nicht, wie es ist.<«

»>Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister<, sagte sie, >und
andere Leute.<«

»>Mathilde, liebst du denn auch mich?< erwiderte ich.«

»Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte
in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht
hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: >Gustav,
Gustav, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.<«

»Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.«

»Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund
und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und
drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie
nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.«

»Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer, als dieses
süße Kind.«

»Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend
in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des
Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und
senkte, war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern
eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte
mich beklommen.«

»Nach einer Weile sagte ich: >Teure, teure Mathilde.<«

»>Mein teurer, teurer Gustav<, antwortete sie.«

»Ich reichte ihr die Hand und sagte: >Auf immer, Mathilde.<«

»>Auf ewig<, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte.«

»In diesem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts.
Wir gingen schweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns,
daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen geschrieben
sind, welche Täfelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes
hernieder hängen, von den Leuten oft sehr verunreinigt würden, daß man
sie alle putzen solle, und daß der Vater den Befehl erlassen sollte,
daß ein jeder, der einen Baum wäscht, putzt oder dergleichen oder der
sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen
habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine
Unreinigkeit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er schöne
Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch einen Insektenstich zu
einer früheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen seien. Er habe sie
am Stamme des Baumes zusammengelegt und werde den Vater bitten, sie zu
untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen könne. Dann seien viele
andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel
Obst beladen wären und ihre Kraft nicht genug ist, alle zur Reife zu
bringen. Diese habe er auch zusammengelegt, so viele er in der ersten
Baumreihe habe finden können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich
sein. Er freue sich schon sehr auf den Herbst, wo man alles das
herabnehmen werde und wo auch die schönen roten, blauen und goldgrünen
Trauben von diesem Ganggeländer heruntergelesen werden würden. Es sei
gar nicht mehr lange bis dahin.«

»Wir sprachen nicht und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin
und wider.«

»Die große Erregung hatte sich ein wenig gelegt, und wir gingen in das
Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich sonst
immer getan hatte, sondern nachdem ich Alfred in sein Zimmer geschickt
hatte, schweifte ich durch die Büsche herum und ging immer wieder auf
den Platz, von welchem ich die Fenster sehen konnte, innerhalb welcher
die teuerste aller Gestalten verweilte. Ich meinte, ich müsse sie
durch mein Sehnen zu mir herausziehen können. Es war erst ein
Augenblick, seit wir uns getrennt hatten, und mir erschien es so
lange. Ich glaubte, ohne sie nicht bestehen zu können, ich glaubte,
jede Zeit sei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde, schlanke
Mädchen nicht an mein Herz drückte. Ich hatte früher nie irgend
ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie
mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick
gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturmwind über mich
gekommen. Ich glaubte sie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen
sehen zu müssen mit dem langen kornblumenblauen Kleide, mit den
glanzvollen Augen und dem rosenherrlichen Munde. Es bewegte sich der
Fenstervorhang, aber sie war nicht an demselben; es schimmerte an dem
Glase wie von einem rosigen Angesichte, aber es war nur ein schiefes
Hereinleuchten der beginnenden Abendröte gewesen. Ich ging wieder
durch die Büsche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten,
der Weinlaubengang war mir jetzt ein fremdwichtiges Ding, wie
ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. Ich ging durch das
Haselnußgebüsch zu dem Rosenhause, es war, als blühten und glühten
alle Rosen um das Haus, obwohl nur die grünen Blätter und die Ranken
um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück und
ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie
beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich
erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen, da ich die
holde Gestalt sah, als hätte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich
ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine
Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im
Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück.
Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen und sah gegen die
Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies taten wir ungezählte
Male, bis der Flieder in dem Rot der Abendröte schwamm und die Fenster
wie Rubinen glänzten. Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit
einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im
Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung.«

»Als wir zum Abendessen zusammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter:
>Warum seid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten
zurückgekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?<«

»Ich vermochte auf diese Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde
aber nicht beachtet.«

»Ich schlief in der ganzen Nacht kaum einige Augenblicke. Ich freute
mich schon auf den Morgen, an dem ich sie wieder sehen würde. Wir
trafen alle in dem Speisesaale zu dem Frühmahle zusammen. Ein Blick,
ein leichtes Erröten sagte alles, sie sagten, daß wir uns besaßen
und daß wir es wußten. Den ganzen Morgen brachte ich mit Alfred
im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Gräser und Laubblätter
getrocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem
Buche, in dem sie eben gelesen hatte, aus dem Hause, sie eilte auf uns
zu, und wir tauschten den Blick der Einigung. Sie sah mich innig an,
und ich fühlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen strömte. Wir
gingen durch den Blumengarten und durch den Gemüsegarten auf den
Weinlaubengang zu. Es war, als hätten wir uns verabredet, dorthin
zu gehn. Mathilde und ich sprachen gewöhnliche Dinge, und in den
gewöhnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verstanden. Sie gab mir ein
Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte
ihr ein Blümchen, und sie steckte das Blümchen in ihren Busen. Ich
nahm ihr das Papierstreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche
steckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich
gab es nicht, und sie lächelte und ließ es mir. Wir kamen in das
Haselgebüsch, durchstreiften es und traten vor die Rosen des
Gartenhauses. Sie nahm einige welke Blätter ab und reinigte dadurch
den Zweig. Ich tat das Nehmliche mit dem Nachbarzweige. Sie gab mir
ein grünes Rosenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich
nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen
Augenblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt, hatte sie den
Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gingen in das Gartenhaus, sie
stand an dem Tische und stützte sich mit ihrer Hand auf die Platte
desselben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen
Augenblicken hatten sich unsere Finger berührt. Sie stand wie eine
feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer
hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige
Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen oder sie
auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände
zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es ist nicht
zu sagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde, der Himmel,
die Sterne, die Sonne, das ganze Weltall verschwindet, und vor dem
Herzen eines Wesens, das nur ein Mädchen ist und das Andere noch ein
Kind heißen. Aber sie war wie der Stengel einer himmlischen Lilie
zaubervoll, anmutsvoll, unbegreiflich.«

»Wir gingen wieder in das Haus, und wir gingen, ehe wir zu dem
Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren
wir stiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde suchte sich ein
Papierstreifchen und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo
ich ihr das Merkzeichen herausgenommen hatte. Dann setzte sie sich zu
dem Claviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred erzählte,
was wir in dem Garten getan hatten und berichtete der Mutter, daß wir
verdorrte und unbrauchbare Blätter von den Rosenzweigen, die an den
Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabgenommen hätten.

Hierauf wurden wir zu dem Mittagessen gerufen. Nachmittag war kein
Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und
Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las
sehr lange, und feurige Tränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine
Augen. Später saß ich auf der Bank in dem Fliedergebüsche und schaute
zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand
manches Mal das Mädchen, das so schön wie ein Engel war, an dem
Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf
dem Claviere sehr ernst, sehr schön und sehr ergreifend. Dann nahm sie
noch die Zither und spielte auf derselben ebenfalls. Die Saiten mußten
sie so ergriffen haben, daß sie nicht aufhören konnte. Sie spielte
immer fort, und die Töne wurden immer rührender und ihre Verbindung
immer natürlicher. Die Mutter lobte sie sehr. Der Vater, welcher in
einem Geschäfte in der nächsten kleinen Stadt gewesen war, kam endlich
auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derselben, bis wir zu
dem Abendessen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm und
führte sie zärtlich in den Speisesaal.«

»Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben
war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß
wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie
geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor
Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber
gaben und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten sie wir uns
gegenseitig kund. Tausend Fäden fanden sich, an denen unsere Seelen zu
einander hin und her gehen konnten.

Wenn wir in dem Besitze von diesen tausend Fäden waren, so fanden sich
wieder tausend und mehrten sich immer. Die Lüfte, die Gräser, die
späten Blumen der Herbstwiese, die Früchte, der Ruf der Vögel, die
Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren
unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefühl verbergen mußte, desto
gewaltiger war es, desto drängender loderte es in dem Innern. Auf
Spaziergänge gingen wir drei, Mathilde, Alfred und ich, jetzt weniger
als sonst, es war, als scheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter
reichte oft den Sommerhut und munterte auf. Das war dann ein großes,
ein namenloses Glück. Die ganze Welt schwamm vor den Blicken, wir
gingen Seite an Seite, unsere Seelen waren verbunden, der Himmel, die
Wolken, die Berge lächelten uns an, unsere Worte konnten wir hören,
und wenn wir nicht sprachen, so konnten wir unsere Tritte vernehmen,
und wenn auch das nicht war, oder wenn wir stille standen, so wußten
wir, daß wir uns besaßen, der Besitz war ein unermeßlicher, und wenn
wir nach Hause kamen, war es, als sei er noch um ein Unsägliches
vermehrt worden. Wenn wir in dem Hause waren, so wurde ein Buch
gereicht, in dem unsere Gefühle standen, und das Andere erkannte die
Gefühle, oder es wurden sprechende Musiktöne hervorgesucht, oder es
wurden Blumen in den Fenstern zusammengestellt, welche von unserer
Vergangenheit redeten, die so kurz und doch so lang war. Wenn wir
durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er
in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem
Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses
allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns
die Hand reichen oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen
Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte
stammeln: >Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und
nur dein, nur dein allein!<«

»>O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein und nur dein
allein.<«

»Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.«

»So war der tiefe Herbst gekommen. Wir hatten in dem Reste des Sommers
ein Äußeres nicht vermißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger
verlangt, in die Nachbarschaft zu fahren, und so war es gekommen, daß
auch die Eltern weniger fuhren und daß auch Fremde weniger zu uns
kamen. Wenn sie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und
Ergötzungen der Kinder Teil nahm, so war Mathilde doch teilnahmloser
als je. Sie hielt sich ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch
in ihrem körperlichen Wesen war in dieser kurzen Zeit eine große
Veränderung vorgegangen. Sie war stärker geworden, ihre Wangen waren
purpurner, ihre Augen glänzender geworden.

Alfred liebte mich sehr. Neben seinen Eltern und seiner Schwester
liebte er vielleicht nichts so sehr als mich, und ich vergalt es ihm
mit ganzer Seele.«

»Der späte Herbst war endlich dem Beginne des Winters gewichen. Wie
wir sehr früh von der Stadt auf das Land gingen, so blieben wir auch
sehr tief in die sinkende Jahreszeit hinein auf demselben. Alfreds
Erwartung war in Erfüllung gegangen. Das Obst und die Trauben waren
abgenommen worden. Auf den Zweigen der Bäume war kein Blatt mehr, und
der Nebel und der Frost zogen sich durch die Gründe des Tales. Da
gingen wir in die Stadt. Dort war Mathilde enger umgrenzt. Lehrer,
Erziehungsstunden, Unterricht, Arbeiten drängten sich an sie heran.
Ihr ganzes Wesen aber war begeisterter und getragener, und ich
erschien mir reich, um Vieles reicher als die Besitzer all der Häuser,
der Palläste und des Glanzes der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur
seltener sprechen; aber wenn sie mir auf dem Gange begegnete, wenn sie
mir in dem Zimmer der Mutter einige Worte sagen konnte, wenn in der
Menge das Geschick uns an einander vorüberführte oder wenn uns ein
anderer geistiger Augenblick gegeben war, dann sagten mir ihre schönen
Augen, dann sagten einige Worte, wie sehr wir uns liebten, wie
unveränderlich diese Liebe sei und wie unbegrenzt unsere Seelen
einander beherrschten. Sie wurde jetzt auch von andern Leuten bemerkt,
und junge Männer richteten ihre Augen auf sie; aber wenn man ihr
entgegen kam, wenn ihr gehuldigt wurde, wenn man sie in einer Familie
feierte, so war sie ganz ruhig gegen diese Dinge, setzte ihnen gar
keine Äußerung entgegen, und ihr engelschönes Wesen sagte mir, es
sagte es nur von mir verstanden, daß sie mit ihrer wundervollen
Gestalt, mit der Wärme ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufblühens nur
mich beglücke, und daß es ihr Wonne mache, mich beglücken zu können.
Oft, wenn ich von weiten Gängen in der Stadt zurückkehrte und zu dem
Hause kam, in welchem wir wohnten, blieb ich stehen und betrachtete
das Haus. Es war merkwürdiger, es war gefeit worden vor den Häusern
der Stadt, und mit Rührung sah ich auf die Mauern, innerhalb welcher
das Wesen wohnte, das von überirdischen Räumen gekommen war, meine
Seele zu erfüllen. Mathilde sah die Vergötterung, welche ich ihr
weihte, sie sah dieselbe genau auf den geheimen Wegen, auf denen ich
ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete darüber von ihrer Stirne,
welche gleichfalls nur von mir gesehen wurde. Die Eltern Mathildens
fingen auch an, sie in vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als sie bisher
getan hatten, und wenn sie mit edlen Gewändern angetan vor mir stand,
kam sie mir ferner und näher, fremder und angehöriger vor als sonst.«

»Eines Tages, als ich über die Treppe unsers Hauses, welches nur von
unserer Familie allein bewohnt wurde, herabging, um einen Freund zu
besuchen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mutter an das Haus
gefahren, die Mutter war in dem Wagen sitzen geblieben, sie aber
sollte hinaufgehen, um irgend etwas zu holen. Sie war in schwarze
Seide gekleidet, ein seidenes Mäntelchen war um ihre Schultern, und
aus dem Hute mit dem grünen Flore sah das blühende, durch die Kälte
erfrischte Angesicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der
Treppe begegneten, wurde sie dunkelglühend. Ich erschrak und sagte
aber: >O Mathilde, Mathilde, du himmelvolles Wesen, alle streben sie
nach dir, wie wird das werden, o wie wird das werden?!<«

»>Gustav, Gustav<, antwortete sie, >du bist der trefflichste von
allen, du bist ihr König, du bist der Einzige, alles ist gut und
herrlich, und Millionen Kräfte sollen es nicht zerreißen können.<«

»Ich ergriff ihre Hand, ein glühender Kuß, nur einen Augenblick
gegeben, aber mit fest aneinandergedrückten Lippen, bekräftigte die
Worte. Ich hörte ihre Seide die Treppe emporrauschen, ich aber ging
die Stufen hinunter. Da ich unten die gläserne Doppeltür der Treppe
geöffnet hatte, sah ich den Wagen stehen. Hinter den Fenstern
desselben saß freundlich die Mutter Mathildens und sah mich an. Ich
grüßte sie ehrerbietig und ging vorüber. Ich ging nun nicht mehr zu
dem Freunde, den ich hatte besuchen wollen.«

»Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen hatte, immer eifriger,
ich war immer sorgsamer, daß er es gut inne habe, und legte, wo ich
konnte, wie früher und in noch größerem Maße selber Hand an. Auch auf
den Gang seiner Entwickelung im Allgemeinen suchte ich so einzuwirken,
wie es mir nur möglich war. Ich sprach sehr viel mit ihm und ging sehr
viel mit ihm um. Er schloß sich, da er es wohl wußte, daß ich ihn
liebe, immer inniger an mich an, ja er schloß sich auf das Innigste
und fast ausschließlich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande so auch
in der Stadt neben mir.«

»Im ersten Frühlinge fuhren wir wieder wie im vorigen Jahre nach
Heinbach. Es war wieder die Veranstaltung getroffen, daß Mathilde,
Alfred und ich in einem Wagen fuhren. Alfred saß wieder neben mir und
schmiegte sich an mich. Mathilde saß gegenüber. Und so konnten wir
uns zwei Tage mit den Augen der Liebe ungehindert ansehen und konnten
mit einander sprechen. Und wenn wir auch von gleichgültigen Dingen
redeten, so hörten wir doch unsere Stimme, und in gewöhnlichen Dingen
zitterte das tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glückseligsten
meines Lebens.«

»Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben, wie es im vergangenen
Jahre gewesen war. Wir waren ungebunden und konnten leichter unsere
Seelen tauschen. Wir waren freier in dem Zimmer der Mutter oder in dem
des Vaters, wir konnten den Garten besuchen, wir konnten unter den
Bäumen des Rasenplatzes wandeln und wir konnten spazieren gehen. Am
liebsten wurde uns der Weinlaubengang. Er war ein Heiligtum geworden,
seine Zweige sahen uns vertraut an, seine Blätter wurden unsere
Zeugen, und durch seine Verschlingungen bebte manches tiefe Wort und
wehte mancher Hauch der unergründlichsten Glückseligkeit. Fast ebenso
lieb war uns das Gartenhaus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit
seinen schützenden Mauern, und es umgab uns wie ein stiller Tempel,
wenn wir alle drei eintraten und zwei Gemüter wallten. Wir gingen
oft an diese beiden Orte. Die Verbindungsfäden wuchsen tausendfach,
Mathilde wurde stets noch herrlicher, sie wurde von Andern immer
heißer begehrt, aber ihre Seele schloß sich nur fester an die
meinige.«

»Ich machte jetzt oft sehr große Wege allein. Wenn ich so weit war,
daß ich das Haus nicht mehr sehen konnte und wenn ich so dastand und
die weißen Wolken betrachtete, die über dem Hause stehen mußten, und
wenn ich auf den Wald sah, jenseits dessen das Haus sich befand, so
kam eine tiefe Bewegung in mich. Und wenn ich dann nach Hause eilte,
ins Innere der Mauern ging, sie da sah und an ihr die Freude des
Wiedersehens erkannte, so frohlockte gleichsam springend mir das Herz
in dem Busen über meinen unendlichen Besitz.«

»Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück
bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens
täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen
nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl und immer ängstender
lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches
immer größer wird, wenn man es berührt.«

»Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich
wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges
Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein,
sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären
und befestigen.«

»Ich ging nun zur Mutter Mathildens und sagte ihr alles mit schlichten
Worten, aber mit zagender Stimme.«

»>Ich habe das von euch nicht erwartet und nicht geahnt<, erwiderte
sie, >ich kann euch auch einen Bescheid nicht geben. Ich muß erst mit
meinem Gatten sprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zimmer, und ich
werde euch antworten.<«

»Ich verbeugte mich, verließ ihr Gemach und begab mich in mein
Eckzimmer.«

»Als die Stunde vorüber war, ging ich in das Besuchzimmer der Mutter
Mathildens. Sie erwartete mich schon. Sie saß an ihrem Tische, um den
wir uns so oft versammelt hatten. Sie bot mir auch einen Stuhl an.
Nachdem ich mich gesetzt hatte, sagte sie: >Mein Gatte ist mit mir
gleicher Ansicht. Wir haben euch ein Vertrauen geschenkt, das so groß
war, daß wir es nicht verantworten können. Ihr gabet uns Grund zu
diesem Vertrauen. Wir wollen nicht weiter darüber rechten. Aber eins
muß gesprochen werden. Die Verbindung, welche ihr beide geschlossen
habt, ist ohne Ziel, wenigstens ist jetzt ein Ziel nicht abzusehen.
Ihr mögt wohl beide einen gleichen Anteil an der Schließung dieses
Bundes haben. Aber beide durftet ihr vielleicht an seine Folgen nicht
gedacht haben, sonst könnten wir euch schwerer entschuldigen. Ihr habt
euch nur eurem Gefühle hingegeben. Ich begreife das. Ich kann mir nur
nicht erklären, daß ich es nicht schon früher begriffen habe. Ich habe
euch so - so sehr vertraut. Hört mich aber jetzt an. Mathilde ist noch
ein Kind, es muß eine Reihe von Jahren vergehen, in denen sie noch
lernen muß, was ihr für ihren einstigen Beruf not tut, es muß noch
eine Reihe von Jahren vergehen, ehe sie nur begreift, was der Bund
ist, den sie eben geschlossen hat. Sie ist lebhaft, sie hat ein Gefühl
von ihrer Seele Besitz nehmen lassen, welches ihr angenehm ist und
welches wahrscheinlich diese ihre ganze Seele erfüllt. Sollen wir sie
in diesem Gefühle befangen sein lassen in der ganzen Zeit, in der sie
erst die wichtigsten Vorbereitungen zu ihrem künftigen Leben treffen
muß, oder soll sie ruhiger sein, um diese Vorbereitungen in dem
rechten Maße treffen zu können? Soll das Gefühl nun fortdauern, immer
fort, bis wir sagen können, daß sie Braut sei? Wenn es fortdauert,
wird es nicht peinigende Stunden bringen, da es nicht so bald in
seinen natürlichen Abschluß gelangen kann und Zweifel, Ungeduld,
Vorwärtstreiben, Unmut und Schmerz in seinem Gefolge führen? Wird es
da nicht jene schönen, edlen, heitern, ruhigen Tage wegfressen, die
der aufblühenden Jungfrau bestimmt sind, ehe sie den Brautkranz
in ihre Haare flicht? Sind nicht oft frühzeitige, auf weite Ziele
gerichtete Neigungen die Zerstörerinnen des Lebensglückes geworden?
Wenn ihr Mathilden liebt, wenn ihr sie mit wahrhafter Liebe eures
Herzens liebt, könnt ihr sie einer solchen Gefahr aussetzen
wollen? Gräbt nicht tiefes Sehnen und heftiges Fühlen, durch Jahre
fortgesetzt, alle Kräfte des Menschen an? Und wie, wenn die Neigung
des einen schwindet und das andere trostlos ist? Oder wenn sie in
beiden ermattet und eine Leere hinter sich läßt? Ihr werdet beide
sagen, das sei bei euch nicht möglich. Ich weiß, daß ihr jetzt so
fühlt, ich weiß, daß es bei euch vielleicht auch nicht möglich
ist; allein ich habe oft gesehen, daß Neigungen aufhörten und sich
änderten, ja daß die stärksten Gefühle, welche allen Gewalten
trotzten, dann, da sie keinen andern Widerstand mehr hatten als
die zähe, immer dauernde, aufreibende Zeit, dieser stillen und
unscheinbaren Gewalt unterlegen sind. Soll Mathilde - ich will sagen
eure Mathilde - dieser Möglichkeit anheimgegeben werden? Ist ihr das
Leben, in das sie jetzt mit frischer Seele hinein sieht, nicht zu
gönnen? Es ist größere Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten,
ja die gegenwärtige Seligkeit des geliebten Gegenstandes auch nicht
achten, aber dafür das ruhige, feste und dauernde Glück desselben
begründen. Das, glaube ich, ist eure und ist Mathildens Pflicht. Ihr
könnt nur nicht einwenden, daß dieses Glück durch eine Verbindung,
die sogleich geschlossen wird, zu begründen sei. Wenn auch Mathildens
Vermögen so groß wäre, daß daraus ein Familienbesitzstand gegründet
werden könnte, wenn ihr es auch über euch vermöchtet, von dem
Vermögen eurer Gattin wenigstens eine Zeit hindurch zu leben, was ich
bezweifle, so wäre damit doch noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie
ich sagte, die bei weitem größere Zahl von Eigenschaften noch nicht
besitzt, welche eine Gattin und Mutter besitzen muß, da sie ferner
nach den Ansichten, die wir über das körperliche Wohl unserer Kinder
für unsere Pflicht halten, wenigstens vor sechs oder sieben Jahren
sich nicht vermählen kann, und da also die Unsicherheit und Gefahr,
wie ich früher sprach, auch bei dieser eurer Behauptung für sie und
euch vorhanden wären. Da die Kinder in dem Alter Mathildens ihren
Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und da gute Kinder, wozu ich
Mathilden zähle, auch wenn es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne
folgen, weil sie der Liebe und der bessern Einsicht der Eltern
vertrauen; so hätte ich nur sagen dürfen, mein Gatte und ich erkennen,
daß zum Wohle Mathildens das Band, das sie geschlungen hat, nicht
fortdauern dürfe und daß sie daher dasselbe abbrechen möge; allein
ich habe euch die Gründe unserer Ansicht entwickelt, weil ich euch
hochachte und weil ich auch gesehen habe, daß ihr mir zugetan seid,
wie ja auch euer Geständnis beweist, welches freilich etwas früher
hätte gemacht werden sollen. Erlaubt, daß ich nun auch von euch etwas
spreche. Ihr seid, wenn auch älter als Mathilde, doch als Mann noch so
jung, daß ihr die Lage in der ihr seid, kaum zu beurteilen fähig sein
dürftet. Mein Gatte und ich sind der Ansicht, daß ihr, so weit wir
euch kennen, durch euer Gefühl, das immer edel und warm ist, in
die Neigung zu Mathilden, der wir auch als Eltern immerhin einigen
Liebreiz zusprechen müssen, gestürzt worden seid, daß sich euch das
Gefühl als etwas Hohes und Erhabenes angekündigt hat, das euch noch
dazu so beseligte, und daß ihr daher an keinen Widerstand gedacht
habt, der euch ja auch als Untreue an Mathilden erscheinen mußte.
Allein eure Lage, in dieser Art genommen, darf nicht als die
gesetzmäßige bezeichnet werden. Ihr seid so jung, ihr habt euch in den
Anfang einer Laufbahn begeben. Ihr müßt nun in derselben fortfahren
oder, wenn ihr sie mißbilligt, eine andere einschlagen. In ganz und
gar keiner kann ein Mann von eurer Begabung und eurem inneren Wesen
nicht bleiben. Welche lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benützen
müßt, euch in jene feste Lebenstätigkeit zu bringen, die euch not tut,
und euch jene äußere Unabhängigkeit zu erwerben, die ihr braucht,
damit ihr Beides zur Errichtung eines dauernden Familienverhältnisses
anwenden könnt. Welche Unsicherheit in euren Bestrebungen, wenn ihr
eine verfrühte Neigung in dieselben hinein nehmt, und welche Gefahren
in dieser euch beherrschenden Neigung für euer Wesen und euer Herz!
Es wird euch beiden jetzt Schmerz machen, das geknüpfte Band zu lösen
oder wenigstens aufzuschieben, wir wissen es, wir fühlen den Schmerz,
ihr beide dauert uns, und wir machen uns Vorwürfe, daß wir die
entstandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt haben; aber ihr werdet
beide ruhiger werden, Mathilde wird ihre Bildung vollenden können, ihr
werdet in eurem zukünftigen Stande euch befestigst haben, und dann
kann wieder gesprochen werden. Ihr hättet auch ohne diese Neigung
nicht lange mehr in eurer gegenwärtigen Stellung bleiben können. Wir
verdanken euch sehr viel. Unser Alfred und auch Mathilde reiften an
euch sehr schön empor. Aber eben deshalb hätten wir es nicht über
unser Gewissen bringen können, euch länger zu unserem Vorteile von
eurer Zukunft abzuhalten, und mein Gatte hatte sich vorgenommen, mit
euch über diese Sache zu sprechen. Überdenkt, was ich euch sagte. Ich
verlange heute keine Antwort; aber gebt sie mir in diesen Tagen. Ich
habe noch einen Wunsch, ich kenne euch und ich will ihn euch deshalb
anvertrauen. Ihr habt eine sehr große Gewalt über Mathilden, wie
wir wohl immer gesehen haben, wie sie uns in ihrer Größe aber nicht
erschienen ist, wendet, wenn meine Worte bei euch einen Eindruck
machten, diese Gewalt auf sie an, um sie von dem zu überzeugen, was
ich euch gesagt habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn es euch
gelingt, glaubt mir, so erweiset ihr Mathilden dadurch eine große
Liebe, ihr erweiset sie euch und auch uns. Geht dann mit dem Eifer,
der Begabung und der Ausdauer, wie ihr sie in unserem Hause bewiesen
habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle sehr zugetan, ihr werdet
wieder Neigung und Anhänglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden
und alles wird sich zum Guten wenden.<«

»Sie hatte ausgesprochen, legte ihre schöne, freundliche Hand auf den
Tisch und sah mich an.«

»>Ihr seid ja so blaß wie eine getünchte Wand<, sagte sie nach einem
Weilchen.«

»In meine Augen drangen einzelne Tränen, und ich antwortete: >Jetzt
bin ich ganz allein. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester sind
gestorben.< Mehr konnte ich nicht sagen, meine Lippen bebten vor
unsäglichem Schmerz.«

»Sie stand auf, legte ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte unter
Tränen mit ihrer lieblichen Stimme: >Gustav, mein Sohn! Du bist es ja
immer gewesen, und ich kann einen besseren nicht wünschen. Geht jetzt
beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn dann einst euer gereiftes
Wesen dasselbe sagt, was jetzt das wallende Herz sagt, dann kommt
beide, wir werden euch segnen. Stört aber durch Fortspinnen, Steigern
und vielleicht Abarten eurer jetzigen heftigen Gefühle nicht die euch
so nötige letzte Entwicklung.<«

»Es war das erste Mal gewesen, daß sie mich du genannt hatte.«

»Sie verließ mich und ging einige Schritte im Zimmer hin und wieder.«

»>Verehrte Frau<, sagte ich nach einer Weile, >es ist nicht nötig,
daß ich euch morgen oder in diesen Tagen antworte; ich kann es jetzt
sogleich. Was ihr mir an Gründen gesagt habt, wird sehr richtig sein,
ich glaube, daß es wirklich so ist, wie ihr sagt; allein mein ganzes
Innere kämpft dagegen, und wenn das Gesagte noch so wahr ist, so
vermag ich es nicht zu fassen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe
und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich jetzt nicht denken
kann. Aber eins ist es, was ich fasse. Ein Kind darf seinen Eltern
nicht ungehorsam sein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn
es nicht die Eltern oder sich selbst verwerfen soll. Mathilde kann
ihre guten Eltern nicht verwerfen, und sie ist selber so gut, daß sie
auch sich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, daß sie jetzt
das geschlossene Band auflösen möge, und sie wird folgen. Ich will es
nicht versuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen.
Die Gründe, welche ihr mir gesagt habt und welche in mein Wesen nicht
eindringen wollen, werden in dem eurigen fest haften, sonst hättet
ihr mir sie nicht so nachdrücklich gesagt, hättet sie mir nicht mit
solcher Güte und zuletzt nicht mit Tränen gesagt. Ihr werdet davon
nicht lassen können. Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß
das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil
sein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefsten Überzeugung gesagt.
Selbst wenn ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten euch zu erweichen
vermöchten, so würde euer freudiger Wille, euer Herz und euer Segen
mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern,
ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund
der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und euer ernstes oder
bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist
der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so
lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame
Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie
jetzt liebe, eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele,
wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden
daher das Band lösen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. - O
Mutter, Mutter! - laßt euch diesen Namen zum ersten und vielleicht
auch zum letzten Male geben -, der Schmerz ist so groß, daß ihn keine
Zunge aussprechen kann und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen
vermocht habe!<«

»>Ich bekenne es<, antwortete sie, >und darum ist ja der Kummer, den
ich und mein Gatte empfinden, so groß, daß wir unserem teuren Kinde
und euch, den wir auch lieben, die Seelenkränkung nicht ersparen
können.<«

»>Ich werde morgen Mathilden sagen<, erwiderte ich, >daß sie ihrem
Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse. Heute erlaubt mir, verehrte
Frau, daß ich meine Gedanken etwas ordne - und daß ich auch noch
andere Dinge ordne, die not tun.<«

»Die Tränen waren mir wieder in die Augen getreten.«

»>Sammelt euch, lieber Gustav<, sagte sie, >und tut, was ihr für gut
haltet, sprecht mit Mathilden oder sprecht auch nicht, ich schreibe
euch nichts vor. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einsehen werdet,
daß ich euch nicht so unrecht tue, als ihr jetzt vielleicht glauben
möget.<«

»Ich küßte ihr die Hand, die sie mir gütig gab, und verließ das
Zimmer.«

»Am andern Tage bat ich Mathilden, mit mir einen Gang in den Garten
zu machen. Wir gingen durch den ersten Teil desselben, und wir gingen
durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhause, an dem die Rosen
blühten. Während wir so wandelten, sprachen wir fast kein Wort,
außer daß wir sagten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das
Weinlaub schön sei und wie der Tag sich so ausgeheitert habe. Wir
waren zu gespannt auf das, was da kommen werde, Mathilde auf das, was
ich ihr mitzuteilen habe, und ich auf das, wie sie die Mitteilung
aufnehmen werde. In der Nähe des Gartenhauses war eine Bank, auf
welche von einem Rosengebüsche Schatten fiel. Ich lud sie ein, mit mir
auf der Bank Platz zu nehmen. Sie tat es. Es war das erste Mal, daß
wir ganz allein in den Garten gingen und daß wir allein bei einander
auf einer Bank saßen. Es war das Vorzeichen, daß uns dies in Zukunft
entweder ungestört werde gestattet sein oder daß es das letzte Mal sei
und daß man darum ein unbedingtes Vertrauen in uns setze. Ich sah,
daß Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen Wesen war die höchste
Erwartung ausgeprägt. Deßohngeachtet rief sie mit keinem Worte den
Anfang der Mitteilungen hervor. Mein Wesen mochte sie in Angst gesetzt
haben; denn obwohl ich mir unzählige Male in der Nacht die Worte
zusammengestellt hatte, mit denen ich sie anreden wollte, so
konnte ich doch jetzt nicht sprechen, und obwohl ich suchte, meine
Empfindungen zu bemeistern, so mochte doch der Schmerz in meinem
Äußern zu lesen gewesen sein. Da wir schon eine Weile gesessen, waren,
auf unsere Fußspitzen gesehen und, was zu verwundern war, uns nicht
an der Hand gefaßt hatten, fing ich an, mit zitternder Stimme und mit
stockendem Atem zu sagen, was ihre Eltern meinen, und daß sie den
Wunsch hegen, daß wir wenigstens für die jetzige Zeit unser Band
auflösen mögen. Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben
hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen
habe und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.«

»Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt.«

»>Ich bitte dich, wiederholt mir nur in Kurzem, was du gesprochen hast
und was wir tun sollen<, sagte sie.«

»>Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen<,
antwortete ich.«

»>Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei
mir auszuwirken?< fragte sie.«

»>Mathilde, nicht auszuwirken<, antwortete ich, >wir müssen gehorchen;
denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.<«

»>Ich muß gehorchen<, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, >und
ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern
sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag
übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten,
aufzulösen. Du mußtest sagen: Frau, eure Tochter wird euch gehorsam
sein, sagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, eure
Vorschriften zu befolgen, ich werde euer Kind lieben, so lange ein
Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in
ihren Besitz zu gelangen. Und da sie euch gehorsam ist, so wird sie
mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich
werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so
lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer Andern
ein Teilchen von Neigung schenken und werde nie von ihr lassen.
So hättest da sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse
fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast,
und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen,
und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses
stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöset, ehe du mit mir
hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich
dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn
jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: Nehmet euch,
besitzet euch in Ewigkeit, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue
gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die
Sterne an dem Baue des Himmels.<«

»>Mathilde<, sagte ich, >was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer,
als was du verlangtest.<«

»>Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede<,
antwortete sie, >von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen
Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie
konntest du das tun?<«

»Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die
an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die
beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: >Hört es, ihr
tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es
du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen
hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache
ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es
ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten
hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige
Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch
für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den
Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen - und ich
hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich
gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus,
um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von Außen
gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich
hätte sie ertragen, aber nun er - er -! Er macht es unmöglich für
alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber
zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares
Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.<«

»Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand.
Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging
gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.«

»>Mathilde<, sagte ich, >es handelt sich nicht um den Bruch der Treue,
die Treue ist nicht gebrochen worden. Verwechsle die Dinge nicht. Wir
haben gegen die Eltern unrecht gehandelt, daß wir ihnen verbargen,
was wir getan haben, und daß wir in dem Verbergen beharrend geblieben
sind. Sie fürchten Übles für uns. Nicht die Zerstörung unserer Gefühle
verlangen sie, nur die Aufhebung des Äußerlichen unseres Bundes auf
eine Zeit.<«

»>Kannst du eine Zeit nicht mehr du sein?< erwiderte sie, >kannst du
eine Zeit dein Herz nicht schlagen lassen? Äußeres, Inneres, das ist
alles eins, und alles ist die Liebe. Du hast nie geliebt, weil du es
nicht weißt.<«

»>Mathilde<, antwortete ich, >du warst immer so gut, du warst edel,
rein, herrlich, daß ich dich mit allen Kräften in meine Seele schloß:
heute bist du zum ersten Male ungerecht. Meine Liebe ist unendlich,
ist unzerstörbar, und der Schmerz, daß ich dich lassen muß, ist
unsäglich, ich habe nicht gewußt, daß es einen so großen auf Erden
gibt; nur der ist größer, von dir verkannt zu sein. Ich unterscheide
nicht, wer dir das Gebot der Eltern hätte sagen sollen, es ist das
einerlei, sie sind die Eltern, das Gebot ist das Gebot, und das
Heiligste in uns sagt, daß die Eltern geehrt werden müssen, daß das
Band zwischen Eltern und Kind nicht zerstört werden darf, wenn auch
das Herz bricht, So fühlte ich, so handelte ich, und ich wollte dir
das Notwendige recht sanft und weich sagen, darum übernahm ich die
Sendung; ich glaubte, es könne dir niemand das Bittere so sanft und
weich sagen wie ich, darum kam ich. Aus Güte, aus Mitleid kam ich.
Die Pflicht leitete mich, in der Pflicht bricht mein Herz, und in dem
brechenden Herzen bist du.<«

»>Ja, ja, das sind die Worte<, sagte sie, indem ihr Schluchzen immer
heftiger und fast krampfhaft wurde, >das sind die Worte, denen ich
sonst so gerne lauschte, die so süß in meine Seele gingen, die schon
süß waren, als du es noch nicht wußtest, denen ich glaubte wie der
ewigen Wahrheit. Du hättest es nicht unternehmen müssen, mich zur
Zerreißung unserer Liebe bewegen zu wollen, es soll, wenn hundertmal
Pflicht, dir nicht möglich gewesen sein. Darum kann ich dir jetzt
nicht mehr glauben, deine Liebe ist nicht die, die ich dachte und die
die meinige ist. Ich habe den Vergleichpunkt verloren und weiß nicht,
wie alles ist. Wenn du einst gesagt hättest, der Himmel ist nicht der
Himmel, die Erde nicht die Erde, ich hätte es dir geglaubt. Jetzt weiß
ich es nicht, ob ich dir glauben soll, was du sagst. Ich kann nicht
anders, ich weiß es nicht, und ich kann nicht machen, daß ich es weiß.
O Gott! daß es geworden ist, wie es ward, und daß zerstörbar ist, was
ich für ewig hielt! Wie werde ich es ertragen können?<«

»Sie barg ihr Angesicht in den Rosen vor ihr, und ihre glühende Wange
war auch jetzt noch schöner als die Rosen. Sie drückte das Angesicht
ganz in die Blumen und weinte so, daß ich glaubte, ich fühle das
Zittern ihres Körpers oder es werde eine Ohnmacht ihren Schmerz
erschöpfen. Ich wollte sprechen, ich versuchte es mehrere Male; aber
ich konnte nicht, die Brust war mir zerpreßt und die Werkzeuge des
Sprechens ohne Macht. Ich faßte nach ihrem Körper, sie zuckte aber
weg, wenn sie es empfand. Dann stand ich unbeweglich neben ihr. Ich
griff mit der bloßen Hand in die Zweige der Rosen, drückte, daß mir
leichter würde, die Dornen derselben in die Hand und ließ das Blut an
ihr nieder rinnen.«

»Als das eine Zeit gedauert hatte, als sich ihr Weinen etwas gemildert
hatte, hob sie das Angesicht empor, trocknete mit dem Tuche, das sie
aus der Tasche genommen, die Tränen und sagte: >Es ist alles vorüber.
Weshalb wir noch länger hier bleiben sollen, dazu ist kein Grund,
lasse uns wieder in das Haus gehen und das Weitere dieser Handlung
verfolgen. Wer uns begegnet, soll nicht sehen, daß ich so sehr geweint
habe.<«

»Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Augen, ließ neue Tränen
nicht mehr hervorquellen, richtete sich empor, strich sich die Haare
ein wenig zurecht und sagte: >Gehen wir in das Haus.<«

»Sie richtete sich mit diesen Worten zum Gehen gegen den
Weinlaubengang, und ich ging neben ihr. Das Blut an meiner Hand konnte
sie nicht sehen. Ich unternahm es nicht mehr, sie zu trösten, ich sah,
daß ihre Verfassung dafür nicht empfänglich war. Auch erkannte ich,
daß sie im Zorne gegen mich ihren Schmerz leichter ertrage, als wenn
dieser Zorn nicht gewesen wäre. Wir gingen schweigend in das Haus.
Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Mathilde warf sich ihrer
Mutter an das Herz. Ich küßte der Frau die Hand und entfernte mich.«

»Den ganzen übrigen Teil des Tages verbrachte ich damit, meine Habe zu
packen, um morgen dieses Haus verlassen zu können. Mathildens Vater
besuchte mich einmal und sagte: >Kränket euch nicht zu sehr, es wird
vielleicht noch alles gut.<«

»Im Übrigen waren seine Gründe, die er freundlich und sanft sagte, die
nehmlichen wie die seiner Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu
mir herüber, lächelte trübsinnig bei meinem Treiben und gab mir die
Hand. Meine Hoffnungen waren düsterer, als es die dieser zwei Menschen
zu sein schienen. Mathildens Glauben an mich war erschüttert. Da ich
meine Absicht, morgen abreisen zu wollen, erklärt hatte, und man
nichts mehr dagegen einwendete, was man Anfangs tat, rief ich Alfred
und sagte ihm, daß ich nicht etwa eine größere Reise vor habe, wie er
glauben mochte, sondern daß ich auf lange, vielleicht auf immer dieses
Haus verlasse. Es seien Umstände eingetreten, die dies notwendig
machten. Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte ihn gar
nicht besänftigen, ja ich weinte beinahe selber laut. Er wurde später
zu beiden Eltern, die in der Schreibstube des Vaters waren, geholt,
damit sie ihn beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der
Aufsicht eines Dieners ein anderes. Als er in dasselbe gebracht worden
war, ging ich zu den Eltern und sagte ihnen den Dank für alles Gute,
das ich in ihrem Hause genossen habe. Sie dankten mir auch und ließen
mich Hoffnungen erblicken. Es ward verabredet, daß ich mit den Pferden
des Hauses auf die nächste Post gebracht werden solle. Mathilde
erschien nicht zum Abendessen.«

»Am nächsten Morgen wurde der Wagen bepackt. Ich machte mich
reisefertig. Es war mir erlaubt worden, von Mathilden Abschied nehmen
zu dürfen. Sie weigerte sich aber, mich zu sehen. Ich ging daher in
meine Wohnung, reichte dem alten Raimund die Hand und sagte: >Lebe
wohl, Raimund.<«

»>Lebt recht wohl, junger Herr<, antwortete er, >und seid recht
glücklich.<«

»>Du weißt nicht, Raimund!<«

»>Ich weiß, ich weiß, junger Herr - es kann ja werden.<«

»>Lebe wohl.<«

»Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete mich. Unten bei dem
Wagen stand der Herr und die Frau des Hauses und mehrere von den
Dienstleuten. Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen. Alfred,
der spät entschlummert war, schlief noch; die Besitzer des Hauses
nahmen auf eine auszeichnende Weise von mir Abschied, die Umstehenden
beurlaubten sich auch, wünschten mir Glück und eine fröhliche
Wiederkehr. Ich bestieg den Wagen und fuhr von Heinbach dahin.«

»Der Besitzer dieses Hauses hatte mir einmal gesagt: >Vielleicht
verlasset ihr einst unser Haus nicht mit Reue und Schmerz.<«

»Ich verließ es nicht mit Reue, aber mit Schmerz.«

»Er hatte auch die Vermutung ausgesprochen, daß mir etwa auch seine
Familie unvergeßlich bleiben durfte. Sie blieb mir unvergeßlich.«

»Ich verabschiedete auf der Post den Wagen aus Heinbach, das letzte
Merkmal aus diesem Orte, und ließ mich nach der Stadt einschreiben, wo
ich so lange gewesen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von
wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo sich das Haus von Mathildens
Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt.«

»In der Nähe meiner Heimat ist im Walde eine Felskuppe, von welcher
man sehr weit sieht. Sie geht mit ihrem nördlichen Rücken sanft ab und
trägt auf ihm sehr dunkle Tannen. Gegen Süden stürzt sie steil ab, ist
hoch und geklüftet und sieht auf einen dünnbestandenen Wald, zwischen
dessen Stämmen Weidegrund ist. Jenseits des Waldes erblickt man Wiesen
und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband
und über diesem die fernen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in
meine Heimat und von der Heimat auf diese Felskuppe. Ich saß auf ihr
und weinte bitterlich. Jetzt war ich verödet, wie ich früher nie
verödet gewesen war. Ich sah in das dunkle Innere der Schlünde und
fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen
Mutter mischte sich in diese unklare, schauerliche Vorstellung, und
wurde mir ein Liebes, an das ich denken mußte. Ich ging täglich auf
diese Kuppe und blieb oft mehrere Stunden auf ihr sitzen. Ich weiß
nicht, warum ich sie suchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und
wir machten uns das Vergnügen, Steine ziemlicher Größe von ihr hinab
zu werfen, um den Steinstaub aufwirbeln zu sehen, wenn der Geworfene
auf Klippen stieß, und um sein Gepolter in den Klippen und sein
Rasseln in dem am Fuße des Felsens befindlichen Gerölle zu hören. Von
dieser Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen Mathildens
Wohnung lag, man sah nicht einmal Gebirgszüge, die an sie grenzten.
Ich ging auch nach und nach in anderen Teilen der Umgebung meines
Heimatortes herum. Mein Schwager war ein sanfter und stiller Mann,
und wir sprachen in meinem Geburtshause oft einen ganzen Tag hindurch
nicht mehr als einige Worte.«

»Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreise und
auf meine Berufsarbeiten, die ich schon so lange vergessen hatte und
auf die ich, in dem Hause in Heinbach befangen, vielleicht noch länger
nicht gedacht haben würde.«

»Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelassen hatte,
und widmete mich ernstlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich
die Vorbereitungsschulen besucht hatte. Ich meldete mich zum
Staatsdienste, wurde eingereiht und arbeitete jetzt sehr fleißig in
dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch
zurückgezogener als sonst. Mein kleines Gehalt und das Erträgnis
meines Ersparten reichten hin, meine Bedürfnisse zu decken. Ich
wohnte in einem Teile der Vorstadt, welcher von dem Hause der Eltern
Mathildens sehr weit entfernt war. Im Winter ging ich fast nirgends
hin als von meiner Wohnstube in meine Amtsstube, welcher Weg wohl sehr
lange war, und von der Amtsstube in meine Wohnstube. Meine Nahrung
nahm ich in einem kleinen Gasthause an meinem Wege ein. Freunde und
Genossen besuchte ich wenig, mir war alle Verbindung mit Menschen
verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geschichte der
Staatswissenschaften und der Wissenschaften der Natur. Ein Gang auf
dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wanderung in einem einsamen Teil
der Umgebungen der Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden sah
ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer
der breiten Straßen der Vorstädte, in einer Gegend, in welcher ich
sie nicht vermutet hatte. Ich blickte hin, erkannte sie und meinte
umsinken zu müssen. Ob sie mich gesehen hat, weiß ich nicht. Ich ging
dann in meine Amtsstube zu meinem Schreibtische. In der ersten Zeit
wurde ich von meinen Vorgesetzten wenig beachtet. Ich arbeitete mit
einem außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine Wunde
geworden, und ich flüchtete gern zu dieser Arznei. So lange alle diese
Verhältnisse, welche in meinen Amtsgeschäften vorkamen, in meinem
Haupte waren, war nichts Anderes darin. Schmerzvoll waren nur die
Zwischenräume. Auch die Wissenschaften leiteten nicht so sicher ab.
Mein Fleiß lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf sich, man beförderte
mich. Anfangs ging es langsamer, dann schneller. Nach dem Verlaufe
von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des
Staatsdienstes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Teile
der Stadteinwohnerschaft berechtigten, und ich hatte die gegründete
Aussicht, noch weiter zu steigen. In solchen Verhältnissen werden
gewöhnlich die Ehen mit Mädchen aus ansehnlicheren Häusern
geschlossen, welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familienleben
führen. Mathilde mußte jetzt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig
Jahre alt sein. Irgend eine Annäherung ihrer Eltern an mich hatte
nicht statt gefunden, auch konnte ich nicht die geringsten Merkmale
auffinden, wie unermüdlich ich auch suchte, daß sie sich nach mir
erkundigt hätten. Ich konnte also unmittelbare Schritte zur Annäherung
an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche
sie auf die gewisseste Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung
überzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurück, daß mich
Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichtums und
ihrer unbeschreiblichen Schönheit willen sich die glänzendsten Anträge
fanden, konnte sie nicht gebracht werden.

Mit tiefem, schwerem Ernste breitete ich nun das Bahrtuch der
Bestattung über die heiligsten Gefühle meines Lebens.«

»Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner
Staatslaufbahn erging. Es gehört nicht hieher und ist euch wohl im
Wesentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwechselnd zu
verschiedenen Stellen versetzt, große, umfassende Arbeiten, Reisen,
Berichte, Vorschläge wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen
verwendet, kam mit den verschiedensten Menschen in Berührung, und der
Kaiser wurde, ich kann es wohl sagen, beinahe mein Freund. Als ich in
den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus
der Entfernung zu mir, um, wie er sagte, mir seine Aufwartung zu
machen. Obwohl er meine Mutter vernachlässigt hatte, ja nach dem
Tode meines Vaters durch seine Zurückhaltung beinahe hart gegen sie
gewesen war, so nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner
Verlassenheit zuletzt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte.
Wir blieben seit jener Zeit mit einander in Briefwechsel. Es kamen
wohl viele Menschen mit mir in Verbindung und ich lernte manche
Seiten der Gesellschaft kennen; aber teils waren die Verbindungen
Geschäftsverbindungen, teils drängten sich Menschen an mich, die
durch mich zu steigen hofften, teils waren die Begegnungen ganz
gleichgültig. Wie schwer mir aber meine Geschäfte wurden, wie sehr
ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch schon
gesagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann geworden. Da
ich viel in der Entfernung lebte, wußte ich manche Beziehungen der
Hauptstadt nicht. Mathilde hatte sich in etwas vorgerückteren Jahren
vermählt. Der Friede wurde dauernd hergestellt, ich blieb wieder
beständig in der Hauptstadt, und hier tat ich etwas, das mir ein
Vorwurf bis zu meinem Lebensende sein wird, weil es nicht nach den
reinen Gesetzen der Natur ist, obwohl es tausend Mal und tausend
Mal in der Welt geschieht. Ich heiratete ohne Liebe und Neigung. Es
war zwar keine Abneigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die
Hochachtung war gegenseitig groß. Man hatte mir viel davon gesagt, daß
es meine Pflicht sei, mir einen Familienstand zu gründen, daß ich im
Alter von teuern Angehörigen umgeben sein müsse, die mich lieben,
pflegen und schützen und auf die meine Ehren und mein Name übergehen
können. Es sei auch Pflicht gegen die Menschheit und den Staat. Auf
meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches
Wesen nicht habe, sagten sie, Neigungen führen oft zu unglücklichen
Verbindungen, Kenntnis der gegenseitigen Beschaffenheit und
wechselseitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Trotz meiner
gereifteren Jahre hatte ich in diesen Dingen noch immer sehr
wenige Kenntnisse. Meine Jugendneigung, die so heftig und beinahe
ausschweifend gewesen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heiratete
also ein Mädchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung
hatte, vom reinsten Wandel war und gegen mich tiefe Verehrung empfand.
Man sagte, ich hätte reich geheiratet, weil mein Hauswesen ein
ansehnliches war; allein die Sache verhielt sich nicht so. Meine
Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich hätte eine
größere Gabe hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben beinahe
nichts brauchte, so hatte ich, besonders da ich einmal in höherer
Stellung war, bedeutende Ersparungen gemacht. Diese legte ich in den
damaligen Staatspapieren nieder, und da dieselben nach Beendigung des
Krieges ansehnlich stiegen, so war ich beinahe ein reicher Mann. Wir
lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wußte ich, was ich vor
der Schließung derselben nicht gewußt hatte, daß nehmlich keine ohne
Neigung eingegangen werden soll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten
in hoher Verehrung der gegenseitigen guten Eigenschaften, wir lebten
in wechselweisem Vertrauen und in wechselweiser Aufmerksamkeit, man
nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloß ohne Unglück. Zu
dem Glücke gehört mehr als Verneinendes, es ist der Inbegriff der
Holdseligkeit des Wesens eines Andern, zu dem alle unsre Kräfte einzig
und fröhlich hinziehen. Als Julie nach zwei Jahren gestorben war,
betrauerte ich sie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in
meinem Herzen stehen geblieben. Ich war jetzt wieder allein. Zur
Schließung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wußte
jetzt, was ich vorher nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte
ich, ist ein Ding, das seinen Zug an meinem Herzen vorüber genommen
hatte.«

»Ein Jahr nach dem Tode Juliens starb mein Oheim und setzte mich zu
dem Erben seines beträchtlichen Vermögens ein.«

»Meine Geschäfte wurden mir indessen von Tag zu Tag schwerer. So wie
ich in früheren Zeiten schon gedacht hatte, daß der Staatsdienst
meiner Eigenheit nicht entspreche und daß ich besser täte, wenn ich
ihn verließe: so wuchs dieser Gedanke bei genauerem Nachdenken und
schärferem Selbstbeobachten zu immer größerer Gewißheit, und ich
beschloß, meine Ämter niederzulegen. Meine Freunde suchten mich daran
zu verhindern, und Mancher, den ich als feste Säule des Staates kennen
zu lernen Gelegenheit gehabt und mit dem ich in schwierigen Zeiten
manche harte Amtsstunde durchgemacht hatte, sagte eindringlich,
daß ich meine Tätigkeit nicht einstellen sollte. Aber ich blieb
unerschüttert. Ich zeigte meinen Austritt an. Der Kaiser nahm ihn
wohlwollend und mit übersendeten Ehren an. Ich hatte die Absicht, mir
für die letzten Tage meines Lebens einen Landsitz zu gründen und dort
einigen wissenschaftlichen Arbeiten, einigem Genusse der Kunst, so
weit ich dazu fähig wäre, der Bewirtschaftung meiner Felder und Gärten
und hie und da einer gemeinnützigen Maßregel für die Umgebung zu
leben. Manches Mal könnte ich in die Stadt gehen, um meine alten
Freunde zu besuchen, und zuweilen könnte ich eine Reise in die
entfernteren Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimat. Dort fand
ich meinen Schwager schon seit vier Jahren gestorben, das Haus in
fremden Händen und völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach
mehreren mißglückten Versuchen fand ich diesen Platz, auf dem ich
jetzt lebe, und setzte mich hier fest. Ich kaufte den Asperhof,
baute das Haus auf dem Hügel und gab nach und nach der Besitzung die
Gestalt, in der ihr sie jetzt sehet. Mir hatte das Land gefallen,
mir hatte diese reizende Stelle gefallen, ich kaufte noch mehrere
Wiesen, Wälder und Felder hinzu, besuchte alle Teile der Umgebung,
gewann meine Beschäftigung lieb und machte mehrere Reisen in die
bedeutendsten Länder Europas. So bleichten sich meine Haare, und
Freude und Behagen schien sich bei mir einstellen zu wollen.«

»Als ich schon ziemlich lange hier gewesen war, meldete man mir eines
Tages, daß eine Frau den Hügel herangefahren sei und daß sie jetzt
mit einem Knaben vor den Rosen, die sich an den Wänden des Hauses
befinden, stehe. Ich ging hinaus, sah den Wagen und sah auch die Frau
mit dem Knaben vor den Rosen stehen. Ich ging auf sie zu. Mathilde war
es, die einen Knaben an der Hand haltend und von strömenden Tränen
überflutet die Rosen ansah. Ihr Angesicht war gealtert und ihre
Gestalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren.«

»>Gustav, Gustav<, rief sie, da sie mich angeblickt hatte, >ich kann
dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des schweren
Unrechtes willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu bitten.
Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf.<«

»>Mathilde<, sagte ich, >sei gegrüßt, sei auf diesem Boden, sei
tausend Mal gegrüßt und halte dieses Haus für deines.<«

»Ich war mit diesen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand
gefaßt und hatte sie auf den Mund geküßt.«

»Sie ließ meine Hand nicht los, drückte sie stark, und ihr Schluchzen
wurde so heftig, daß ich meinte, ihre mir noch immer so teuere Brust
müsse zerspringen.«

»>Mathilde<, sagte ich sanft, >erhole dich.<«

»>Führe mich in das Haus<, sprach sie leise.«

»Ich rief erst durch mein Glöckchen, welches ich immer bei mir
trage, meinen Hausverwalter herzu und befahl ihm, Wagen und Pferde
unterzubringen. Dann faßte ich Mathildens Arm und führte sie in das
Haus. Als wir in dem Speisezimmer angelangt waren, sagte ich zu dem
Knaben: >Setze dich hier nieder und warte, bis ich mit deiner Mutter
gesprochen und die Tränen, die ihr jetzt so weh tun, gemildert habe.<«

»Der Knabe sah mich traulich an und gehorchte. Ich führte Mathilde in
das Wartezimmer und bot ihr einen Sitz an. Als sie sich in die weichen
Kissen niedergelassen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf einem Stuhle
Platz. Sie weinte fort, aber ihre Tränen wurden nach und nach linder.
Ich sprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre
Tropfen sparsamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete sie
die letzten mit ihrem Tuche ab. Wir saßen nun schweigend da und sahen
einander an. Sie mochte auf meine weißen Haare schauen, und ich
blickte in ihr Angesicht. Dasselbe war schon verblüht; aber auf den
Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut,
die an abgeblühten Frauen so rührend sind, wenn gleichsam ein Himmel
vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt
wird. Ich erkannte in den Zügen die einstige prangende Jugend.«

»>Gustav<, sagte sie, >so sehen wir uns wieder. Ich konnte das Unrecht
nicht mehr tragen, das ich dir angetan habe.<«

»>Es ist kein Unrecht geschehen, Mathilde<, sagte ich.«

»>Ja, du bist immer gut gewesen<, antwortete sie, >das wußte ich,
darum bin ich gekommen. Du bist auch jetzt gut, das sagt dein liebes
Auge, das noch so schön ist wie einst, da es meine Wonne war. O ich
bitte dich, Gustav, verzeihe mir.<«

»>O teure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es
mir auch<, antwortete ich. >Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu
sehen vermochtest, was zu sehen war, und daß ich dann nicht näher zu
treten vermochte, als ich hätte näher treten sollen. In der Liebe
liegt alles. Dein schmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein
schmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unser
Fehler und in ihr liegt unser Lohn.<«

»>Ja, in der Liebe<, erwiderte sie, >die wir nicht ausrotten konnten.
Gustav, ich bin dir doch trotz allem treu geblieben und habe nur dich
allein geliebt. Viele haben mich begehrt, ich wies sie ab; man hat mir
einen Gatten gegeben, der gut, aber fremd neben mir lebte, ich kannte
nur dich, die Blume meiner Jugend, die nie verblüht ist. Und du liebst
mich auch, das sagen die tausend Rosen vor den Mauern deines Hauses,
und es ist ein Strafgericht für mich, daß ich gerade zu der Zeit ihrer
Blüte gekommen bin.<«

»>Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde<, erwiderte ich, >und weil
alles Andere so ist, so lasse die Vergangenheit und sage, welche deine
Lage jetzt ist. Kann ich dir in irgend etwas helfen?<«

»>Nein, Gustav<, entgegnete sie, >die größte Hilfe ist die, daß du da
bist. Meine Lage ist sehr einfach. Der Vater und die Mutter sind schon
längst tot, der Gatte ist ebenfalls vor Langem gestorben und Alfred -
du hast ihn ja recht geliebt -<«

»>Wie ich einen Sohn lieben würde<, antwortete ich.«

»>Er ist auch tot<, sagte sie, >er hat kein Weib, kein Kind
hinterlassen, das Haus in Heinbach und das in der Stadt hat er noch
bei seinen Lebzeiten verkauft. Ich bin im Besitze des Vermögens der
Familie und lebe mit meinen Kindern einsam. Lieber Gustav, ich habe
dir den Knaben gebracht - wie wußtest du denn, daß er mein Sohn sei?<«

»>Ich habe deine schwarzen Augen und deine braunen Locken an ihm
gesehen<, antwortete ich.«

»>Ich habe dir den Knaben gebracht<, sagte sie, >daß du sähest, daß er
ist wie dein Alfred - fast sein Ebenbild -, aber er hat niemanden, der
so lieb mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen bist, der ihn so
liebt, wie du Alfred geliebt hast, und den er wieder so lieben könnte,
wie Alfred dich geliebt hat.<«

»>Wie heißt der Knabe?< fragte ich.«

»>Gustav, wie du<, antwortete sie.«

»Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.«

»>Mathilde<, sagte ich, >ich habe nicht Weib, nicht Kind, nicht
Anverwandte. Du warst das Einzige, was ich in meinem ganzen Leben
besaß und behielt. Lasse mir den Knaben, lasse ihn bei mir, ich will
ihn lehren, ich will ihn erziehen.<«

»>O mein Gustav<, rief sie mit den schmerzlichsten Tönen der Rührung,
>wie wahr ist mein Gefühl, das mich an dich, den besten der Menschen,
wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlassen hatte, so
lange ich lebte.<«

»Sie war aufgestanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt und
weinte auf das Innigste. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen,
meine Tränen flossen unaufhaltsam, ich schlang meine Arme um sie und
drückte sie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der
Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen und zu größrer Höhe erhebend
gewesen ist als dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen
zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe überquollen. Was
im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwüstlich und ist ein
Kleinod in allen Zeiten.«

»Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich sie zu ihrem Sitze, nahm
den meinigen wieder ein, und fragte: >Hast du noch andere Kinder?<«

»>Ein Mädchen, welches mehrere Jahre älter ist als der Knabe<,
erwiderte sie, >ich werde dir dasselbe auch bringen, es hat ebenfalls
die schwarzen Augen und die braunen Haare wie ich. Das Mädchen behalte
ich, den Knaben lasse, weil du so gütig bist, um dich leben, so lange
du willst. Er möge werden wie du. O, ich hatte kaum geahnt, wie hier
alles werden wird.<«

»>Mathilde, beruhige dich jetzt<, sagte ich, >ich werde den Knaben
holen, wir werden mit ihm freundlich sprechen.<«

»Ich tat es, trat mit dem Knaben an der Hand herein und wir sprachen
mit dem Kinde und abwechselnd unter uns noch eine geraume Weile.
Ich zeigte Mathilden hierauf das Haus, den Garten, den Meierhof und
alles Andere. Gegen Abend fuhr sie wieder fort, um in Rohrberg zu
übernachten. Den Knaben sollte sie der Verabredung gemäß wieder
mit sich nehmen, ihn ausrüsten und vorbereiten und ihn, wie sie es
für gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem Augenblicke an in
Briefwechsel, und als eine Zeit vergangen war, brachte sie mir Gustav,
der noch bei mir ist, sie brachte mir auch Natalien, die damals im
ersten Aufblühen begriffen war. Eine größere Gleichheit als zwischen
diesem Kinde und dem Kinde Mathilde kann nicht mehr gedacht werden.
Ich erschrak, als ich das Mädchen sah. Ob in den Jahren, in denen
jetzt Natalie ist, Mathilde auch ihr gleich gewesen ist, kann ich
nicht sagen; denn da war ich von Mathilden schon getrennt.«

»Es begann nun eine sehr liebliche Zeit. Mathilde kam mit Natalien
öfter, um uns zu besuchen. Ich machte ihr in den ersten Tagen den
Vorschlag, daß ich die Rosen, wenn sie ihr schmerzliche Erinnerungen
weckten, von dem Hause entfernen wolle. Sie ließ es aber nicht zu,
sie sagte, sie seien ihr das Teuerste geworden und bilden den Schmuck
dieses Hauses. Sie hatte sich zu einer solchen Milde und Ruhe
gestimmt, wie ihr sie jetzt kennt, und diese Lage ihres Wesens
befestigte sich immer mehr, je mehr sich ihre äußeren Verhältnisse
einer Gleichmäßigkeit zuneigten und je mehr ihr Inneres, ich darf es
wohl sagen, sich beglückt fühlte.

Ein freundlicher Verkehr hatte sich entwickelt, Gustav hatte sich an
mich gewöhnt, ich an ihn, und aus der Gewöhnung war Liebe entstanden.
Mathilde gab Rat in meinem Hauswesen, ich in der Verwaltung ihrer
Angelegenheiten. Nataliens Erziehung wurde oft zwischen uns
besprochen und Schritte getan, die wir verabredet hatten. Und in der
gegenseitigen Hilfleistung stärkte sich die Neigung, die wir gegen
einander hatten, die nie verschwunden war, die sich zu einem edlen,
tiefen freundlichen Gefühle gebildet hatte und die nun offen und
rechtmäßig bestehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den ich zu
lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr Herz, das mir immer gehört
hatte, unumwunden an mein Wohl und an mein Wesen wenden. Nach einer
Zeit wurde der Sternenhof verkäuflich. Ich schlug Mathilden den Kauf
vor. Sie besah das Gut. Seiner Nachbarschaft mit mir willen und schon
seiner Linden willen, die sie an die großen Bäume auf dem Rasenplatze
vor dem Hause in Heinbach erinnerten, war sie zu dem Kaufe geneigt.
Auch hatte der Sternenhof überhaupt große Ähnlichkeit mit dem Hause in
Heinbach, war an sich eine sehr angenehme Besitzung und gab Mathilden
für den Rest ihres Lebens einen festen Punkt und einige Abrundung
ihrer Verhältnisse. Also wurde er erworben. Um dieselbe Zeit ließ ich
in meinem Hause die Wohnung für Mathilden und Natalien herrichten. In
dem Sternenhofe war viel Arbeit, bis alles zur gefälligen Wohnlichkeit
geordnet war. Und auch nach dieser Zeit wurde beständig geändert und
umgewandelt, bis das Haus so war, wie es jetzt ist. Und selber jetzt,
wie ihr wißt, wird dort wie hier gebaut, befestigt, verschönert, und
es wird wohl immer so fortgehen. Die Rosen, dieses Merkmal unserer
Trennung und Vereinigung, sollten vorzugsweise auf dem Asperhofe
bleiben, weil es Mathilden lieb war, daß sie dieselben dort gefunden
hatte. Jede Rosenblütezeit verlebte sie bei mir, sie liebte diese
Blumen außerordentlich, pflegte sie und konnte sich freuen, wenn sie
mir eine Art, die ich noch nicht hatte, zubringen konnte. Dafür ließ
ich ihr in ihrem Schlosse die Geräte machen, die ihr so viel Vergnügen
bereiten. Gustav wurde von Tag zu Tage trefflicher und versprach,
einmal ein Mann zu werden, woran seines Gleichen Freude haben sollten.
Natalie wurde nicht bloß schön und herrlich, sondern sie wurde auch im
Umgange mit ihrer Mutter so rein und edel, wie Wenige sind. Sie hatte
das tiefe Gefühl ihrer Mutter erhalten; aber teils durch ihr Wesen,
teils durch eine sehr sorgfältige Erziehung ist mehr Ruhe und
Stetigkeit in ihr Dasein gekommen. Zwischen Mathilden und mir war ein
eigenes Verhältnis. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den Tagen
der feurigen, gewitterartigen Liebe, die den Mann zu dem Weibe führt,
als stille, durchaus aufrichtige süße Freundschaft auftritt, die über
alles Lob und über allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das
Spiegelklarste ist, was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben.
Diese Liebe trat ein. Sie ist innig, ohne Selbstsucht, freut sich,
mit dem Andern zusammen zu sein, sucht seine Tage zu schmücken und zu
verlängern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an
sich.

Mathilde nimmt Anteil an meinen Bestrebungen. Sie geht mit in den
Räumen meines Hauses herum, ist mit mir in dem Garten, betrachtet die
Blumen oder Gemüse, ist in dem Meierhofe und schaut seine Erträgnisse
an, geht in das Schreinerhaus und betrachtet, was wir machen,
und sie beteiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern
wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach,
betrachte die Dinge im Schlosse, im Meierhofe, auf den Feldern, nehme
Teil an ihren Wünschen und Meinungen und schloß die Erziehung und
die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glück und
Stetigkeit gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.
Meine Sammlungen vervollständigen sich, die Baulichkeiten runden sich
immer mehr, ich habe Menschen an mich gezogen, ich habe hier mehr
gelernt als sonst in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren
Gang, und etwas Weniges nütze ich doch auch noch.«

Er schwieg nach diesen Worten eine Weile, und ich auch. Dann fuhr er
wieder fort: »Ich habe das alles mitteilen müssen, damit ihr wißt, wie
ich mit der Familie in dem Sternenhofe zusammenhänge, und damit in dem
Kreise, in welchen ihr nun auch tretet, für euch Klarheit ist. Die
Kinder wissen die Verhältnisse im Allgemeinen, ein näheres Eingehen
war für sie nicht so nötig wie für euch. Ich wünsche nicht, daß ihr
gegen eure künftige Gattin Geheimnisse habt, ihr könnt Natalien
mitteilen, was ich euch sagte, ich konnte es, wie ihr begreifet,
nicht. Über Nataliens Zukunft sprach ich oft mit Mathilden. Sie sollte
einen Gatten bekommen, den sie aus tiefer Neigung nimmt. Es sollte die
gegenseitige größte Hochachtung vorhanden sein. Durch Beides sollte
sie das Glück finden, das ihre Mutter und ihren väterlichen Freund
gemieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der
seitdem gestorben ist, große Reisen gemacht. Sie hat auf denselben
dauerndere Ruhe gesucht und auch gefunden. Sie hat sie in der
Betrachtung der edelsten Kunstwerke des menschlichen Geschlechtes und
in der Anschauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie
ist dadurch befestigt, veredelt und geglättet worden. Manche junge
Männer hat sie kennen gelernt, aber sie hat nie ein Zeichen einer
Neigung gegeben. Sogenannte sehr glänzende Verbindungen sind auf diese
Weise für sie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge gehabt,
wenn ich unter unseren jungen Männern hätte wählen müssen. Als ihr
zum ersten Male an dem Gitter meines Hauses standet und ich euch sah,
dachte ich: >Das ist vielleicht der Gatte für Natalien.< Warum ich es
dachte, weiß ich nicht. Später dachte ich es wieder, wußte aber warum.
Natalie sah euch und liebte euch, so wie ihr sie. Wir kannten das
Keimen der gegenseitigen Neigung. Bei Natalien trat sie Anfangs in
einem höheren Schwunge ihres ganzen Wesens, später in einer etwas
schmerzlichen Unruhe auf. In euch erschloß sie euer Herz zu einer
früheren Blüte der Kunst und zu einem Eingehen in die tieferen Schätze
der Wissenschaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu größerer
Sicherheit und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten wir
absichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, daß sie von euch
getrennt sei, ja sie wurde von ihrer Mutter wieder auf größere Reisen
und in größere Gesellschaften gebracht. Ihre Gefühle aber blieben
beständig und die Entwicklung trat ein. Wir geben euch mit Freuden das
Mädchen in eure Liebe und in euren Schutz, ihr werdet sie beglücken
und sie euch; denn ihr werdet euch nicht ändern, und sie wird sich
auch nicht ändern. Gustav wird einmal den Sternenhof und was dazu
gehört erhalten; denn das Haus ist Mathilden so lieb geworden, daß
sie wünscht, daß es ein Eigentum ihrer Familie bleibe und daß die
kommenden Geschlechter das ehren, was die erste Besitzerin darin
niedergelegt hat. Gustav wird es tun, das wissen wir schon, und seinen
Nachfolgern die gleiche Gesinnung einzupflanzen, wird wohl auch sein
Bestreben sein. Natalie erhält von mir den Asperhof mit allem, was in
ihm ist, nebst meinen Barschaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht
verunehren.«

Mir traten die Tränen in die Augen, da er so sprach, und ich reichte
ihm meine Hand hinüber. Er nahm sie und druckte sie herzlich.

»Ihr könnt hier auf dem Asperhofe wohnen oder in dem Sternenhofe oder
bei euren Eltern. Überall wird Platz für euch zu machen sein. Ihr
könnt auch euern Aufenthalt abwechselnd zwischen uns teilen, und
das wird wohl wahrscheinlich der Fall sein, bis sich alle unsere
Verhältnisse dem neuen Ereignisse gemäß gerichtet haben. Die Schriften
bezüglich der Übertragung meines Vermögens an Natalien werden ihr nach
der Vermählung eingehändigt werden. So lange ich lebe, erhält sie
einen Teil, den Rest nach meinem Tode. Wie ihr mit dem, was sie jetzt
empfängt, gebaren sollt, darüber wird euer Vater die beste Belehrung
geben können. Er wird wohl mit mir auch darüber sprechen. Natalie
erhält auch nach ihrer Vermählung den Teil, der ihr aus dem Nachlasse
ihres Vaters Tarona gebührt.«

»Ist Nataliens Name Tarona?« fragte ich.

»Habt ihr das nicht gewußt?« fragte er seinerseits.

»Ich habe Mathilden immer die Frau von Sternenhof nennen gehört«,
antwortete ich, »bin mit Mathilden und Natalien nirgends zusammen
gewesen als im Sternenhofe, Asperhofe und Inghofe, und da wurden beide
stets bei ihrem Vornamen genannt. Weitere Forschungen stellte ich gar
nie an.«

»Mathilde ließ geschehen, daß sie nach dem Sternenhofe geheißen wurde,
der Name war ihr lieber. So mag es wohl gekommen sein, daß ihr keinen
andern gehört habt. Für Gustav wird die Erlaubnis zur Führung dieses
Namens nachgesucht werden.«

»Aber die Tarona, erzählte man mir, sei gerade in jenem Winter, an
welchem ich Natalien in der Loge gesehen habe, nicht in der Stadt
gewesen«, sagte ich, und dachte an Preborn, welcher mir diese Tatsache
mitgeteilt hatte.

»Ganz richtig«, erwiderte mein Gastfreund, »wir sind auch nur zur
Aufführung des König Lear hingefahren. Ich war in der Loge hinter
Natalien, habe euch aber nicht gesehen.«

»Ich euch auch nicht«, antwortete ich.

»Natalie hat uns von dem jungen Manne erzählt, der ihr im
Schauspielhause aufgefallen sei«, erwiderte er, »aber erst nach langer
Zeit konnte sie uns eröffnen, daß ihr es gewesen seid.«

»Habe ich euch nicht einmal im Winter in der Stadt nach der
Wiedergenesung des Kaisers, mit euren Ehrenzeichen geschmückt, fahren
gesehen?« fragte ich.

»Das ist möglich«, antwortete er, »ich war in jener Zeit in der Stadt
und an dem Hofe.«

»Nun mein sehr lieber junger Freund«, sagte er nach einer Weile, »ich
habe euch von meinem Leben erzählt, da ihr einer der unseren werden
sollt, ich habe zu euch von meinem tiefsten Herzen geredet, und jetzt
enden wir dieses Gespräch.«

»Ich bin euch Dank schuldig«, antwortete ich, »allein all das Gehörte
ist noch zu mächtig und neu in mir, als daß ich jetzt die Worte des
Dankes finden könnte. Nur eins berührt mich fast wie ein Schmerz, daß
ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen nähern
Bund getreten seid.«

Der Greis errötete bei diesen Worten, er errötete so tief und zugleich
so schön, wie ich es nie an ihm gesehen hatte.

»Die Zeit war vorüber«, antwortete er, »das Verhältnis wäre nicht mehr
so schön gewesen, und Mathilde hat es auch wohl nie gewünscht.«

Er war schon früher aufgestanden, jetzt reichte er mir die Hand,
drückte die meine herzlich und verließ das Zimmer.

Ich blieb eine geraume Weile stehen und suchte meine Gedanken zur
Sammlung zu bringen. Das wäre mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum
ersten Male zu diesem Hause heraufstieg und des andern Tages seinen
Inhalt sah, daß alles so kommen würde, wie es kam, und daß das alles
zu meinem Eigentume bestimmt sei. Auch begriff ich jetzt, weshalb
er meistens, wenn er von seinem Besitze sprach, das Wort »unser«
gebrauchte. Er bezog es schon auf Mathilden und ihre Kinder.

Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung verweilt hatte, verließ
ich sie, um in frischer Luft einen Spaziergang zu machen und noch das
Gehörte in mir ausklingen zu lassen.



Der Abschluß

Am nächsten Tage ging ich im Laufe des Vormittages zu einer Stunde, an
welcher ich meinen Gastfreund weniger beschäftigt wußte, in gewähltem
Anzuge in seine Stube und dankte ihm innig für das Vertrauen, welches
er mir geschenkt habe, und für die Achtung, welche er mir dadurch
erweise, daß er mich würdig erachte, Nataliens Gatte zu werden.

»Was das Vertrauen anbelangt«, erwiderte er, »so ist es natürlich,
daß man nicht jeden, der uns ferne steht, in unsere innersten
Angelegenheiten einweiht; aber eben so natürlich ist es, daß
derjenige, der für die Zukunft einen Teil, ich möchte sagen unserer
Familie ausmachen wird, auch alles wisse, was diese Familie betrifft.
Ich habe euch das Wesentlichste gesagt, einzelne kleine Umstände, die
der Vorstellungskraft nicht immer gegenwärtig sind, ändern wohl an der
Sachlage nichts. Was die Hochachtung anbelangt, die darin liegt, daß
ich euch zu Nataliens Gatten geeignet erachte, so habt ihr vor allen
Männern dieser Erde den unermeßlichen Vorzug, daß euch Natalie liebt
und euch und keinen andern will; aber auch trotz dieses Vorzuges
würden Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht eingeräumt hat,
nie eingewilligt haben, wenn uns euer Wesen nicht die Zuversicht
eingeflößt hätte, daß da ein dauernd glückliches Familienband geknüpft
werden könne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch, abgesehen
von dieser Angelegenheit, schuldig bin, so habe ich meiner Meinung
nach euch die Beweise derselben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe,
ihr dürftet Nataliens künftiger Gatte sein, so war der Eintritt
dieses Ereignisses so unbestimmt, da es ja auf die Entstehung einer
gegenseitigen Neigung ankam, daß der Gedanke daran auf mein Benehmen
gegen euch keinen Einfluß haben konnte, ja im Verlaufe der Zeiten war
der Gedanke erst der Sohn meiner Meinung von euch.«

»Ihr habt mir wirklich so viele Beweise eures Wohlwollens und eurer
Schonung gegeben«, antwortete ich, »daß ich gar nicht weiß, wie ich
sie verdiene; denn Vorzüge von was immer für einer Art sind gar nicht
an mir.«

»Das Urteil über den Grund, woraus Achtung und Neigung oder Mißachtung
und Abneigung entsteht, muß immer Andern überlassen werden; denn wenn
man zuletzt auch annähernd weiß, was man in einem Fache geleistet hat,
wenn man sich auch seines guten Willens im Wandel bewußt ist, so kennt
man doch alle Abschattungen seines Wesens nicht, in wie ferne sie
gegen Andere gerichtet sind, man kennt sie nur in der Richtung gegen
sich selbst, und beide Richtungen sind sehr verschieden. Übrigens,
mein lieber Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung ist, daß man in
der Gesellschaft der Menschen einen gewissen Anstand und Abstand in
Kleidern und sonstigem Benehmen zeigt, so wäre es in der eigenen
Familie eine Last. Komme also in Zukunft in deinen Alltagsgewändern zu
mir. Und wenn ich auch kein Verwandter deiner Braut bin, so betrachte
mich als einen solchen, wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird schon
alles recht werden, es wird schon alles gut werden.«

Er hatte bei diesen Worten die Hand auf mein Haupt gelegt, sah mich
an, und in seinen Augen standen Tränen.

Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen dieses Greises naß werden
gesehen; ich war daher sehr erschüttert und sagte: »So erlaubt mir,
daß ich in dieser ernsten Stunde auch meinen Dank für das ausspreche,
was ich in diesem Hause geworden bin; denn wenn ich irgend etwas bin,
so bin ich es hier geworden, und gewährt mir in dieser Stunde auch
eine Bitte, die mir sehr am Herzen liegt: erlaubt, daß ich eure
ehrwürdige Hand küsse.«

»Nun, nur dieses eine Mal«, erwiderte er, »oder höchstens noch einmal,
wenn du mit Natalien, die ein Kleinod meines Herzens ist, von dem
Altare gehst.«

Ich faßte seine Hand und drückte sie an meine Lippen; er legte aber
die andere um meinen Nacken und drückte mich an sein Herz. Ich konnte
vor Rührung nicht sprechen.

»Bleibe noch eine Weile in diesem Hause«, sagte er später, »dann gehe
zu den Deinigen und leiste ihnen Gesellschaft. Dein Vater bedarf
deiner Person auch.«

»Darf ich den Meinigen eure Mitteilung erzählen?« fragte ich.

»Ihr müßt es sogar tun«, antwortete er, »denn eure Eltern haben ein
Recht, zu wissen, in welche Gesellschaft ihr Sohn durch Schließung
eines sehr heiligen Bundes tritt, und sie haben auch ein Recht, zu
wünschen, daß ihr Sohn nicht Geheimnisse vor ihnen habe. Ich werde
übrigens wohl selber mit eurem Vater über dieses und viele andere
Dinge sprechen.«

Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verließ das Zimmer.

Den Rest des Vormittages verbrachte ich mit Abfassung eines Briefes an
meine Eltern.

Am Nachmittage suchte ich Gustav auf, und er erhielt die Erlaubnis,
mit mir einen weiteren Weg in der Gegend zu machen. Wir kamen in der
Dämmerung zurück, und er mußte die Zeit, welche er am Tage verloren
hatte, bei der Lampe nachholen.

Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche ich einige Ordnung zu
bringen suchte, im Umgange mit meinem Gastfreunde, der mir leutselig
manche Zeit schenkte, unter manchem Besuche im Schreinerhause, wo
Eustach sehr beschäftigt war, oder bei seinem Bruder Roland, der jeden
lichten Augenblick des Tages zu seinem Bilde benützte, und endlich
unter manchem weiten Gange in der Umgebung, da dieser Winter der erste
war, den ich so tief im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis
gegen die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abschied, sendete meine
Sachen auf die Post nach Rohrberg und ging zu Fuße nach, harrte dort
der Ankunft des Wagens aus dem Westen, erhielt, da er gekommen war,
einen Platz in ihm und fuhr meiner Heimat zu.


Ich wurde wie immer sehr freudig von den Meinigen gegrüßt und mußte
ihnen von der Winterreise im Hochgebirge erzählen. Ich tat es, und
erzählte ihnen in den ersten Tagen auch, was mir mein Gastfreund
mitgeteilt hatte. Es war ihnen bisher unbekannt gewesen.

»Ich habe Risach oft nennen gehört«, sagte mein Vater, »und stets war
der Ausdruck der Hochachtung mit der Nennung seines Namens verbunden.
Von der Familie, welche Heinbach besaß, habe ich nur Alfred
flüchtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal in einer entfernten
Geschäftsverbindung gestanden.«

Die Jugendbeziehungen meines Gastfreundes zu Mathilden mußten sehr
geheim gehalten worden sein, da weder je der Vater noch irgend jemand
aus seiner Bekanntschaft von dieser Sache etwas gehört hatte, obwohl
über ähnliche Gegenstände die Sprechlust am regesten zu sein pflegt.
Daß meine Mitteilungen an meine Angehörigen nach dem Bunde mit
Natalien den größten Eindruck machten, ist begreiflich. Deßohngeachtet
hatte ich doch auch dem Vater etwas gebracht, was ihn sehr freute. Ich
war in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in dem Rosenhause noch
bei dem Gärtner gewesen und hatte ihn ersucht, mir die Vorschrift
zur Bereitung des Bindemittels an den Gläsern des Gewächshauses zu
verschaffen, wodurch das Hineinziehen des Wassers zwischen die Gläser
und das dadurch bewirkte Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die
Vorschrift wohl nicht selber, ging aber zu meinem Gastfreunde, und
durch diesen erhielt ich sie. Ich erzählte meinem Vater von der Sache
und übergab ihm die Anleitung zur Bereitung.

»Das wird das für die Pflanzen so schädliche Herabtropfen des
Winterwassers in unserem hiesigen Gewächshause also für die Zukunft
verhindern«, sagte er, »noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu
in den neuen Gewächshäusern anwenden zu können, welche neben dem
Landhause stehen werden, das ich bauen werde.«

Die Mutter lächelte.

»Bereitet euch einstweilen auf die Reise in den Sternenhof und in das
Rosenhaus vor«, sagte der Vater, »alles Andere ist geschehen, der
Schritt, der nun zu tun ist, liegt uns ob. In den ersten Tagen des
Frühlings worden wir hinreisen, und ich werde für meinen Sohn werben.
Ihr Weiber bereitet euch gerne auf solche Dinge vor, tut es und beeilt
euch, ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate und etwas
darüber. Was mir bis dahin obliegt, wird nicht auf sich warten
lassen.«

Daß diese Maßregel Beifall hatte, ging aus der Sachlage hervor; die
Zeit zur Vorbereitung aber wollte man etwas kurz nennen. Der Vater
sagte, es dürfe nicht das Geringste zugegeben werden, weil man es
sonst der Wichtigkeit des Verhältnisses nähme. Das war einleuchtend.

Es ging nun an ein Arbeiten und Bestellen, und kein Tag war, dem nicht
seine Last zugeteilt wurde. Die Mutter traf auch Vorbereitungen für
den Fall, daß die neuen Ehegatten in ihrem Hause wohnen würden. Der
Vater sagte ihr zwar, daß meiner Verbindung noch meine große Reise
vorangehen werde; allein sie widerlegte ihn mit der Bemerkung, daß es
keinen Schaden bringe, wenn Manches früher fertig sei, als man es eben
brauche. Er ließ sofort ihrem hausmütterlichen Sinne seinen Lauf.

Zu Ende des Märzes brachte der Vater einen sehr schönen Wagen in das
Haus. Es war ein Reisewagen für vier Personen. Er hatte den Wagen nach
seinen eigenen Angaben machen lassen.

»Wir müssen unsere Freunde ehren«, sagte er, »wir müssen uns selber
ehren, und wer kann wissen, ob wir den Wagen nicht noch öfter brauchen
werden.«

Er verlangte, daß man ihn genau besehe und in Hinsicht seiner
Bequemlichkeit, besonders für Reisegegenstände von Frauen, prüfe.
Es geschah, und man mußte die Einrichtung des Wagens loben. Es war
Festigkeit mit Leichtigkeit verbunden, und bei einer gefälligen
Gestalt bot er Räumlichkeit für alle nötigen Dinge.

»Ich bin nun fertig«, sachte er, »sorgt, daß eure Vorbereitungen nicht
zu lange dauern.«

Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit in Bereitschaft. Der
Vater hatte den Beginn der Baumblüte und des Blätterknospens als
Reisezeit bestimmt, und zu dieser Zeit fuhren wir auch fort.

Ich fuhr nun einen Weg, den ich so oft allein oder mit Fremden in
einem Wagen zurückgelegt hatte, mit allen meinen Angehörigen. Wir
fuhren mit Pferden, die wir uns auf jeder Post geben ließen; allein
wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und Klotildens, weshalb wir
uns oft länger an einem Orte aufhielten und kleine Tagereisen machten.
Ein sehr schönes Wetter und eine Fülle von weißen und rotschimmernden
Blüten begleitete uns.

Am vierten Tage vormittags fuhren wir in dem Sternenhofe ein. Mathilde
war von unserer Ankunft unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach
zurückgelegt, und alle Blicke meiner Angehörigen hafteten schon von
weiter Entfernung her auf dem Blütenhügel, auf dem das Schloß stand,
sie richteten sich jetzt auf die Gestalt des Bauwerkes, endlich auf
das Sternenschild über dem Tore, auf die Wölbung des Torweges und
zuletzt auf Mathilden und Natalien, die da standen, um uns zu
empfangen. Wir stiegen aus. Natalie wechselte die Farben zwischen Blaß
und Purpurrot. Man wartete nicht weiter mit dem Gruße. Klotilde und
Natalie lagen sich an dem Halse und weinten. Meine ehrwürdige Mutter
war von Mathilden umfaßt und an das Herz gedrückt. Dann wurde der
Vater von ihr anmutsvoll und herzlich gegrüßt, sie reichte ihm beide
Hände und sah ihn mit ihren Augen, die noch immer so schön waren, auf
das Innigste an. Natalie hatte indessen die Hand meiner Mutter gefaßt
und sie geküßt. Diese gab den Kuß auf die Stirne des schönen Mädchens
zurück. Der Vater wollte wahrscheinlich etwas Heiteres oder gar
Scherzhaftes zu Natalien sagen; aber als er sie näher anblickte, wurde
er sehr ernst und beinahe scheu, er grüßte sie anständig und sehr
fein. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Schönheit überrascht oder er
erinnerte sich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht seiner
geschnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz
gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieser Empfang der
strengen Umgangssitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach
fragte niemand. Wir gingen unter einander gemischt die Treppe hinan
und wurden in Mathildens Gesellschaftszimmer geführt. Dort lieh man
den Grüßen erst lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.

»So lange haben wir uns gekannt und erst jetzt sehen wir uns«, sagte
Mathilde zu meinen Eltern, als sie dieselben zum Niedersitzen auf ihre
Plätze veranlaßt hatte.

»Es war ein Wunsch von vielen Jahren«, entgegnete mein Vater, »daß wir
die Menschen sähen, die gegen meinen Sohn so wohlwollend waren und die
sein Wesen so sehr gehoben hatten.«

»Das ist nun Natalie, meine teure Klotilde«, sagte ich, indem ich
beide Mädchen einander vorstellte, »das ist Natalie, die ich so sehr
liebe, so sehr wie dich selbst.«

»Nein, mehr als mich, und so ist es auch recht«, erwiderte Klotilde.

»Sei meine Schwester«, sagte Natalie, »ich werde dich lieben wie eine
Schwester, ich werde dich lieben, so sehr es nur mein Herz vermag.«

»Ich nenne dich auch du«, erwiderte Klotilde, »ich liebe meinen Bruder
wie mein eigenes Herz, und werde dich auch so lieben.«

Die beiden Mädchen umarmten sich wieder und küßten sich wieder.

Als wir uns um den Tisch gesetzt hatten, sagte ich zu Natalien: »Und
mich grüßt ihr beinahe gar nicht.«

»Ihr wißt es ja doch«, erwiderte sie, indem sie mich freundlich ansah.

Das Gespräch dauerte nun allgemeiner über denselben Gegenstand fort.

Die zwei Frauen konnten sich kaum genug betrachten und nahmen sich
immer wieder bei den Händen.

Als man endlich auf andere Gegenstände übergegangen war und über die
Reise und ihre Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gesprochen
hatte, sagte mein Vater, daß wir noch sämtlich in Reisekleidern seien,
daß wir ans verabschieden müßten, und er fragte, wann er die Ehre
haben könnte, sich Mathilden wieder vorstellen zu dürfen.

»Nicht Vorstellung«, erwiderte sie, »Besuch, wann ihr immer wollt.«

»Also in zwei Stunden«, entgegnete mein Vater.


Wir gingen in unsere Zimmer, und mein Vater wies uns an, uns in
Festkleider zu kleiden. Nach zwei Stunden ging er allein mit der
Mutter, beide wie an einem hohen Festtage geschmückt, zu Mathilden,
welche sie zu sprechen verlangten. Mathilde empfing sie in dem großen
Gesellschaftszimmer, und mein Vater warb um die Hand Nataliens für
mich.

Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie, Klotilde und ich
hineingerufen, und Mathilde sagte: »Der Herr und die Frau Drendorf
haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.«

Natalie, welche in einem so festlichen Kleide da stand, wie ich sie
nie gesehen hatte, weshalb sie mir beinahe fremd erschien, blickte
mich mit Tränen in den Augen an. Ich ging auf sie zu, faßte sie an der
Hand, führte sie vor ihre Mutter, und wir sprachen einige Worte des
Dankes. Sie entgegnete sehr freundlich. Dann gingen wir zu meinen
Eltern und dankten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich
antworteten. Klotilde war in ihrem Festanzuge sehr befangen, was auch
fast bei allen Andern der Fall war. Mein Vater löste die Stimmung,
indem er zu einem Tische schritt, auf welchem er ein Kästchen
niedergestellt hatte. Er nahm das Kästchen, näherte sich Natalien und
sagte: »Liebe Braut und künftige Tochter, hier bringe ich ein kleines
Geschenk; aber es ist eine Bedingung daran geknüpft. Ihr seht, daß
ein Faden um das Schloß liegt und daß der Faden ein Siegel trägt.
Schneidet den Faden nicht eher ab als nach eurer Vermählung. Den Grund
meiner Bitte werdet ihr dann auch sehen. Wollt ihr sie freundlich
erfüllen?«

»Ich danke für eure Güte innig«, antwortete Natalie, »und ich werde
die Bedingung erfüllen.«

Sie empfing das Kästchen aus der Hand des Vaters. Auch die Mutter und
Klotilde gaben ihr Geschenke, so wie Mathilde und Natalie Gegenstände
aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die Mutter, Klotilden
und den Vater zu beschenken. Natalie und ich gaben uns nichts. Dann
setzten wir uns um einen Tisch nieder, und es begannen herzliche
Gespräche. Am Schlusse sagte Mathilde: »So wäre denn der Bund, den die
Herzen unserer Kinder geschlossen haben, auch durch die Beistimmung
der Eltern bekräftigt. Der Tag der ewigen Verbindung mag nach ihrem
Wunsche und unserer Meinung festgesetzt werden. Wir wollen darüber
jetzt nicht sprechen, sondern es der Beratung und Vereinbarung
anheimgeben.«

Nach diesen Worten trennten wir uns und begaben uns in unsere Zimmer.

Die festlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das
Besuchsleben, wie es in ähnlichen Verhältnissen und namentlich, wenn
man in so nahe Beziehungen getreten ist, der Fall zu sein pflegt.
Mathilde führte nach und nach den Vater und die Mutter in alle Teile
des Schlosses, des Gartens, des Meierhofes, der Felder, der Wiesen und
der Wälder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauses: ihre Wohnzimmer,
die Zimmer mit den alten Geräten, sie zeigte ihnen die Bilder und
was sich nur immer in dem Schlosse befand. Sie ging mit ihnen in den
Garten: zu den Linden, zu allen Obstbäumen, zu den Blumenbeeten, in
die Grotte mit der Brunnennymphe, auf die Eppichwand und in jede
Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenso wurde alles, was sich
auf die Landwirtschaft bezog, auf das Genaueste durchgenommen. Gegen
den Abend, wenn die Sonnenstrahlen milde auf die blühende Erde
leuchteten, wurde ein gemeinschaftlicher Gang durch irgend einen
Teil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Länge des
Berührweges durch, und die Eltern fanden Gefallen an dieser Bahn, die
eine freie und rüstige Bewegung in trüben Tagen so wie im Winter auf
eine angenehme Weise gestatte. Der Vater konnte über alles der Freude
und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter sprachen
oft lange und immer sehr freundlich mit einander, sie tauschten
wahrscheinlich ihre Ansichten über Häuslichkeit und Verwaltung des
Zugehörigen aus. Natalie und Klotilde waren fast unzertrennlich, sie
schlossen sich an einander an, bezeugten sich jede Innigkeit, und
oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt waren, gingen sie
noch auf einem einsamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des
nächstgelegenen Feldes herum.

»Siehst du, Klotilde«, sagte ich, »ich konnte dir kein Bild von
Natalie bringen, weil keins da war, jetzt hast du sie selber.«

»Um wie viel lieber als jedes Bild«, antwortete sie, »aber ein Bild
muß doch ausgeführt werden, damit man später wisse, wie sie in diesen
Jahren ausgesehen habe.«

Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder
Tag fand seine freundliche Beschäftigung. Am neunten wurden die
Anstalten gemacht, daß wir alle in das Rosenhaus abreisen konnten.
Mathilde und die Eltern fuhren in unserem Reisewagen. Natalie,
Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens.

Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein Vater seine Neugierde
kaum mehr bemeistern. Ich sah ihn öfter in dem Wagen aufstehen und
herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen auf
entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke schnitten goldne Bilder auf
den Hügeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gastfreundes schaute
sanft von seiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt
abfuhren, dort bereits alles in Blüte stand, war in der Umgebung des
Rosenhauses trotz der Zeit, die wir auf der Reise und in dem Hause
Mathildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüte nicht vorüber,
sondern sie war erst in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land
hier lag um ein Bedeutendes höher als die Stadt. Ein Teil des
Wintergetreides stand auf dem Hügel in üppigstem Wuchse, ein Teil
schickte sich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie
und da war noch die braune Erde zu sehen.

Mein Gastfreund hatte durch Mathilden Nachricht von unserer Ankunft
erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, stand er mit Gustav,
Eustach, Roland, mit der Haushälterin Katharine, mit dem
Hausverwalter, mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem Sandplatze
vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir stiegen aus, und da standen
sich nun mein Vater und mein Gastfreund gegenüber. Der letztere
hatte schneeweiße Haare, mein Vater etwas minder weiße, aber liebe,
ehrwürdige Männer waren beide. Sie reichten sich die Hand, sahen sich
einen Augenblick an und schüttelten sich dann ihre Rechte herzlich.

»Seid mir gegrüßt, seid mir tausendmal gegrüßt an meiner Schwelle«,
sagte mein Gastfreund, »selten ist hier einer eingegangen, der so
willkommen gewesen wäre wie ihr, und selten habe ich mich nach
jemandem so gesehnt wie nach euch. Wir sind nun so lange in Verbindung
und ich habe euch schon so lange in der Liebe eures Sohnes geliebt.«

»Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes«, erwiderte mein Vater,
»es ist einer meiner liebsten Tage, der mich unter dieses Dach bringt.
Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne,
obgleich ich auch den Staatsmann hochachten muß. Ich komme mit der
Schuld des Dankes belastet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es
nur im geringsten Maße um euch verdient hatte.«

»Laßt das jetzt, es machte mir ja selber Freude«, entgegnete mein
Gastfreund, »aber seht, so begeht man Fehler, wenn man von einer
Leidenschaft befangen ist, besonders, wenn zwei alte Altertumsfreunde
zusammentreffen. Ich habe versäumt, eurer verehrtest Gattin meinen
ersten Gruß darzubringen, wie es Pflicht gewesen wäre. Aber, teure
Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entschuldigen, doch als ein
geringeres Vergehen ansehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten
und seine Beziehungen zu seinen Schätzen kennt. Seid mir gegrüßt,
und wenn ich sage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hieher
gewünscht habe, so sage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn ist
gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut
mich, euch in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich eure Hand
fasse. Mathilde, Natalie, Heinrich, ihr müsset heute etwas Nebensache
sein, und dieses Fräulein, das ich wohl schon als Klotilde kenne, wird
erlauben, daß ich sie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte.
Gustav, führe das Fräulein.«

»Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen«, sagte Gustav zu
Klotilden.

Sie sah den Jüngling sanft an und sagte: »Ich bitte um die
Gefälligkeit.«

»Ehe wir gehen«, sagte mein Gastfreund noch, »sehet noch hier meine
zwei ausgezeichneten Künstler Eustach und Roland, die mit mir in
unserem Besitze leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht
voll von Sorgen steckte. Sie wollen euch vor dem Hause begrüßen. Seht
da auch meine Katharine, die das Haus zusammenhält, und dann meinen
Hausverwalter und Gärtner und Andere, welche die Lust des Empfanges
nicht missen wollten.«

Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mutter und Klotilde
verbeugten sich auf das Artigste.

Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter, mein Vater den
Mathildens, ich Nataliens, Gustav Klotildens, und so gingen wir bei
dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen fuhren in den
Meierhof. In dem Hause wurden wir gleich in unsere Zimmer geführt.
Mathilde und Natalie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für meinen
Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern
eigens gerichtet worden. Sie hatten sehr schöne Wandbekleidungen und
vorzügliche Geräte. Für alle und jede Bequemlichkeit war gesorgt.
Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zimmerchen daneben. Ich ging
von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen
waren. Gustav besuchte mich hier in dem ersten Augenblicke, und
umschlang mich mit der größten Freude und Liebe.

»Nun ist doch alles sicher und gewiß«, sagte er.

»Sicher und gewiß«, entgegnete ich, »wenn Gott sein Vollbringen gibt.
Jetzt bist du mein teurer, vielgeliebter Bruder in der Tat, wenn du es
auch der Fassung nach erst in einiger Zeit wirst.«

»Darf ich auch du sagen?« fragte er.

»Von ganzem Herzen«, erwiderte ich.

»Also du, mein geliebter, mein teurer Bruder«, sagte er.

»Auf immer, so lange wir leben, was auch, sonst für Zwischenfälle
kommen mögen«, sagte ich.

»Auf immer«, antwortete er, »aber jetzt kleide dich schnell um, damit
du nicht zu spät kommst. Man wird in dem Besuchsaale zu ebener Erde
noch einmal zu einem Gruße zusammenkommen, ehe man zum Mittagessen
geht. Ich muß mich selber zurecht richten.«


Es war so, wie Gustav gesagt hatte, und es war an alle die Einladung
ergangen. Er verließ mich, und ich kleidete mich um.

Wir versammelten uns in dem Besuchzimmer zu ebener Erde, in welchem
ich, da ich das erste Mal in diesem Hause war, allein gewartet hatte,
während mein Gastfreund gegangen war, ein Mittagessen für mich zu
bestellen. Ich hatte damals den Gesang der Vögel hereingehört.
Der eingelegte Fußboden war heute mit einem sehr schönen Teppiche
ganz überspannt. Auch Eustach und Roland waren zu der Versammlung
eingeladen worden.

Als sich alle eingefunden hatten, stand mein Gastfreund, welcher so
festlich angezogen war wie wir, auf und sprach: »Ich richte noch
einmal an alle, welche gekomrnen sind, den Empfangsgruß innerhalb der
Wände dieses Hauses. Es ist ein schöner Tag.

Wenn gleich mancher liebe Freund und gewissermaßen Schlachtkamerade,
den ich noch besitze, nicht hier ist, so kann eben nicht immer alles,
was man liebt, versammelt sein. Das Eigentliche ist hier, ist aus
einem lieben Anlasse hier, aus welchem ein noch schönerer Tag für
Manche hervorgehen kann. Ihr, sehr hochgeehrte Frau, die Mutter des
jungen Mannes, welcher zu verschiedenen Malen unter dem Dache dieses
Hauses gewohnt hat, seid dem Hause willkommen. Es hat euren Namen oft
gehört und die Namen eurer Tugenden, und wenn der Schall der Rede
oft auch ganz Anderes zu verkünden schien, so gingen unbewußt eure
Eigenschaften daraus hervor, sammelten sich hier und erzeugten
Ehrerbietung und, erlaubt einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein
edler Freund - gönnt mir den Namen auch, den ich euch so gerne gebe
-, ein graues Haupt wie ich, aber ehrwürdiger in der Verehrung seiner
Kinder und darum auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin
unsichtbar dieses Haus bewohnt und ehrt es, da es eure Gestalt nun
selber in seinen Räumen sieht. Ihr, Klotilde, wandeltet mit euren
Eltern hier und seid gleichfalls in eurem Eigentume. Zu dir, Mathilde,
spreche ich erst jetzt, nachdem ich zu den Andern gesprochen habe,
die nicht so oft die Schwelle dieses Hauses betreten haben wie du. Du
bringst uns heute etwas, das allen lieb sein wird. Sei deshalb nicht
mehr gegrüßt und willkommen, als du hier immer gegrüßt und willkommen
gewesen bist. Sei willkommen, Natalie, und seid gegrüßt, Heinrich.
Eustach, Roland, Gustav sind als Zeugen hier von dem, was da
geschieht.«

Meine Mutter antwortete hierauf: »Ich habe immer gedacht, daß wir in
diesem Hause werden herzlich empfangen werden, es ist so, ich danke
sehr dafür.«

»Ich danke auch, und möge die gute Meinung von uns sich bewähren«,
sagte der Vater.

Klotilde verneigte sich nur.

Mathilde sprach: »Sei bedankt für deinen Gruß, Gustav, und wenn du
sagst, daß ich etwas bringe, das allen lieb sein wird, so berichte
ich, daß Heinrich Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternenhofe
verlobt worden sind. Wir haben den Weg zu dir gemacht, um deine
Billigung zu dieser Vornahme zu erwirken. Du hast immer wie ein Vater
an Natalien gehandelt. Was sie ist, ist sie größtenteils durch dich.
Daher könnte ein Band sie nie beglücken, das deinen vollen Segen nicht
hätte.«

»Natalie ist ein gutes, treffliches Mädchen«, erwiderte mein
Gastfreund, »sie ist durch ihr innerstes Wesen und durch ihre
Erziehung das geworden, was sie ist. Ich mag ein Weniges beigetragen
haben, wie alle nicht bösen Menschen, mit denen wir umgehen, zu
unserem Wesen etwas Gutes beitragen. Du weißt, daß der geschlossene
Bund meine Billigung hat, und daß ich ihm alles Glück wünsche. Weil du
mich aber Vater Nataliens nennst, so mußt du erlauben, daß ich auch
als Vater handle. Natalie erhält als meine Erbin den Asperhof mit
allem Zubehör und allem, was darin ist, sie erhält auch, da ich gar
keine Verwandten besitze, meine ganze übrige Habe. Die Ausfolgung
geschieht in der Art, daß sie einen Teil des gesammten Vermögens an
ihrem Vermählungstage empfängt nebst den Papieren, welche ihr das
Anrecht auf den Rest zusprechen, der ihr an meinem Todestage anheim
fällt. Einige Geschenke an Freunde und Diener werden in den Papieren
enthalten sein, die sie gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin,
so werde ich auch meine liebe Tochter ausstatten, von ihrer Mutter
kann sie nur Geschenke annehmen. Und einen Eigensinn müßt ihr mir
gestatten, dessen Bekämpfung von eurer Seite mich sehr schmerzen
würde. Die Vermählung soll auf dem Asperhofe gefeiert werden. Hieher
ist der Bräutigam vor mehreren Jahren zuerst gekommen, hier habt ihr
ihn kennen gelernt, hier ist vielleicht die Neigung gekeimt und hier
endlich wohnt ja der Vater, wie er eben genannt worden ist. Vom
Vermählungstage an wird im Asperhofe für die jungen Eheleute eine
Wohnung in Bereitschaft stehen, es wird aber an sie nicht die
Forderung gestellt werden, daß sie dieselbe benützen. Sie sollen nach
ihrer Wahl ihre Wohnung aufschlagen: entweder im Asperhofe oder im
Sternenhofe oder in der Stadt oder auch abwechslungsweise, wie es
ihnen gefällt.«

Mathilde war während dieser ganzen Rede mit Würde und Anstand in ihrem
Sitze gesessen, wie überhaupt in der ganzen Versammlung ein tiefer
Ernst herrschte. Mathilde suchte ihre Haltung zu bewahren; allein
aus ihren Augen stürzten Tränen, und ihr Mund zitterte vor starker
Bewegung. Sie stand auf und wollte reden; aber sie konnte nicht und
reichte nur ihre Hand an Risach. Dieser ging um den Tisch - denn eine
Ecke desselben trennte sie -, drückte Mathilden sanft in ihren Sitz
nieder, küßte sie sachte auf die Stirne und strich einmal mit seiner
Hand über ihre Haare, die sie glatt gescheitelt über der feinen Stirne
hatte.

Mein Vater nahm hierauf, da Risach wieder an seinem Platze war, das
Wort, und sprach: »Es ist noch ein Vater da, welcher auch einige Worte
reden und einige Bedingungen stellen möchte. Vor allem, Freiherr von
Risach, empfanget den innigsten Dank von mir im Namen meiner Familie,
daß ihr ein Mitglied derselben zu einem Mitgliede der eurigen
aufzunehmen für würdig erachtet habt. Unserer Familie ist dadurch
eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn Heinrich wird sich sicherlich
bestreben, sich alle jene Eigenschaften zu erwerben, welche ihm
zur Erfüllung seiner neuen Pflichten und zur Darstellung jener
Menschenwürde überhaupt nötig sind, ohne welche man ein Teil der
besseren menschlichen Gesellschaft nicht sein kann. Ich hoffe, daß ich
hierin für meinen Sohn bürgen kann, und ihr selber hofft es, da ihr
ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er ist. Mein Sohn wird in
die neue Haushaltung bringen, was nicht für unbillig erachtet worden
soll. In meinem Hause in der Stadt wird eine anständige Wohnung für
die Neuvermählten immer in Bereitschaft stehen, und wenn ich das
Landleben einmal vorziehen sollte, so werden sie auch in meiner neuen
Wohnung einen Platz finden. Ihr eigenes ständiges Haus mögen sie nach
Belieben aufschlagen.

Daß die Vermählung in dem Asperhofe sei, ist nach meiner Meinung
gerecht, und ich glaube, es wird niemand die Maßregel bestreiten. Und
nun habe ich noch eine Bitte an euch, Freiherr von Risach, nehmt mich
alten Mann und meine alte Gattin nebst unsrer Tochter nicht ungerne
in euren Familienkreis auf. Wir sind bürgerliche Leute und haben als
solche einfach gelebt; aber in jedem Verhältnisse unsere Ehre und
unsern guten Namen aufrecht zu erhalten gesucht.«

»Ich kenne euch schon lange«, antwortete Risach, »obwohl nicht
persönlich, und habe euch schon lange hoch geachtet. Noch höher
achtete und liebte ich euch, als ich euren Sohn kennen gelernt hatte.
Wie sehr es mich freut, in eine nähere Umgangsverbindung mit euch zu
kommen, kann euch euer Sohn sagen und wird euch die Zukunft zeigen.
Was die Bürgerlichkeit anlangt, so gehörte ich zu diesem Stande.
Vergängliche Handlungen, die man Verdienste nannte, haben mich
auf eine Zeit aus ihm gerückt, ich kehre durch meine angenommene
Tochter wieder zu ihm zurück, der mir allein gebührt. Ehrenvoller,
würdiger Mann einer stetigen Tätigkeit und eines wohlgegründeten
Familienlebens, wenn ihr mich, der ich Beides nicht habe, für wert
erachtet, so kommt an mein Herz und laßt uns die letzten Lebenstage
freundlich mit einander gehen.«

Beide Männer verließen ihre Plätze, begegneten sich auf halbem Wege zu
einander, schlossen sich in die Arme und hielten sich einen Augenblick
fest. Wie erschütternd das auf alle wirkte, zeigte die Tatsache, daß
es totenstill im Zimmer war und daß manche Augen feucht wurden.

Meine Mutter war, da Risach Mathilden verlassen hatte, zu ihr
gegangen, hatte sich neben sie gesetzt und hatte ihre beiden Hände
gefaßt. Die Frauen küßten sich und hielten sich noch immer beinahe
umfangen.

Ich und Natalie traten jetzt vor Risach und sagten, daß wir ihm für
alles Liebe und Gute gegen uns aufs Tiefste danken und daß unser
einziges Bestreben sein werde, seiner guten Meinung über uns immer
würdiger zu werden.

»Ihr seid lieb und freundlich und ehrlich«, sagte er, »und alles wird
gut werden.«

Wir gingen wieder an unsere Plätze, und Eustach, Klotilde, Roland,
Gustav und selbst die Eltern wünschten uns nun alles Glück und allen
Segen.

Hierauf nahm das Gespräch eine Wendung auf einfachere und
gewöhnlichere Dinge. Man stand auch öfter auf und mischte sich
durcheinander. Meine Mutter hatte heute einige der schönsten
geschnittenen Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Körper. Mein
Gastfreund hatte öfter darauf hingeblickt; allein jetzt konnten er und
Eustach dem Reize nicht mehr widerstehen, sie traten zu meiner Mutter,
betrachteten verwundert die Steine und sprachen über dieselben. Später
kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glänzten die Augen vor Freude.

Als das Gespräch noch eine Weile gedauert hatte, trennte man sich und
bestellte sich auf einen Spaziergang, der noch vor dem Mittagessen
statt finden sollte. Auf dem Sandplatze vor dem Rosengitter an dem
Hause wollte man sich versammeln.

Wir kleideten uns in andere Kleider und kamen vor dem Hause zusammen.

Mein Vater, der wahrscheinlich sehr neugierig war, alles in diesem
Hause zu sehen, hatte sich zu Risach gesellt, sie standen vor den
Rosengewächsen, und mein Gastfreund erklärte dem Vater alles. Mathilde
war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und Natalie hielten sich an
den Armen, und ich und Gustav so wie zu Zeiten auch Eustach und Roland
hielten uns in der Nähe der alten Männer auf. Wir gingen von dem
Sandplatze in den Garten, damit die Meinigen zuerst diesen sähen. Mein
Gastfreund machte für meinen Vater den Führer und zeigte und erklärte
ihm alles. Wo meine Mutter und Klotilde an dem Gesehenen Anteil
nahmen, wurde es ihnen von ihren Begleiterinnen erläutert.

»Da sehe ich ja aber doch Faltern«, sagte mein Vater, als wir eine
geraume Strecke in dem Garten vorwärts gekommen waren.

»Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß meine Vögel alle Keime
ausrotteten«, antwortete mein Gastfreund, »sie hindern nur die
unmäßige Verbreitung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das
nächste Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch von der Ferne Faltern
hergeflogen. Sie wären wohl auch die schönste Zierde eines Gartens,
wenn ihre Raupen nicht so oft für unsere menschlichen Bedürfnisse so
schädlich wären.«

»Bringen denn nicht aber auch die Vögel manchen Baumfrüchten Schaden?«
fragte mein Vater.

»Ja, sie bringen Schaden«, entgegnete mein Gastfreund, »er trifft
hauptsächlich die Kirschenarten und andere weichere Obstgattungen;
aber im Verhältnisse zu dem Nutzen, den mir die Vögel bringen, ist
der Schaden sehr geringe, sie sollen von dem Überflusse, den sie mir
verschaffen, auch einen Teil genießen, und endlich, da sie neben
ihrer natürlichen Nahrung von mir noch außerordentliche und mitunter
Leckerbissen bekommen, so ist dadurch der Anlaß zu Angriffen auf mein
Obst geringer.«

Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes Blumenbeet, jede einzelne
merkwürdigere Blume, jeder Baum, jedes Gemüsebeet, der Lindengang,
die Bienenhütte, die Gewächshäuser, alles wurde genau betrachtet. Der
Tag hatte sich beinahe ganz ausgeheitert, und eine Fülle von Blüten
lastete und duftete überall. Wir gingen bis zu dem großen Kirschbaume
empor und sahen von ihm über den Garten zurück. Der Vater fühlte sich
ganz glücklich, alles das sehen und betrachten zu können. Die Mutter
mochte wohl ihren Umgebungen nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
haben wie der Vater, und sie mochte mit Mathilden mehr über das Wohl
und Wehe und über die Zukunft ihrer Kinder gesprochen haben. Auch
dürfte der Inhalt der Gespräche zwischen Klotilden und Natalien nicht
vorherrschend der Garten gewesen sein. Sie konnten manche Fäden über
andere Dinge anzuknüpfen gehabt haben.

Von dem großen Kirschbaume mußte wieder in das Haus zurückgegangen
werden, weil die Zeit, welche noch bis zu dem Mittagessen gegeben
gewesen war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfügte sich einen
Augenblick in seine Zimmer und versammelte sich dann im Speisesaale.

Der Nachmittag war zur Besichtigung des Meierhofes, der Wiesen und
Felder bestimmt. Wir gingen von dem großen Kirschbaume auf dem
Getreidehügel hinaus und auf ihm fort bis zu der Felderrast. Wir
gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende mit meinem
Gastfreunde gegangen war, als ich mich zum ersten Male in dem
Asperhofe befunden hatte. Wir sahen von der Felderrast ein wenig
herum. Die Esche hatte eben ihre ersten kleinen Blätter angesetzt und
suchte sie auszubreiten. Wir konnten uns nicht niedersetzen, weil das
Bänkchen dazu viel zu klein war. Von der Felderrast gingen wir in den
Meierhof. Wir schlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Natalien
allein gewandelt war. Nach der Besichtigung des Meierhofes, in welchem
mein Gastfreund meinem Vater das Kleinste und Größte zeigte, und
in welchem er ihm erklärte, wie alles früher ausgesehen hatte, was
daraus geworden war und was noch werden sollte, gingen wir durch
die Meierhofwiesen, durch die Felder am Abhange des Hügels des
Rosenhauses, dann den Hügel herum, endlich in das Gehölze des Teiches
und von ihn am dem Erlenbache zurück, so daß wir wieder zu dem großen
Kirschbaume kamen und von ihm in das Haus zurückkehrten. Es war
mittlerweile Abend geworden. Alles hatte die Bewunderung meines Vaters
erregt.

Der nächste Tag war dazu bestimmt, das Innere des Hauses, seine
Kunstschätze und alles, was es sonst enthielt, zu besehen.
Mein Gastfreund führte meinen Vater zuerst in alle Zimmer des
Erdgeschosses, dann über den Marmorgang die Treppe hinan zur
Marmorgestalt. Wir waren alle mit, außer Eustach und Roland. Bei der
Marmorgestalt hielten wir uns sehr lange auf. Von ihr gingen wir
in den Marmorsaal, in welchem mein Gastfreund meinem Vater alle
Marmorarten nannte und ihm die Orte ihres Vorkommens bezeichnete. Dann
besuchten wir nach und nach die Wohnzimmer meines Gastfreundes, die
Zimmer mit den Bildern, Büchern, Kupferstichen, das Lesezimmer, das
Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und endlich die Gastzimmer und die
Wohnung Mathildens. Auch Rolands Gemach wurde besehen, in welchem auf
einer Staffelei sein beinahe fertiges Bild stand. Den Beschluß machte
der Besuch des Schreinerhauses und die Besichtigung seiner Einrichtung
und alles dessen, was da eben gefördert wurde. War mein Vater schon
gestern voll Bewunderung gewesen, so war er heute beinahe außer sich.
Die Marmorgestalt hatte seinen Beifall so sehr, daß er sagte, er
könne sich von seinen Reisen her nicht auf Vieles erinnern, was von
altertümlichen Werken besser wäre als diese Gestalt. Sie wurde von
allen Seiten besehen und wieder besehen, dieser Teil und jener Teil
und das Ganze wurde besprochen. So etwas, sagte mein Vater, könne er
nicht entfernt aufweisen, nur einige seiner alten geschnittenen Steine
könnten neben dieser Gestalt noch besehen werden. Der Marmorsaal
gefiel ihm sehr, und der Gedanke, ein solches Gemach zu bauen,
erschien ihm als ein äußerst glücklicher. Er pries die Geduld
meines Gastfreundes im Suchen des Marmors und lobte die, welche die
Zusammenstellung entworfen hatten, daß etwas so Reines und Großartiges
zu Stande gekommen sei. Die alten Geräte, die Bilder, die Bücher, die
Kupferstiche beschäftigten meinen Vater auf das Lebhafteste, er sah
alles genau an und sprach als Liebhaber und auch als Kenner über
Vieles. Mein Gastfreund verständigte sich leicht mit ihm, ihre
Ansichten trafen häufig zusammen und ergänzten sich häufig, in so
ferne man überhaupt Ansichten in einer Gesellschaft, in welcher man
sich kurz fassen mußte, aussprechen konnte. Meine Mutter freute
sich innig über die Freude des Vaters. So war es denn also doch in
Erfüllung gegangen, was sie so oft gewünscht hatte, daß mein Vater das
Haus meines Gastfreundes besuchte, und es war auf eine liebe Art in
Erfüllung gegangen, die sie sich gewiß einstens nicht gedacht hatte.
Rolands Bild betrachtete der Vater sehr aufmerksam, er hielt es für
höchst bedeutend, er sprach mit Risach über Verschiedenes in demselben
und äußerte sich, daß, nach diesem Werke zu urteilen, Roland eine
hoffnungsvolle Zukunft vor sich haben dürfte. Daß es meinen Gastfreund
mit Vergnügen erfüllte, daß seine Schöpfungen mit solcher Anerkennung
von einem Manne, aus dessen Worten die Berechtigung zu einem Urteile
hervorging, betrachtet werden, ist begreiflich. Die zwei Männer
schlossen sich immer mehr an einander und vergaßen zuweilen ein wenig
die übrige Gesellschaft. In dem Schreinerhause, in welchem Eustach
den Führer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und Pläne
durchgesehen, sondern die ganze Einrichtung und die Art, wie hier
verfahren werde, sammt allen Werkzeugen, wurde einer genauen
Beobachtung unterzogen. Der Vater war voll der Billigung darüber. Mit
Besichtigung dieser Dinge war der ganze Tag verbraucht worden.

Am nächsten Tage fuhr man in den Alizwald, damit mein Gastfreund
meinen Eltern den Forst zeigen konnte, welcher zu dem Asperhofe
gehörte.

Die folgenden Tage waren für die Gesellschaft schon weniger
vereinigend. Man zerstreute sich und ging dem nach, was eben die
meiste Anziehungskraft ausübte. Zu mir und Natalien kamen nach und
nach alle Bewohner des Rosenhauses und des Meierhofes, um uns Glück
und Segen zu unserer bevorstehenden Vereinigung zu wünschen. Sie
hatten jetzt erst, nach geschehener Verlobung, die Gewißheit davon
erhalten, hatten es aber in früherer Zeit aus den Vorgängen, die sie
sahen, gemutmaßt und geschlossen. Mein Vater holte Vieles wieder im
Einzelnen nach, was er im Allgemeinen gesehen hatte, er war bald hier,
bald dort und war viel mit dem Besitzer des Hauses beschäftigt. Die
Frauen ließen sich das angelegen sein, was Sache des Hauswesens
ist, und verkehrten manche Weile mit Katharinen. Wir jüngeren Leute
gingen viel in dem Garten herum, besuchten manche Stelle und machten
Spaziergänge. Wir waren mehrere Male bei den Gärtnerleuten, saßen
einmal lange bei ihrem Tische und besahen einmal ausführlich für
uns die Gewächshäuser und ließen uns das Vorhandene von dem Gärtner
erklären. Eines Tages waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner
des Inghofes waren eines andern Tages im Asperhofe. Der Pfarrer von
Rohrberg und mehrere der angeseheneren Bewohner der Gegend waren von
nahe oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen bekannt gewordenen
Ereignisse ihren Glückwunsch darzubringen. Selbst Bauersleute der
Nachbarschaft und Andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu
demselben Zwecke.

Wir mußten zwölf Tage in dem Asperhofe zubringen, dann aber wurde
unser Reisewagen bepackt, und wir traten die Rückreise in unsere
Vaterstadt an.


Da wir zu Hause angekommen waren, wurde sogleich daran gegangen,
Zimmer in Bereitschaft zu setzen, daß wir den Gegenbesuch, wenn er
eintreffen würde, anstandsvoll empfangen könnten. Ich rüstete mich
indessen auch noch zu etwas Anderem, was noch vor der Verbindung mit
Natalien statthaben mußte, zu meiner großen Reise. Ich suchte die
Anstalten so zu treffen, daß ich glaubte, nichts Wesentliches außer
Acht gelassen zu haben. Die Notwendigkeit, mir durch diese Reise noch
Manches, was mir fehlte, anzueignen und in dieser Hinsicht nicht zu
weit hinter Natalien zurückstehen zu müssen, war mir einleuchtend, und
eben so einleuchtend war es mir, daß ich eine größere Reise allein
machen müsse, ehe ich in künftiger Zeit mit Natalien eine Reise
antreten könnte. Ich hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der
uns der Gegenbesuch abgestattet sein würde, auf die Reise zu begeben.

Der Gegenbesuch kam drei Wochen nach dem Tage, an welchem wir in
der Stadt angelangt waren. Ein Brief hatte ihn vorher angekündigt.
Mathilde, Risach, Natalie und Gustav trafen in einem schönen
Reisewagen ein. Sie wurden in die für sie in Bereitschaft gehaltenen
Zimmer geführt. Nachdem sie sich umgekleidet hatten, kamen wir zum
Gruße in unserem Besuchzimmer zusammen. Der Empfang in unserem Hause
war so herzlich und innig, wie er nur immer in dem Sternenhofe und in
dem Hause meines Gastfreundes gewesen war. In allen Mienen war Freude,
und alle Worte setzten die begonnene Bekanntschaft und die sich
entwickelnde Freundschaft fort. Selbst bis auf die Dienerschaft
pflanzte sich das angenehme Gefühl über. Aus einzelnen Worten und aus
den heitern Angesichtern entnahm man, wie sehr ihnen die wunderschöne
Braut gefalle. Was unser Haus und die Stadt für die Gäste Angenehmes
bieten konnte, wurde ihnen zur Verfügung gestellt. Wie auf den beiden
Landsitzen wurde auch hier alles gezeigt, was das Haus enthält.

Die Gäste wurden in die Zimmer geführt, besahen Bilder, Bücher,
alte Schreine und geschnittene Steine. Sie kamen in das gläserne
Eckhäuschen und in alle Teile des Gartens. In Hinsicht der Bilder
meines Vaters sprach sich mein Gastfreund dahin aus, daß sie als
Ganzes durchaus wertvoller seien als seine Sammlung, obwohl er auch
einzelne Stücke besitze, welche dem Besten aus meines Vaters Sammlung
an die Seite gestellt werden könnten. Meinen Vater freute dieses
Urteil, und er sagte, er hätte ungefähr dasselbe gefällt.

Die geschnittenen Steine, sagte mein Gastfreund, seien auserlesen, und
denen hätte er nichts Gleiches entgegenzustellen, es müßte nur das
Marmorstandbild sein.

»Das ist es auch, und das ist das Höchste, was in beiden
Kunstsammlungen besteht«, erwiderte mein Vater.

Die Schnitzarbeiten im Glashäuschen waren meinem Gastfreunde aus
meinen Abbildungen bekannt. Er beschäftigte sich aber doch mit ihrer
genauen Besichtigung und erteilte ihnen mit Rücksicht auf die Zeit
ihrer Entstehung viel Lob. Mein Einbeerblatt aus Marmor im Garten
wurde einer Anerkennung nicht für unwürdig erachtet. Meinen Vater
erquickte die Würdigung seiner Schätze von einem Manne, wie Risach
war, sehr, und ich glaube, er hatte keine angenehmeren Stunden gehabt,
seit er alle diese Dinge zusammen gebracht, als die Zeit, die Risach
bei ihm gewesen war. Selbst jenen Augenblick dürfte er kaum vorgezogen
haben, da sich zum ersten Male meine Augen für den Wert dessen
geöffnet hatten, was er besaß. Bei mir war es damals nur Gefühl
gewesen, bei Risach war jetzt es Urteil.

Zum Vergnügen außer dem Hause geschahen zwei Theaterbesuche, drei
gemeinschaftliche Besuche in Kunstsammlungen und einige Fahrten in die
Umgebung.

Bei dieser Zusammenkunft wurde auch die Vermählungszeit besprochen.
Ich sollte meine angekündigte Reise unternehmen und nach der
Zurückkunft sollte kein Aufschub mehr stattfinden. Der Tag werde dann
festgestellt werden. Nach dieser Verabredung wurde Abschied genommen.
Der Abschied war dieses Mal sehr schwer, weil er auf länger genommen
wurde und weil unglückliche Zufälle in der Abwesenheit nicht unmöglich
sein konnten. Aber wir waren standhaft, wir scheuten uns, vor Zeugen,
selbst vor so lieben, einen Schmerz zu äußern, sondern trennten uns
und versprachen, uns zu schreiben.

Als uns unsere Gäste verlassen hatten, zeigten wir in Briefen an
einige uns sehr befreundete Familien meine Verlobung an. Zur Fürstin
ging ich selbst, um ihr dieses Verhältnis zu eröffnen. Sie lächelte
herzlich und sagte, daß sie sehr wohl bemerkt habe, daß ich einmal, da
sie des Namens Tarona Erwähnung getan hatte, äußerst heftig errötet
sei.

Ich erwiderte, daß ich damals nur errötet sei, weil sie mich auf einer
inneren Neigung betroffen habe, den Namen Tarona habe ich in jener
Zeit an Natalien noch gar nicht gekannt. Ich sprach auch von meiner
Reise, sie lobte diesen Entschluß sehr und erzählte mir von den
Verhältnissen verschiedener Hauptstädte, in denen sie in früheren
Jahren zeitweilig gewohnt hatte. Sie erwähnte kurz auch Manches
über das äußere Ansehen der Länder, da sie eine große Freundin
landschaftlicher Schönheiten war. Sie hatte eben in dem Augenblicke
vor, wieder an den Gardasee zu gehen, den sie schon öfter besucht
hatte. Das war auch die Ursache, daß sie noch so spät im Frühlinge in
der Stadt war. Sie ersuchte mich, nach meiner Zurückkunft wieder bei
ihr auf ein Weilchen zu erscheinen. Ich versprach es.

Meine Reise wurde nun keinen Augenblick mehr verzögert. Ich nahm von
den Meinigen Abschied und fuhr eines Tages zu dem Tore unserer Stadt
hinaus.

Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz,
Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach
Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen
durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toledo,
Madrid und vielen anderen, minderen Städten. Von Spanien ging ich nach
Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort
über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich
war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend
gewesen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige
Welt der Alpen, der Feuerberge Neapels und Siciliens, der Schneeberge
des südlichen Spaniens, der Pyrenäen und der Nebelberge Schottlands
hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Großartigste,
was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel
Anmutiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich sah Völker und lernte
sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben. Ich sah verschiedene
Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wünschen und
Bedürfnissen, ich sah Manches von dem Betriebe des Verkehrs, und in
bedeutenden Städten blieb ich lange und beschäftigte mich mit ihren
Kunstanstalten, Bücherschätzen, ihrem Verkehre, gesellschaftlichem und
wissenschaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimat
kamen, und mit solchen, die dorthin abgingen.

Ich kam auf meiner Rückreise früher in die Gegend des Asperhofes und
des Sternenhofes als in meine Heimat. Ich sprach daher in beiden ein.
Alles war sehr wohl und gesund und fand mich sehr gebräunt. Hier
erfuhr ich auch eine Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen
war und die sie mir in den Briefen verschwiegen hatten, damit ich
überrascht würde. Alle seine Anspielungen, daß er plötzlich einmal in
den Ruhestand treten werde, daß er sich, ehe man sichs versehe, auf
dem Lande befinden werde, daß sich Vieles ereignen werde, woran man
jetzt nicht denke, daß man nicht wisse, ob man nicht den Reisewagen
öfter brauchen könne, waren in Erfüllung gegangen. Er hatte sein
Handelsgeschäft abgetreten und hatte den auf einer sehr lieblichen
Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe gelegenen, verkäuflich
gewordenen Gusterhof gekauft, den er eben für sich einrichten lasse.
Man freute sich schon darauf, wie er sich in diesem neuen Besitztume
häuslich und wohnlich niederlassen werde. Ich nahm mir nicht Zeit,
diesen Hof, den ich von Außen kannte, zu besuchen, weil ich Natalien,
die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch unnötig
länger von meiner Seite entfernt wissen wollte. Nach innigem Empfange
und Abschiede reiste ich zu meinen Eltern, und reiste Tag und Nacht,
um bald einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft und empfingen mich
freudig. Ich richtete mich sogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir
seltsam und wohltuend, den Vater jetzt immer zu Hause und ihn stets
mit Plänen, Entwürfen, Zeichnungen umringt zu sehen. Er war während
meiner Abwesenheit fünf Male in dem Gusterhofe und bei diesen
Gelegenheiten öfter bei Mathilde oder Risach als Gast gewesen. Die
Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in diesen
zwei Jahren um ein gut Teil jünger geworden. Auch die Bewohner des
Sternen- und Asperhofes hatten sich einmal im Winter bei meinen Eltern
als Gäste eingefunden. Die Bande waren sehr schön und lieb geflochten.

Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit im elterlichen Hause führte
mich meine Mutter in die Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung
hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhatten
wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, daß in dem Hause so viel Platz
sei, so geräumig war die Wohnung. Sie war zugleich so schön und edel
angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich sprach bei dieser
Gelegenheit von dem Vermählungstage, und die Mutter antwortete, daß
der Vater glaube, es sei nun keine Ursache einer Säumnis, und von uns,
als von der Seite des Bräutigams, müsse die Anregung ausgehen. Ich bat
um Beschleunigung, und am folgenden Tage gingen schon unsere Briefe in
den Sternenhof und zu Risach ab. In Kurzem kam die Antwort zurück, und
der Tag war nach unsern Vorschlägen festgesetzt. Der Sammelplatz war
der Asperhof.

Meinem Versprechen getreu stellte ich mich nun auch bei der Fürstin.
Sie war schon auf ihren Landsitz abgereist. Ich schrieb ihr
daher einige Zeilen, daß ich zurück sei, und zeigte ihr meinen
Vermählungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebst einem
Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermählungsfeier von
ihr enthalte. Sie könne es mir nicht persönlich übergeben, weil sie
seit einigen Wochen kränklich sei und sich deshalb so früh auf das
Land habe begeben müssen. Das Erinnerungszeichen liege schon seit
länger in Bereitschaft. Ich öffnete das Päckchen. Es enthielt eine
einzige, aber sehr große und sehr schöne Perle. Die Fassung war fast
keine. Nur ein Stengel und ein Goldscheibchen hafteten an der Perle,
daß sie eingeknöpft werden konnte. Ich freute mich außerordentlich
über die Gesinnung der edlen Fürstin, über die Trefflichkeit des
Geschmackes und über dessen Sinnigkeit; denn eine Perle ist es ja in
meinen Augen, die ich mir als Geschenk an meine Brust zu heften im
Begriffe war. Ich schrieb eine innige Dankantwort zurück.

Unsere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reisten ab.

»Wir können ja unsere letzten Rüstungen in meinem Landhause machen«,
sagte der Vater mit heiterem Lächeln.

Wir fuhren in den Gusterhof. Eine kleine, aber freundlich bestellte
Wohnung, die der Vater vorläufig für solche Gelegenheiten hatte
herrichten lassen, empfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in
unserem eigenen, uns zugehörigen Landsitze zu sein. Der Vater schien
dieses Gefühl am tiefsten zu hegen, und die Mutter freute sich dessen
ungemein. Wir blieben hier so lange und vervollständigten unsere
Vorbereitungen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem Asperhofe
eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren schon anwesend, da
wir ankamen. Wir begrüßten uns herzlich. Alles war in einer gewissen
Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige
Augenblicke sehen. Klotilde wurde auch sofort hineingezogen.
Botschaften kamen und gingen ab, Gäste und Trauzeugen trafen ein. Ich
selber war in einer Art Beklemmung.

Am Nachmittage des ersten Tages fand ich einmal Mathilden, meinen
Gastfreund und Gustav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich gesellte
mich zu ihnen. Gustav verließ uns bald.

»Wir sprachen eben davon, daß mein Sohn sich nun bald von hier
entfernen und in die Welt gehen müsse«, sagte Mathilde, »habt ihr ihn
nach eurer Reise nicht auch verändert gefunden?«

»Er ist ein vollkommener Jüngling geworden«, erwiderte ich, »ich habe
auf meinen Reisen keinen gesehen, der ihm gleich wäre. Er war ein sehr
kraftvoller Knabe und ist auch ein solcher Jüngling geworden, aber,
wie ich glaube, gemilderter und sanfter. Ja, sogar in seinen Augen,
die noch glänzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe
wie das Schmachten bei einem Mädchen ist.«

»Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt«, sagte mein Gastfreund,
»es ist so, und es ist sehr gut, wenn auch gefährlich, daß es so ist.
Gerade bei sehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem bösen
Rauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten
ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen. Es ist dies
nicht Schwäche, sondern gerade Überfülle von Kraft, die so reizend
wirkt, wenn sie aus den meistens dunkeln, sanftschimmernden Augen
blickt und gleichsam wie ein Juwel an den unschuldigen Wimpern hängt.
Solche Jünglinge dulden aber auch, wenn böse Schicksalstage kommen,
mit einem Starkmute, der der Krone eines Märtyrers wert wäre, und wenn
das Vaterland Opfer heischt, legen sie ihr junges Leben einfach und
gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falscher Begeisterung
getrieben und mißbraucht werden, und wenn ein solches Jünglingsauge
zu rechter Zeit in das rechte Mädchenauge schaut, so flammt die
plötzlichste, heißeste, aber oft auch unglücklichste Liebe empor,
weil der junge, unverfälschte Mann sie fast unausrottbar in sein Herz
nimmt. Wir werden, wenn die jetzige Angelegenheit vorüber ist, weiter
von dem sprechen, was etwa not tut.«

»Ich sehe ja das Gute und die Gefahr«, sagte Mathilde.

Wir gingen bald in das Haus zurück.

»Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn stählen«, sagte mein
Gastfreund auf dem Wege dahin.


Endlich war der Vermählungstag angebrochen. Die Trauung sollte am
Vormittage in der Kirche zu Rohrberg stattfinden, in welche der
Asperhof eingepfarrt war. Der Versammlungsort war der Marmorsaal,
dessen Fußboden zu diesem Zwecke mit feinem grünen Tuche überspannt
worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in
meinen Zimmern an, tat ein Gebet zu Gott und wurde von einem meiner
Trauzeugen in den Marmorsaal geführt. Von unsern Angehörigen waren
erst die Männer dort. Die Zeugen und die meisten Gäste waren zugegen.
Risach war im Staatskleide und mit allen seinen Ehren geschmückt. Da
tat sich die Tür, die von dem Gange hereinführte, auf und Natalie mit
ihrer und meiner Mutter, mit Klotilden und mit noch andern Frauen und
Mädchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edelsteinen
gleichsam übersät; aber sie war sehr blaß. Die Edelsteine waren in
mittelalterlicher Fassung, das sah ich wohl; aber ich hatte nicht die
Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr
entgegen und reichte ihr sanft die Hand zum Gruße. Sie zitterte sehr.

Mein Gastfreund sagte zu meinen Eltern: »Das Lieblingsgespräch eures
Sohnes waren bisher seine Eltern und seine Schwester, wer ein so guter
Sohn ist, wird auch ein guter Gatte werden.«

»Die schöneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewähren«, sagte mein
Vater, »hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen und haben
ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt.«

»Ich muß antworten wie bei Natalien«, erwiderte mein Gastfreund, »sein
Selbst hat sich entwickelt und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden,
vorerst der eurige, hat geholfen.«

Ich wollte etwas sprechen, konnte aber vor Bewegung nicht.

Gustav, der in der Nähe der Frauen stand, sah mich an, ich ihn auch.
Er war ebenfalls sehr blaß.

Indessen hatten sich alle nach und nach eingefunden, die bei der
Trauung gegenwärtig sein sollten, die Stunde der Abfahrt war da und
der Hausverwalter meldete, daß alles in Bereitschaft sei.

Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne, den
Mund und die Brust, und diese beugte sich mit ihren Lippen auf die
Hand der Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den Schleier, der wie
ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Füßen reichte,
hüllten sie in ihn, und Natalie ging, von ihren Mädchen umringt
und von den Frauen geleitet, die Treppe hinunter, auf welcher die
Marmorgestalt stand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und
Risach und der Vater. Den ersten Teil der Wagenreihe nahmen die
Frauen, die Braut und die Mädchen ein, den letzten die Männer und ich.
Wir stiegen ein, der Zug setzte sich in Bewegung. Es war viel Volk
gekommen, die Brautfahrt zu sehen. Darunter erblickte ich meinen
Zitherspiellehrer, welcher mir mit einem grünen Hute, auf dem er
Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des
Hauses waren größtenteils vorausgegangen und harrten unser in der
Kirche. Einige befanden sich auch in den Wägen. Der Zug fuhr langsam
den Hügel hinab.

In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor
den Altar, und die Trauung ward vollbracht.

Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie
sprach nichts, der Schleier blieb zurückgeschlagen und Tropfen nach
Tropfen floß aus ihren Augen.

Da wir wieder in dem Marmorsaale waren, wurden auf den langen Tisch,
den man heute hier aufgerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte,
von Risach und von meinem Vater die Papiere niedergelegt, die sich auf
unsere Vermählung und unser Vermögen bezogen. Ich aber nahm indessen
Natalien an der Hand und führte sie durch das Bilder- und Lesezimmer
in das Bücherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort stellte ich
mich ihr gegenüber und breitete die Arme aus. Sie stürzte an meine
Brust. Wir umschlangen uns fest und weinten beide beinahe laut.

»Meine teure, meine einzige Natalie!« sagte ich.

»O mein geliebter, mein teurer Gatte«, antwortete sie, »dieses Herz
gehört nun ewig dir, habe Nachsicht mit seinen Gebrechen und seiner
Schwäche.«

»O mein teures Weib«, entgegnete ich, »ich werde dich ohne Ende ehren
und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit
mir.«

»O Heinrich, du bist ja so gut«, antwortete sie.

»Natalie, ich werde suchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen«,
erwiderte ich, »und bis dahin werde ich jeden so verhüllen, daß er
dich nicht verwunde.«

»Und ich werde bestrebt sein, dich nie zu kränken«, antwortete sie.

»Alles wird gut werden«, sagte ich.

»Es wird alles gut werden, wie unser zweiter Vater gesagt hat«,
antwortete sie.

Ich führte sie näher an das Fenster, und da standen wir und hielten
uns an den Händen. Die Frühlingssonne schien herein, und neben den
Diamanten glänzten die Tropfen, die auf ihr schönes Kleid gefallen
waren.

»Natalie, bist du glücklich?« sagte ich nach einer Weile.

»Ich bin es in hohem Maße«, antwortete sie, »mögest du es auch sein.«

»Du bist mein Kleinod und mein höchstes Gut auf dieser Erde«,
erwiderte ich, »es ist mir noch wie im Traume, daß ich es errungen
habe, und ich will es erhalten, so lange ich lebe.«

Ich küßte sie auf den Mund, den sie freundlich bot. In ihre feinen
Wangen war das Rot zurückgekehrt.

In diesem Augenblicke hörten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und
Mathilde, meine Mutter, Risach, mein Vater und Klotilde, die uns
gesucht hatten, traten ein.

»Mutter, teure Mutter«, sagte ich zu Mathilden, indem ich allen
entgegen ging, Mathildens Hand faßte und sie zu küssen strebte.
Mathilde hatte sich nie die Hand von irgend jemandem küssen lassen.
Dieses Mal erlaubte sie, daß ich es tue, indem sie sanft sagte: »Nur
das eine Mal.«

Dann küßte sie mich auf die Stirne und sagte: »Sei so glücklich, mein
Sohn, als du es verdienst und als es die wünscht, die dir heute ihr
halbes Leben gegeben hat.«

Risach sagte zu mir: »Mein Sohn, ich werde dich jetzt du nennen, und
du mußt zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Wörtchen sagen -
mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, ist deine erste Pflicht,
ein edles, reines, grundgeordnetes Familienleben zu errichten. Du hast
das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie sie sind. Die Familie
ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und
Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie
alles heißt, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die
Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat. Wenn
Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich
das Höchste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem
Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr
nützt und das zuletzt unterläßt, solche Güter hervor zu bringen. Wenn
du auf dem Boden der Familie einmal stehend - viele schließen keine
Ehe und wirken doch Großes -, wenn du aber auf dem Boden der Familie
einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm
stehst. Wirke dann auch für die Kunst oder für die Wissenschaft, und
wenn du Ungewöhnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit
Recht gepriesen, nütze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen
Angelegenheiten und folge dem Rufe des Staates, wenn es not tut. Dann
hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens
wie bisher und alles wird sich wohl gestalten.«

Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich und küßte mich auf den
Mund.

Natalie war indessen in den Armen meiner Mutter, meines Vaters und
Klotildens gewesen.

»Er wird gewiß bleiben, wie er heute ist«, sagte sie, wahrscheinlich
auf einen Wunsch für die Zukunft antwortend.

»Nein, mein teures Kind«, sagte meine Mutter, »er wird nicht so
bleiben, das weißt du jetzt noch nicht: er wird mehr werden, und du
wirst mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist
sie eine ganz andere; aber in jedem Jahr ist sie eine größere, und
wenn du sagst, jetzt lieben wir uns am meisten, so ist es in Kurzem
nicht mehr wahr, und wenn du statt des blühenden Jünglings einst
einen welken Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den
Jüngling geliebt hast; aber du liebst ihn unsäglich mehr, du liebst
ihn treuer, ernster und unzerreißbarer.«

Mein Vater wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Meine Mutter küßte Natalien noch einmal und sagte: »Du liebe, gute,
teure Tochter.«

Natalie gab den Kuß zurück und schlang die Arme um den Hals meiner
Mutter.

»Kinder, jetzt müssen wir zu den Andern gehen«, sagte Risach.

Wir gingen in den Saal. Dort gab Risach Papiere in die Hände
Nataliens. Sie legte sie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch
Papiere. Alle Anwesenden wünschten uns nun Glück, vor allem Gustav,
den ich die letzte Zeit her gar nicht gesehen hatte. Er fiel der
Schwester um den Hals und auch mir. In seinen schönen Augen perlten
Tränen. Dann beglückwünschten uns Eustach, Roland, die vom Inghofe,
der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unser erstes Zusammentreffen in
diesem Hause an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle Andern.

Risach sagte, daß jetzt jedem zwei Stunden zur Verfügung gegeben
seien, dann müsse sich alles in dem Marmorsaale zu einem kleinen Mahle
versammeln.

Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemächer ihrer
Mutter geführt, daß sie dort die Trauungsgewänder ablege. Ich ging in
meine Wohnung, kleidete mich um und verschloß die Papiere, ohne sie
anzusehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu
Mathildens Wohnung und fragte, ob Natalie schon in Bereitschaft
sei, ich ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten
zu machen. Sie erschien in einem schönen, aber sehr einfachen
Seidenkleide und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den
Arm und wir wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf
anderen Gängen des Garten herum.

Nachdem die zwei Stunden verflossen waren, wurde mit der Glocke das
Zeichen zum Mahle gegeben. Alles begab sich in den Saal und erhielt
dort seine Sitze angewiesen. Das Mahl war, wie gewöhnlich bei Risach,
einfach, aber vortrefflich. Für Kenner und Liebhaber standen sehr edle
Weine bereit. Es war nie in dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und
der Ernst des Marmors, bemerkte mein gewesener Gastfreund, dürfe nur
in den Ernst des edelsten Weines nieder blicken. Trinksprüche wurden
ausgebracht und sogar Reime auf ewiges Wohl hergesagt.

»Habe ich es gut gemacht, Natta«, sagte mein einstiger Gastfreund,
»daß ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer,
ich verstände mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den
ersten Blick erkannt. Nicht bloß die Liebe ist so schnell wie die
Electricität, sondern auch der Geschäftsblick.«

»Aber Vater«, sagte Natalie errötend, »wir haben ja über diesen
Gegenstand nie gestritten, und ich konnte dir die Fähigkeit nicht
absprechen.«

»So hast du dir es gewiß gedacht«, erwiderte er, »aber richtig habe
ich doch geurteilt: er war immer sehr bescheiden, hat nie vorlaut
geforscht und gedrängt und wird gewiß ein sanfter Mann werden.«

»Und du, Heinrich«, sagte er nach einer Weile, »werde darum nicht
stolz. Verdankst du mir nicht endlich ganz und gar Alles? Du
hast einmal, da du zum ersten Male in diesem Hause warst, in der
Schreinerei gesagt, daß der Wege sehr verschiedene sind und daß man
nicht wissen könne, ob der, der dich eines Gewitters wegen zu mir
herauf geführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, worauf ich
antwortete, daß du ein wahres Wort gesprochen habest und daß du es
erst recht einsehen werdest, wenn du älter bist; denn in dem Alter,
dachte ich mir damals, übersieht man erst die Wege, wie ich die
meinigen übersehen habe. Wer hätte aber damals geglaubt, daß mein Wort
die Bedeutung bekommen werde, die es heute hat? Und alles hing davon
ab, daß du hartnäckig gemeint hast, ein Gewitter werde kommen, und daß
du meinen Gegenreden nicht geglaubt hast.«

»Darum, Vater, war es Fügung, und die Vorsicht selber hat mich zu
meinem Glücke geführt«, sagte ich.

»Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbarin
und zuweilen unser Gast war«, sagte mein Vater, »hat dir, Heinrich,
die Weissagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden: und nun
bist du bloß, wie du selber sagst, glücklich geworden.«

»Das Andere wird kommen«, riefen mehrere Stimmen.

»Eine gute Eigenschaft habe ich an deiner Gattin zu ihren andern
Tugenden entdeckt«, fuhr mein Vater fort, »sie ist nicht neugierig;
oder hast du, liebe Tochter, das Kästchen schon eröffnet, welches ich
dir gegeben habe?«

»Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink«, antwortete Natalie.

»So lasse das Kästchen bringen«, entgegnete mein Vater.

Es geschah. Der Faden mit dem Siegel wurde entzwei geschnitten, das
Kästchen geöffnet, und auf weißem Sammt lag ein außerordentlich
schöner Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der Verwunderung
machte sich hörbar. Nicht nur waren die Steine an sich, obwohl nicht
zu den größten ihrer Art gehörend, sehr schön, sondern die Fassung,
die Steine nicht drückend, war doch so leicht und so schön, daß das
Ganze wie ein zusammengehöriges, in einander gewachsenes Werk, wie ein
wirkliches Kunstwerk, erschien. Selbst Eustach und Roland sprachen
ihre Verwunderung aus, und vollends Risach. Sie versicherten, daß sie
keine neue Arbeit gesehen hätten, die dieser gliche.

»Dein Freund, mein Heinrich, hat diesen Schmuck fertigen lassen«,
sagte mein Vater, »wir haben Smaragde gewählt, weil er eben sehr
schöne und in erforderlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen
farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halses und Angesichtes am
sanftesten heben, und weil du tief gefärbte und reine Smaragde so
liebst. Und alle hier sind tief und rein. Wir haben gesucht, nach
deinen Grundsätzen die Steine fassen zu lassen. Es sind viele
Zeichnungen gemacht, gewählt, verworfen und wieder gewählt worden.
Es dürfte der beste Zeichner unserer Stadt sein, der endlich das
Vorliegende zusammen gestellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und
Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu sein. Geöffnet sollte
das Kästchen darum nicht werden, damit meine Tochter nicht etwa bloß
mir zu Liebe diesen Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen und einen
schöneren und kostbareren, den sie besitze, zu ihrem Leidwesen ruhen
lasse.«

»Sie besitzt keinen schöneren«, erwiderte Risach, »wir haben
den, welchen sie heute trug, nach Zeichnungen, die wir aus
mittelalterlichen Gegenständen frei zusammen trugen, ebenfalls bei
Heinrichs Freunde verfertigen lassen. Mathilde, laß doch den Schmuck
herbei bringen, daß wir beide vergleichen.«

Mathilde reichte an Natalien ein Schlüsselchen, und diese holte selber
das Fach, in welchem der Schmuck lag. Er war eine Zusammensetzung von
Diamanten und Rubinen. Er sah so zart, rein und edel aus, wie ein in
Farben gesetztes mittelalterliches Kunstwerk. Ein wahrer Zauber lag
um diese Innigkeit von Wasserglanz und Rosenröte in die sinnigen
Gestalten verteilt, die nur aus den Gedanken unserer Vorfahren so
genommen werden können. Und dennoch stand nach einstimmigem Urteil der
Smaragdschmuck nicht zurück. Der Künstler der Gegenwart kam zu Ehren.

»Es ist aber auch keiner in unserer Stadt und vielleicht in weiten
Kreisen, der so zeichnen kann«, sagte mein Vater, »er huldigt keinem
Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge, und hat ein so
tiefes Gemüt, daß der höchste Ernst und die höchste Schönheit daraus
hervorblicken. Oft wehte es mich aus seinen Gestalten so an wie aus
den Nibelungen oder wie aus der Geschichte der Ottone. Wenn dieser
Mann nicht so bescheiden wäre und statt den Dingen, womit man ihn
überhäuft, lieber große Gemälde machte, er würde seines Gleichen
jetzt nicht haben und nur mit den größten Meistern der Vergangenheit
zusammengestellt werden können.«

»Ein Schmuck in seinem Fache«, sagte eine Stimme, »ist doch wie ein
Bild ohne Rahmen, oder noch mehr wie ein Rahmen ohne Bild.«

»Freilich ist es so«, entgegnete Risach, »man kann jedes Ding nur an
seinem Platze beurteilen, und da mein Freund als mein Nebenbuhler
aufgetreten ist, so wäre es nicht zu verwerfen - Natta, bist du mein
liebes Kind?«

»Vater, wie gerne!« antwortete diese.

Sie stand von ihrem Stuhle auf, entfernte sich und kam so gekleidet
wieder, daß man ihr einen kostbaren Schmuck umlegen konnte. Es geschah
zuerst mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war Natalie, und
es bewährte sich, daß der Schmuck der Rahmen sei. Am Vormittage, in
beklemmenden und tieferen Gefühlen befangen, konnte ich dem Schmucke
keine Aufmerksamkeit schenken. Jetzt sah ich die schönen Gestaltungen
wie von einem sanften Scheine umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke
errötete die junge Frau, und die Rosen ihrer Farbe gaben den Rubinen
erst die Seele und empfingen sie von ihnen. Der Ausdruck der
Bewunderung war allgemein. Hierauf wurde der Smaragdschmuck umgelegt.
Aber auch er war vollendet. Der dunkle, tiefe Stein gab der Oberfläche
von Nataliens Bildungen etwas Ernstes, Feierliches, fremdartig
Schönes. War der Diamantschmuck wie fromm erschienen, so erschien der
Smaragdschmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Risach und
der Vater stimmten selber überein. Natalie nahm ihn wieder ab, beide
Schmuckstücke wurden in ihre Fächer gelegt, Natalie trug sie fort und
erschien nach einer Zeit wieder in ihrem früheren Anzuge.

Bei dem Smaragdschmucke hatte sich etwas Auffälliges ereignet. Von
ihm waren die Ohrgehänge im Fache zurückgeblieben. Der Diamantschmuck
enthielt keine Ohrgehänge. Mathilde und Natalie trugen Ohrgehänge
nicht, weil nach ihrer Meinung der Schmuck dem Körper dienen soll.
Wenn aber der Körper verwundet wird, um Schmuck in die Verletzung zu
hängen, werde er Diener des Schmuckes.

Als noch immer von den Steinen gesprochen wurde, was ihre Bestimmung
sei und wie sie sich auf dem Körper ganz anders ansehen lassen als in
ihrem Fache, sagte Eustach etwas, das mir als sehr wahr erschien:

»Was die innere Bestimmung der Edelsteine ist«, sprach er, »kann nach
meiner Meinung niemand wissen: für den Menschen sind sie als Schmuck
an seinem Körper am schönsten, und zwar zuerst an den Teilen, die er
entblößt trägt, dann aber an seinem Gewande und an allem, was sonst
mit ihm in Berührung kommt, wie Königskronen, Waffen. An bloßen
Geräten, wie wichtig sie sind, erscheinen die Steine als tot, und an
Tieren sind sie entwürdigt.«

Man sprach noch länger über diesen Gegenstand und erläuterte ihn durch
Beispiele.

»Da heute unser Wettkampf unentschieden geblieben ist«, sagte Risach
zu meinem Vater, »so wollen wir nun sehen, wer mit geringerem Aufwande
seinen Sitz zu einem größeren Kunstwerke machen kann, du deinen
Drenhof, oder wenn du ihn lieber Gusterhof nennen willst, oder ich
meinen Asperhof.«

»Du bist schon im Vorsprunge«, entgegnete mein Vater, »und hast gute
Zeichner bei dir: ich fange erst an, und mein Zeichner liefert mir
wahrscheinlich keine Zeichnung mehr.«

»Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, so worden wir in den
Drenhof hinüber geliehen«, sagte Eustach.

»Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben«, erwiderte Risach, »ich will
dem Feinde Waffen liefern.«


Der Nachmittag war ziemlich vorgerückt und es fehlte nicht mehr viel
zum Abende. Das Mahl war schon längst aus und man saß nur mehr, wie es
öfter geschieht, im Gespräche um den Tisch.

Mir war schon länger her das Benehmen des Gärtners Simon aufgefallen;
denn er, so wie die vorzüglicheren Diener des Hauses und Meierhofes,
war zu Tische geladen worden. Die Andern hatten in dem Meierhofe ein
Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur Erinnerung an den heutigen Tag eine
silberne Dose mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Diese Dose hatte
er bei sich auf dem Tische und sprach ihr unruhig zu. Manches Mal
flüsterte er mit seinem Weibe, das an seiner Seite saß, und öfter ging
er fort und kam wieder. Eben trat er nach einer solchen Entfernung
wieder in den Saal. Er setzte sich nicht und schien mit sich zu
kämpfen. Endlich trat er zu mir und sprach: »Alles Gute belohnt sich,
und euch erwartet heute noch eine große Freude.«

Ich sah ihn befremdet an.

»Ihr habt den Cereus peruvianus vom Untergange gerettet«, fuhr er
fort, »wenigstens hätte er leicht untergehen können, und ihr seid
Ursache gewesen, daß er in dieses Haus gekommen ist, und heute noch
wird er blühen. Ich habe ihn durch Kälte zurück zu halten gesucht,
selbst auf die Gefahr hin, daß er die Knospe abwerfe, damit er nicht
eher blühe als heute. Es ist alles gut gegangen. Eine Knospe steht zum
Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann sie offen sein. Wenn die
Gesellschaft dem Gewächshause die Ehre antun wollte...«

»Ja, Simon, ja, wir gehen hin«, sagte mein Gastfreund.

Sofort erhob man sich von dem Tische und rüstete sich zu dem Gange
in die Gewächshäuser. Simon hatte alles Andere um die Stelle des
Peruvianus, der in ein eigenes Glashäuschen hinein ragte, entfernt
und Platz zum Betrachten der Pflanze gemacht. Die Blume war, da wir
hinkamen, bereits offen. Eine große, weiße, prachtvolle, fremdartige
Blume. Alles war einstimmig im Lobe derselben.

»So viele Menschen den Peruvianus haben«, sagte Simon, »denn gar
selten ist er eben nicht, so mächtig groß sie auch seinen Stamm
ziehen, so selten bringen sie ihn zur Blüte. Wenige Menschen in Europa
haben diese weiße Blume gesehen. Jetzt öffnet sie sich, morgen mit
Tagesanbruch ist sie hin. Sie ist kostbar mit ihrer Gegenwart. Mir ist
es geglückt, sie blühen zu machen - und gerade heute. - Es ist ein
Glück, das die wahrste Freude hervorbringen muß.«

Wir blieben ziemlich lange und erwarteten das völlige Entfalten.

»Es kommen auch nicht viele Blumen, wie bei gemeinen Gewächsen,
hervor«, sagte Simon wieder, »sondern stets nur eine, später etwa
wieder eine.«

Mein Gastfreund schien wirklich Freude an der Blume zu haben, ebenso
auch Mathilde. Natalie und ich dankten Simon besonders für seine
große Aufmerksamkeit und sagten, daß wir ihm diese Überraschung nie
vergessen werden. Dem alten Manne standen die Tränen in den Augen.
Er hatte Lampen um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender
Dämmerung angezündet worden sollten, wenn etwa jemand die Blume in
der Nacht betrachten wolle. Bei längerem Anschauen gefiel uns die
Blume immer mehr. Es dürften in unsern Gärten wenige sein, die
an Seltsamkeit, Vornehmheit und Schönheit ihr gleichen. Von den
Anwesenden hatte sie nie einer gesehen. Wir gingen endlich fort, und
der eine und der andere versprach, im Laufe des Abends noch einmal zu
kommen.

Da wir auf dem Rückwege waren und an dem Gebüsche, das sich in der
Nähe des Lindenganges befindet, vorbeigingen, ertönte dicht am Wege
in den Büschen ein Zitherklang. Risach, welcher meine Mutter führte,
blieb stehen, ebenso mein Vater und Mathilde und dann auch die Andern,
die sich eben in unserer Nähe befanden. Ich war mit Natalien mehr
gegen den Busch getreten; denn ich erkannte augenblicklich den Klang
meines Zitherspiellehrers. Er trug eine ihm eigentümliche Weise vor,
dann hielt er inne, dann spielte er wieder, dann hielt er wieder inne,
und so fort. Es waren lauter Weisen, die er selber ersonnen hatte oder
die ihm vielleicht eben in dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren.
Er spielte mit aller Kraft und Kunst, die ich an ihm so oft bewundert
hatte, ja er schien heute noch besser als je zu spielen. Es war, als
wenn er nichts auf Erden liebte als seine Zither. Alles, was sich in
der Nähe befand, lauschte unbeweglich, und nicht einmal ein Zeichen
eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde sah einmal auf Natalien hin,
und zwar so bedeutsam, als wollte sie sagen: das haben wir nicht
gehört, und das vermögen wir nicht hervorzubringen. Die Zither war ein
lebendiges Wesen, das in einer Sprache sprach, die allen fremd war und
die alle verstanden. Als die Töne endlich nicht mehr wieder beginnen
zu wollen schienen, trat ich mit Natalien ins Gebüsch, und da saß mein
Zitherspiellehrer an einem Tischchen und hatte seine Zither vor sich.
Sein Anzug war graues Tuch und sehr abgetragen, sein grüner Hut lag
neben der Zither auf dem Tische.

»Joseph, bist du wieder in der Gegend?« fragte ich ihn.

»So recht nicht«, antwortete er, »ich bin gekommen, euch auf der
Hochzeit einmal gut aufzuspielen.«

»Das hast du getan und das kann keiner so«, sagte ich, »du sollst
dafür eine Freude haben, und ich weiß dir eine zu verschaffen, welche
dir die größte ist. Bessere Hände können das, was ich dir geben will,
nicht fassen als die deinen. Das Rechte muß zusammenkommen. Ich bin
dir ohnehin auch noch einen Dank schuldig für dein eifriges Lehren und
für deine Begleitung im Gebirge.«

»Dafür habt ihr mich bezahlt, und das Heutige tat ich freiwillig«,
sagte er.

»Warte nur einige Tage hier, dann wirst du empfangen, was ich meine«,
sprach ich.

»Ich warte gerne«, erwiderte er.

»Du sollst gut gehalten sein«, sagte ich.

Indessen waren alle Andern auch herbeigekommen und überschütteten
den Mann mit Lob. Risach lud ihn ein, eine Weile in seinem Hause zu
bleiben. Er spielte noch einige Weisen, er vergaß beinahe, daß ihm
jemand zuhöre, spielte sich hinein und hörte endlich auf, ohne auf die
Umstehenden Rücksicht zu nehmen, genau so, wie er es immer tat. Wir
entfernten uns dann.

Ich rief sogleich den Hausverwalter herbei, sagte ihm, er möge
mir einen Boten besorgen, welcher auf der Stelle in das Echerthal
abzugehen bereit sei. Der Hausverwalter versprach es. Ich schrieb
einige Zeilen an den Zithermacher, legte das nötige Geld bei,
versprach noch mehr zu senden, wenn es nötig sein sollte, und
verlangte, daß er die dritte Zither, welche die gleiche von der
meinigen und der meiner Schwester sei, in eine Kiste wohlverpackt dem
Boten mitgebe, der den Brief bringt. Der Bote erschien, ich gab ihm
das Schreiben und die nötigen Weisungen, und er versprach, die heutige
Nacht zu Hilfe zu nehmen und in kürzester Frist zurück zu sein. Ich
hielt mich nun für sicher, daß nicht etwa im letzten Augenblicke die
Zither wegkomme, wenn sie überhaupt noch da sei.

Indessen war es tief Abend geworden. Ich ging mit Natalien und
Klotilden noch einmal zu dem Cereus peruvianus, der im Lampenlicht
fast noch schöner war. Simon schien bei ihm wachen zu wollen. Immer
gingen Leute ab und zu. Joseph hörten wir auch noch einmal spielen. Er
spielte in der großen unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten
Wein vor sich, den ihm Risach gesendet hatte. Das ganze Hausvolk war
um ihn versammelt. Wir hörten lange zu, und Klotilde begriff jetzt,
warum ich im Gebirge so gestrebt habe, daß sie diesen Mann höre.

Ein Teil der Gäste hatte noch heute das Haus verlassen, ein anderer
wollte es bei Anbruch des nächsten Tages tun und einige wollten noch
bleiben.

Im Laufe des folgenden Vormittages, da sich die Zahl der Anwesenden
schon sehr gelichtet hatte, kamen noch einige Geschenke zum
Vorscheine. Risach führte uns in das Vorratshaus, welches neben dem
Schreinerhause war. Dort hatte man einen Platz geschafft, auf welchem
mehrere mit Tüchern verhüllte Gegenstände standen. Risach ließ den
ersten enthüllen, es war ein kunstreich geschnittener Tisch und hatte
den Marmor als Platte, welchen ich einst meinem Gastfreunde gebracht
hatte, und über dessen Schicksal ich später in Ungewißheit war.

»Die Platte ist schöner als tausende«, sagte Risach, »darum gebe
ich das Geschenk meines einstigen Freundes in dieser Gestalt meinem
jetzigen Sohne. Keinen Dank, bis alles vorüber ist.«

Nun wurde ein großer, hoher Schrein enthüllt.

»Ein Scherz von Eustach an dich, mein Sohn«, sagte Risach.

Der Schrein war von allen Hölzern, welche unser Land aufzuweisen hat,
in eingelegter Arbeit verfertigt. Eustach hatte die Zusammenstellung
entworfen. Die Sache sah außerordentlich reizend aus. Ich hatte bei
meinem Winterbesuche im Asperhofe an diesem Schreine arbeiten gesehen.
Ich hatte damals die Ansammlung von Hölzern seltsam gefunden, auch
hatte ich den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in mein
Arbeitszimmer für meine Mappen bestimmt.

Zuletzt wurden mehrere Gegenstände enthüllt. Es waren die Ergänzungen
zu meines Vaters Vertäflungen. Das war gleich auf den ersten Blick
zu erkennen und erregte Freude; aber ob sie die rechten oder
nachgebildete seien, war nicht zu entscheiden. Risach klärte alles
auf. Es waren nachgebildete. Zu diesem Behufe hatte man von mir
die Abbildungen der Vertäflungen des Vaters verlangt. Roland hatte
vergeblich nach den echten geforscht. Er hatte Messungen nach den
vorhandenen Resten vorgenommen und nach Orten gesucht, auf welche
die Messungen paßten. In einem abgelegenen Teile der Holzbauten
des steinernen Hauses hatte er endlich Bohlen gefunden, welche den
Messungen genau entsprachen. Die Bohlen waren teils vermorscht, teils
zerrissen und trugen die Verletzungen, wie man die Schnitzereien von
ihnen herab gerissen hatte. Es war nun fast gewiß, daß die Ergänzungen
verloren gegangen seien. Man machte daher die Nachbildungen. In
demselben Winterbesuche hatte ich auch das Bohlenwerk zu diesen
Schnitzereien gesehen. Mein Vater erklärte die Arbeit für
außerordentlich schön.

»Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund«, sagte Risach, »aber
wir haben sie für dich zu Stande gebracht, und sie wird genau in dein
Glashäuschen passen oder leicht einzupassen sein; außer du zögest vor,
die Schnitzereien in den Drenhof bringen zu lassen.«

»So wird es auch geschehen, mein Freund«, sagte mein Vater.

Nun ging es erst an ein Danksagen und an ein Ausdrücken der Freude.
Die Geber lehnten jeden Dank von sich ab. Man beschloß, die
Gegenstände in kurzer Zeit auf ihren Bestimmungsort zu bringen.

An diesem Tage und in den folgenden verließen uns nach und nach
alle Fremden, und erst jetzt begann ein liebes Leben unter lauter
Angehörigen. Risach hatte für mich und Natalien eine sehr schöne
Wohnung herrichten lassen. Sie konnte nicht groß sein, war aber sehr
zierlich. In den zwei Jahren meiner Abwesenheit waren ihre Wände
bekleidet und waren neue, ausgezeichnete Geräte für sie angeschafft
worden. Wir beschlossen aber, unsere regelmäßige Wohnung so lange in
dem Sternenhofe aufzuschlagen, bis ihn Gustav würde übernehmen können,
damit Mathilde in der Zwischenzeit nicht zu vereinsamt wäre. Dabei
würde ich oft in den Asperhof kommen, um mit Risach zu beratschlagen
oder zu arbeiten, oft würden auch die Andern kommen, und oft würden
wir uns da oder im Gusterhofe oder im Sternenhofe oder in der
Stadt besuchen und zeitweilig dort wohnen. Mit Natalien hatte ich
eine größere Reise vor. Für den Fall, daß ich in was immer für
Angelegenheiten abwesend sein sollte, nahm jedes Haus das Recht in
Anspruch, Natalien beherbergen zu dürfen.

Der Zitherspieler spielte täglich und oft ziemlich lange vor uns. Am
fünften Tage kam die Zither. Ich überreichte sie ihm, und er, da er
sie erkannte, wurde fast blaß vor Freude. Dieses Geschenk durfte das
beste für ihn genannt werden; von diesem Geschenke wird er sich nicht
trennen, während es von jedem andern zweifelhaft wäre, ob er es nicht
verschleudere. Als er die Zither gestimmt und auf ihr gespielt hatte,
sahen wir erst, wie trefflich sie sei. Er wollte fast gar nicht
aufhören zu spielen. Risach ließ ihm noch über ihr Fach ein
wasserdichtes Lederbehältnis machen. Nach mehreren Tagen nahm er
Abschied und verließ uns.

Wir machten alle eine kleine Reise in das Ahornwirtshaus, und ich
stellte Kaspar und alle Andern, die mit mir in Verbindung gewesen
waren, Risach, Mathilden, meinen Eltern und Natalien vor. Wir blieben
sechs Tage in dem Ahornhause. Von da gingen wir in den Sternenhof. Die
Tünche war nun überall von ihm weggenommen worden, und er stand in
seiner reinen, ursprünglichen Gestalt da. Auch hier wurden wir in die
Wohnung eingeführt, die während meiner Abwesenheit für uns hergestellt
worden war. Sie konnte in dem weitläufigen Gebäude viel größer sein
als die im Asperhofe. Sie war zu einer vollständigen Haushaltung
hergerichtet.

Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt. Dort machten wir alle
Besuche, welche in den Kreisen meiner Eltern und in denen Mathildens
notwendig waren. Risach stellte manchem Freunde seine angenommene und
neuvermählte Tochter nebst ihrem Gatten und ihrer Mutter vor. Ich
erfuhr, daß meine Vermählung mit Natalie Tarona Aufsehen errege; ich
erfuhr, daß insbesondere einige meiner Freunde - sie hatten sich
wenigstens immer so genannt - geäußert haben, das sei unbegreiflich.
Nataliens Neigung zu mir war mir stets ein Geschenk und daher
unbegreiflich; da aber nun diese es aussprachen, begriff ich, daß
es nicht unbegreiflich sei. Ich besuchte meinen Juwelenfreund, der
wirklich ein Freund geblieben war. Er hatte die innigste Freude
über mein Glück. Ich führte ihn in unsere Familien ein. Bekannt
war er mit allen Teilen schon lange gewesen. Ich dankte ihm sehr
für die prachtvolle Fassung der Diamanten und Rubinen und des
Smaragdschmuckes. Er fühlte sich über Risachs und meines Vaters Urteil
sehr beglückt.

»Wenn wir solche Kunden in großer Zahl hätten, wie diese zwei Männer
sind, teurer Freund«, sagte er, »dann würde unsere Beschäftigung bald
an die Grenzen der Kunst gelangen, ja sich mit ihr vereinigen. Wir
würden freudig arbeiten, und die Käufer würden erkennen, daß die
geistige Arbeit auch einen Preis habe wie die Steine und das Gold.«

Ich nahm bei ihm eine sehr wertvolle und mit Kunst verzierte Uhr als
Gegenscherz für Eustachs Mappenschrein. Klotilde hatte sie ausgewählt.
Für Roland ließ ich einen Rubin in einen Ring fassen, daß er ihn zur
Erinnerung an mich trage und meine Dankbarkeit für seine Bemühungen
zur Auffindung der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne.

»Er ist ohnehin ein Nebenbuhler von mir«, sagte ich, »er hat Natalien
oft lange und bedeutend angesehen.«

»Das hat einen sehr unschuldigen Grund«, entgegnete mein Gastfreund,
»Roland erwarb sich ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie
sie Natalie besitzt. Er hat uns das öfter gesagt. Das Mädchen ist die
Tochter eines Forstmeisters im Gebirge und ihm äußerst zugetan. Da
nun der Arme ihren Anblick oft lange entbehren muß, so sah er zur
Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit diesem jungen
Manne, ich wünsche sein Wohl. Er kann ein bedeutender Künstler werden
oder auch ein unglücklicher Mensch, wenn sich nehmlich sein Feuer, das
der Kunst entgegen wallt, von seinem Gegenstande abwendet und sich
gegen das Innere des jungen Mannes richtet. Ich hoffe aber, daß ich
alles werde ins Gleiche bringen können.«

Da alle notwendigen Dinge in der Stadt abgetan waren, wurde die
Rückreise angetreten, und zwar in den Asperhof. Die Zeit der
Rosenblüte war herangerückt, und heuer sollte sie von den vereinigten
Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und aber auch als eins
der Zukunft zum ersten Male in dieser Vereinigung und mit besonderer
Festlichkeit begangen werden. Mein Vater sollte sehen, welche Gewalt
die Menge und die Mannigfaltigkeit auszuüben im Stande ist, wenn diese
Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter Rosen sind. Nach Verlauf
der Rosenblüte sollte alles und jedes, das durch diese Vermählung
unterbrochen worden war, in das alte Geleise zurückkehren.


Da wir in dem Asperhofe angekommen waren, gelangte ich erst zu einiger
Ruhe. Da sah ich auch gelegentlich die Papiere an, die uns Risach und
der Vater gegeben hatten, und erstaunte sehr. Beide enthielten für uns
viel mehr, als wir nur entfernt vermutet hatten. Risach wollte bis zu
seinem Tode das Haus in der Art wie bisher fort bewirtschaften, damit,
wie er sagte, er seinen Nachsommer bis zum Ende ausgenießen könne.
Unser Rat und unsere Hilfe in der Bewirtschaftung wird ihm Freude
machen. Einen namhaften Teil seiner Barschaft hatte er uns übergeben.
Und weil öfter zwei Familien in dem Asperhofe sein können, so lagen
den Papieren Pläne bei, daß auf einem schönen Platze zwischen dem
Rosenhause und dem Meierhofe, hart am Getreide, ein neues Haus
aufgeführt und sogleich zum Baue geschritten werden möge. Aber auch
das von dem Vater uns Übergebene war der gesammten Habe Risachs
ebenbürtig und übertraf weit meine Erwartungen. Als wir unsern Dank
abstatteten und ich mein Befremden ausdrückte, sagte der Vater: »Du
kannst darüber ganz ruhig sein; ich tue mir und Klotilden keinen
Abbruch. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine
Leidenschaften gehabt. Das geben verachtete bürgerliche Gewerbe
eben, bürgerlich und schlicht betrieben. Was unscheinbar ist,
hat auch seinen Stolz und seine Größe. Jetzt aber will ich der
Schreibstubenleidenschaft, die sich nach und nach eingefunden,
Lebewohl sagen und nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich
auch einen Nachsommer habe wie dein Risach.«

Als wir einige Zeit in dem Rosenhause verweilt hatten, traten eines
Tages Natalie und ich zu unserem neuen Vater und baten ihn, er möge
ein Versprechen von uns annehmen, dessen Annahme uns sehr freuen
wurde.

»Und was ist das?« fragte er.

»Daß wir, wenn du uns dereinst in dieser Welt früher verlassen
solltest als wir dich, keine Veränderung in allem, wie es sich in dem
Hause und in der Besitzung vorfindet, machen wollen, damit dein teures
Andenken bestehe und forterbe«, sagten wir.

»Da tut ihr zu viel«, antwortete er, »ihr verspreche etwas, dessen
Größe ihr nicht kennt. Diese Bande darf ich nicht um euren Willen und
eure Verhältnisse legen, sie könnten von den übelsten Folgen sein.
Wollt ihr mein Gedächtnis in mannigfachem Bestehenlassen ehren, tut es
und pflanzt auch euren Nachkommen diesen Sinn ein, sonst ändert, wir
ihr wünscht und wie es not tut. Wir wollen, so lange ich lebe, selber
noch mit einander ändern, verschönern, bauen; ich will noch eine
Freude haben, und mit euch zu ändern und zu wirken ist mir lieber, als
wenn ich es allein tue.«

»Aber der Erlenbach muß als Denkmal der schönen Geräte bestehen
bleiben.«

»Setzt eine Urkunde auf, daß ihm nichts angetan werde von Geschlecht
zu Geschlecht, bis seine Reste vermodern oder ein Wolkenguß ihn von
seiner Stelle feget.«

Er küßte Natalien, wie er gerne tat, auf die Stirne, mir reichte er
die Hand.

Als die Rosenzeit wirklich recht innig und zum Staunen meiner
Angehörigen, welche so etwas nie gesehen hatten, vorüber gegangen war,
nahmen wir Abschied, die Vereinigung, welche nun so lange bestanden
hatte, löste sich und die Tage kehrten in ihren gewöhnlichen Abfluß
zurück. Meine Eltern gingen mit Klotilden in den Gusterhof, wo sie bis
zum Winter bleiben wollten, und ich siedelte mit Natalien in unsere
ständige Wohnung in den Sternenhof über. Wir sollten nun die
eigentliche Familie desselben sein, Mathilde werde bei uns wohnen und
mit an unserem Tische speisen. Die Bewirtschaftung des Gutes sollte
ebenfalls ich leiten. Ich übernahm die Pflicht und bat um Mathildens
Beihilfe, so ausgedehnt sie dieselbe leisten wolle. Sie sagte es zu.

So rückte nun die Zeit in ihr altes Recht, und ein einfaches,
gleichmäßiges Leben ging Woche nach Woche dahin.

Nur im Herbste fand eine Abwechslung statt. Die Vettern aus dem
Geburtshause des Vaters besuchten meine Eltern in dem Gusterhofe. Wir
fuhren zu ihnen hinüber. Der Vater ließ sie reichlich beschenkt in
einem Wagen in ihre Heimat zurückführen.

Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fertig. Es war seiner Größe
willen zu rollen, hatte einen großen Goldrahmen, der zu zerlegen war,
und wurde in dem Marmorsaale auf einer Staffelei aufgestellt. Wir
reisten alle in den Asperhof. Das Bild wurde vielfach betrachtet und
besprochen. Roland war in einer gehobenen, schwebenden Stimmung;
denn was auch die Meinung seiner Umgebung war, wie sehr sie auch das
Hervorgebrachte lobte und wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu
verbessern wäre: so mochte ihm sein Inneres versprechen, daß er einmal
vielleicht noch weit Höheres, ja ein ganz Großes zu Stande zu bringen
vermögen werde. Risach sagte ihm die Mittel zu, reisen zu können und
ordnete die Zubereitung zu einer baldigen Abreise nach Rom an. Gustav
mußte noch den Winter im Asperhofe zubringen. Im Frühlinge sollte er
endlich in die Welt gehen.

So waren nun mannigfaltige Beziehungen geordnet und geknöpft.

Mathilde hatte einmal, da ich sie im Sternenhofe besuchte, zu mir
gesagt, das Leben der Frauen sei ein beschränktes und abhängiges,
sie und Natalie hätten den Halt von Verwandten verloren, sie müßten
Manches aus sich schöpfen wie ein Mann und in dem Widerscheine ihrer
Freunde leben. Das sei ihre Lage, sie daure ihrer Natur nach fort und
gehe ihrer Entwicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt und
hatte sie tief ins Herz genommen.

Ein Teil dieser Entwicklung, glaubte ich nun, war gekommen, der zweite
wird mit Gustavs Ansiedlung eintreten. An mir hatten die Frauen wieder
einen Halt gewonnen, daß sich ein fester Kern ihres Daseins wieder
darstelle; ein neues Band war durch mich von ihnen zu den Meinigen
geschlungen, und selbst das Verhältnis zu Risach hatte an Rundung und
Festigkeit gewonnen. Den Abschluß der Familienzusammengehörigkeit wird
dann Gustav bringen.

Was mich selber anbelangt, so hatte ich nach der gemeinschaftlichen
Reise in die höheren Lande die Frage an mich gestellt, ob ein Umgang
mit lieben Freunden, ob die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das
Leben umschreibe und vollende oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das
es umschließe und es mit weit größerem Glück erfülle. Dieses größere
Glück, ein Glück, das unerschöpflich scheint, ist mir nun von einer
ganz anderen Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich es nun in der
Wissenschaft, der ich nie abtrünnig werden wollte, weit werde bringen
können, ob mir Gott die Gnade geben wird, unter den Großen derselben
zu sein, das weiß ich nicht; aber eines ist gewiß, das reine
Familienleben, wie es Risach verlangt, ist gegründet, es wird, wie
unsre Neigung und unsre Herzen verbürgen, in ungeminderter Fülle
dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde sonst noch nutzen, und
jedes, selbst das wissenschaftliche Bestreben, hat nun Einfachheit,
Halt und Bedeutung.





End of the Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***

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